Kurzgeschichte
Der goldene Löffel - Gedanken zu Demenz

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"Der goldene Löffel - Gedanken zu Demenz"
Veröffentlicht am 07. November 2025, 62 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht: Der Winter ist ein Bösewicht, die Bäume tragen Schneegewicht, die Stämme sind kahl und so schwarz wie ein Pfahl, die Felder sind weiß und auf dem See liegt Eis. In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.
Der goldene Löffel - Gedanken zu Demenz

Der goldene Löffel - Gedanken zu Demenz

Der Spiegel im Regen

Der Regen fiel, als würde der Himmel vergessen haben, wie man innehält. Sie stand vor dem Schaufenster eines alten Ladens, in dem Spiegel lagen, matt und silbern wie gefangene Erinnerungen. Ihr Blick blieb an einem hängen – ein Sprung zog sich über das Glas wie ein Herzschlag. „So seh ich also aus“, murmelte sie. Nicht das Gesicht störte sie, sondern das Leere dahinter. Sie erinnerte sich an all die Male, da sie auf Wärme gewartet hatte, auf ein Wort, das blieb, auf ein Lächeln, das nicht flüchtete.

Dann, fast unmerklich, hob sie die Hand und strich über das nasse Glas. „Vielleicht“, flüsterte sie, „bin ich die, auf die ich warte.“ Ein Lächeln, zaghaft wie der erste Morgen nach einer langen Nacht, spiegelte sich zurück. Der Regen tropfte weiter, aber die Welt schien plötzlich leiser, heller, atmender. Als sie ging, blieb der Sprung im Spiegel zurück – doch das Licht darin hatte sich verändert. Und irgendwo, im fließenden Grau des Tages, begann etwas in ihr, still und unaufhaltsam, zu leuchten.


Der Spiegel erinnert sich Sie sitzt am Fenster, wo das Licht wie Staub auf ihren Händen liegt. Draußen tropft der Nachmittag, geduldig, gleichmäßig. Auf dem Tisch steht ein kleiner Spiegel, alt, mit feinen Rissen, die wie Flüsse über sein Glas laufen. Sie sieht hinein – eine Frau blickt zurück. Die Züge vertraut, und doch… verschoben. Als hätte jemand in ihrem Gesicht eine Tür geöffnet, durch die Namen, Orte, Gesichter entweichen. „Wer bist du?“, fragt sie leise.

Der Spiegel antwortet nicht, aber irgendwo tief in ihr bewegt sich etwas – ein flüchtiges Echo. Ein Kinderlachen vielleicht. Der Geruch von Apfelkuchen. Eine Hand, die ihre hält. Dann ist es wieder still. Sie lächelt, unsicher, und streicht über das kalte Glas. „Vielleicht“, flüstert sie, „bist du die, der ich begegnen wollte.“ Der Spiegel beschlägt. Draußen fließt der Regen weiter, verwischt Konturen, löscht Spuren. Doch für einen Herzschlag lang scheint ihr Blick klar – und sie erkennt sich, nicht im Namen, sondern im Licht.

Der goldene Löffel Sie lacht, als der Kaffee über den Tisch läuft. Ein dunkler See, in dem sich das Fenster spiegelt. Früher hätte sie nach einem Tuch gegriffen. Heute taucht sie den Finger hinein und zeichnet Kreise, als würde sie etwas rufen wollen, das sie nicht mehr benennen kann. Ihr Mann steht in der Tür. „Lina?“ sagt er, leise, wie jemand, der ein Gespenst beschwört. Sie hebt den Blick, lächelt, so breit, so fremd. „Du bist spät“, sagt sie. Es ist Vormittag.

Auf der Kommode liegt der goldene

Löffel, der ihrer Mutter gehörte. Sie nimmt ihn, betrachtet ihr Spiegelbild darin – verzerrt, verwaschen, fast kindlich. Etwas in ihr flackert, ein winziger Rest der Frau, die immer alles wusste, alles ordnete. Dann beginnt sie zu summen, eine Melodie ohne Namen, und steckt den Löffel in die Tasche ihres Kleides. „Er gehört jetzt mir“, sagt sie, sanft, bestimmt, als sei das die Wahrheit, die bleibt. Ihr Mann nickt. Tränen im Hals, Liebe im Blick.

Und für einen Atemzug, als das Licht über sie fällt, scheint sie wieder sie selbst zu sein – bis das Schweigen sie zurückholt, in die Welt hinter der Stirn.

Nebelschwaden

Der Morgen war klar, zu klar vielleicht. Licht kroch über die Küchenfliesen, tastete nach den Rändern des Tisches, glitt über die Tasse, die sie nicht erinnerte, hingestellt zu haben. Es war ihr Kaffee, schwarz, ohne Zucker, so wie immer – und doch schmeckte er plötzlich wie etwas Fremdes. Lina saß da und beobachtete, wie der Dampf sich in Spiralen auflöste. „Er verdunstet“, dachte sie, und das Wort gefiel ihr. Verdunsten. So still. So vollständig. Vielleicht war das der richtige Name für das, was in ihr geschah. Draußen sang

eine Amsel, beharrlich, fast trotzig gegen den Herbst. Sie wollte den Ton erwidern, summte ein wenig, verlor aber die Melodie. Der Löffel klirrte gegen die Tasse, zu laut, zu nah. „Lina?“ Die Stimme kam aus dem Flur. Warm, vertraut, mit jener Mischung aus Geduld und Sorge, die sie in letzter Zeit so oft hörte. „Ja?“ antwortete sie, aber das Wort blieb irgendwo zwischen Kehle und Stille hängen. Er trat ein, ihr Mann – Anton, ja, so hieß er. Der Name glitt ihr manchmal davon, wie eine Münze, die in einem zu tiefen Brunnen fällt. Sie wusste, dass sie ihn liebte. Das war sicher. Nur die Erinnerung daran, *warum*, wurde dünner. „Du hast den

Herd angelassen.“ Sie sah hinüber. Eine blaue Flamme züngelte unter einem leeren Topf. Der Griff war geschmolzen, das Metall schwarz an der Kante. „Ich wollte Suppe machen“, sagte sie, fast trotzig. „Für uns.“ Er lächelte, so wie man auf Regen lächelt, wenn man keinen Schirm dabei hat. „Das ist lieb von dir.“ Sie nickte, obwohl sie nicht wusste, ob es das war. Ihr Herz schlug zu schnell. Sie wollte sagen, dass sie sich anstrengt, dass sie weiß, dass manchmal Dinge... verschwinden. Doch das Wort *Dinge* war zu klein. Sie meinte nicht Löffel oder Termine. Sie meinte ganze Stücke ihres Selbst. Später, als Anton den Topf schrubbte, stand sie im Flur. Der Spiegel

über der Kommode zeigte ihr Gesicht – glatt, geordnet, aber die Augen wirkten fremd, als gehörten sie jemand anderem. „Ich kenne dich“, flüsterte sie. Und der Spiegel schwieg. --- In der Nacht wachte sie auf. Ein Geräusch – vielleicht Regen, vielleicht etwas anderes. Sie tastete nach Antons Seite des Betts. Leer. Der Mond lag wie eine kalte Münze auf dem Laken. Sie stand auf, barfuß, und ging durch die Wohnung. Alles war still. Nur das Ticken der Uhr, das sie nicht ertrug. In der Küche fand sie ihn, über die Zeitung gebeugt, das Gesicht müde. „Ich konnte nicht schlafen“, sagte sie. „Ich auch nicht.“ Er faltete die Hände, als wolle er sie festhalten, bevor sie ihm entgleiten.

„Manchmal“, begann sie, „fühlt es sich an, als würde ich neben mir stehen. Nicht weit. Nur… daneben.“ Er nickte, langsam, wie jemand, der versucht, Worte aufzufangen, bevor sie fallen. „Ich weiß“, sagte er. „Aber du bist hier, Lina.“ Sie wollte ihm glauben. Doch in der Dunkelheit dachte sie an den Herd, an den Kaffee, an die Melodie der Amsel – und wie all das sich anfühlte wie Fäden, die sie nicht mehr zu einem Ganzen knüpfen konnte. „Ich bin hier“, flüsterte sie, mehr zu sich als zu ihm. Und irgendwo tief in ihr antwortete eine Stimme, sanft und fern: Noch ja.


Der Herbst zog ein, ohne dass Lina es

merkte. Irgendwann waren die Äpfel auf dem Baum verschwunden, und die Luft roch nach kaltem Eisen. Sie wusste, dass sie früher gern spazieren gegangen war, aber der Weg zum Garten schien plötzlich länger, unübersichtlicher. An einem Nachmittag stand sie zwischen den Büschen und wusste nicht mehr, ob sie gerade gekommen oder gerade gegangen war. Das Licht hatte sich verändert – es flimmerte wie Wasser, und für einen Moment glaubte sie, das Summen in der Luft sei Musik. Vielleicht war es der Wind. Vielleicht auch sie selbst.


Anton fand sie dort, still, mit Erde an den Händen. „Was machst du?“ Sie lächelte. „Ich wollte die Rosen pflanzen.“ „Im November?“ Sie blickte auf ihre Finger. Kein Spaten, keine Rosen. Nur ein Stück Wurzel, trocken und brüchig. „Ich dachte... es wäre Frühling.“ Er nahm ihre Hand. Warm, fest, zu fest. Sie entzog sie ihm. „Ich bin nicht krank“, sagte sie, schärfer, als sie wollte. Er nickte, sagte nichts. Aber seine Augen sagten alles, was Worte nicht konnten: Angst, Müdigkeit, Liebe.


An den Tagen danach kamen die Lücken häufiger. Worte verschwanden zuerst – kleine, alltägliche Dinge. Topf, Kissen, Uhr. Dann Namen. Einmal nannte sie Anton „Vater“. Ein anderes Mal „Herr Weber“. Er lachte, sanft, ohne Spott. „Ich bin’s, Lina.“ Sie lächelte zurück, doch in ihrem Inneren regte sich ein Zittern, das kein Kälte war. Abends saßen sie oft schweigend nebeneinander. Er las ihr vor – Gedichte, die sie einmal geliebt hatte. Eichendorff, Rilke, manchmal Ingeborg Bachmann.

Sie hörte die Worte, verstand sie einzeln, doch der Sinn entglitt ihr wie Wasser zwischen den Fingern. „Ich möchte jemand sein unter Blumen und Liedern…“ Sie wiederholte leise die Zeilen, wie ein Gebet, das man vergessen, aber nie verlernt hat. Eines Morgens fand Anton sie in der Küche. Sie hatte die Tassen sortiert – penibel, nach Farbe, Form, Größe. Alle mit der Öffnung nach unten. „Damit sie nicht rausfallen“, erklärte sie. Er nickte.

Er sagte nichts, als sie den Zucker in den

Suppentopf schüttete. Nichts, als sie mit einem Kindergesicht aus Löffeln ein Muster auf dem Tisch legte. Er nahm nur ihre Hand, führte sie auf die Veranda, setzte sie in den Sessel mit der karierten Decke. „Da“, sagte er. „Hier ist dein Platz.“ Sie nickte, aber das Wort dein brannte. Es klang so… fremd. Als gehöre sie längst jemand anderem. Manchmal hörte sie Stimmen. Nicht laut, eher wie Gedanken, die nicht mehr wussten, wem sie gehörten. Eine Frau

sprach mit ihr – freundlich, ruhig. „Atmen, Lina. Nur atmen.“ Sie antwortete, aber es kam kein Laut. An anderen Tagen war alles still. Zu still. Dann begann sie zu reden, mit dem Spiegel, mit den Schatten, mit der Uhr. „Ich bin noch hier“, sagte sie dann, und die Stille antwortete: Noch ja. Abends, wenn Anton das Licht löschte, sah sie manchmal eine andere Frau in seinem Gesicht – nicht die Liebe, sondern das, was bleibt, wenn man nicht mehr weiß, wofür man kämpft. Einmal fragte sie: „Bist du traurig?“

Er antwortete: „Ja.“ „Wegen mir?“ „Nein“, sagte er. „Wegen uns.“

Sie verstand es nicht, aber sie fühlte, dass es wahr war. In der Nacht träumte sie, sie liefe durch ein Haus, das sie kannte und doch nicht mehr fand. Türen öffneten sich ins Leere, Zimmer liefen ineinander über. Auf dem Tisch stand der goldene Löffel. Sie nahm ihn, hielt ihn gegen das Licht. Ihr Spiegelbild war verschwommen, aber sie erkannte das Lächeln – nicht jung, nicht alt, sondern zeitlos.


Als sie erwachte, war es Morgen, und Anton schlief noch. Sie strich ihm übers Haar, ganz vorsichtig, als könnte er zerspringen. Dann ging sie in die Küche, nahm den goldenen Löffel aus der Schublade und legte ihn in ihre Tasche. „Er gehört jetzt mir“, flüsterte sie, und es war kein Trotz in ihrer Stimme – nur ein stilles Wissen. Ein Stück Vergangenheit, das sie mitnehmen wollte, falls der Nebel dichter wurde.

Lina hat aufgehört, sich zu erkennen, lange bevor ihr Körper aufhörte, da zu

sein. Aber vielleicht ist das Erkennen gar nicht das Wesentliche. Vielleicht war sie am Ende nicht weniger *sie selbst*, sondern freier davon. Wie ein Blatt, das sich endlich vom Ast löst, nicht weil der Wind es entreißt, sondern weil es Zeit ist, zu fallen. Anton blieb zurück – mit der Hand voller Erinnerung, mit der Stimme, die noch „Lina“ sagen konnte, obwohl sie längst nicht mehr antwortete. Und vielleicht, in dieser unausgesprochenen Stille, begann etwas Neues: eine Liebe, die keinen Namen mehr braucht, weil sie jenseits des Verstehens lebt.

So bleibt am Ende nicht der Verlust, sondern die Spur eines Atems, eines Lichts im Nebel – so still, dass man es nur im Herzen hören kann.


Der Winter kam früh. Lina mochte den Schnee einmal – das Knirschen, das Licht, das saubere Weiß, das alles zudeckte, was man nicht mehr sehen wollte. Jetzt machte er sie unruhig. Alles war zu hell, zu lautlos. Anton schob sie im Rollstuhl durch den Garten. Sie wusste, dass es ihr Garten war, aber er kam ihr vor wie eine Fotografie, die jemand zu lange im Licht liegen gelassen hatte. Die Farben

verblichen, die Konturen verwischt. „Schau“, sagte Anton, „die Amsel ist wieder da.“ Sie hob den Blick, suchte den Vogel, sah nur Bewegung. Ein Schatten im Schnee. „Ich friere“, sagte sie. Er zog die Decke höher, rückte ihren Schal zurecht. „Gleich gehen wir rein.“ Sie nickte, aber das Wort rein verlor seinen Sinn. Wo war drinnen? Wo war draußen? Alles war ein Raum. Ein einziger, atmender Raum aus Zeit.


Drinnen roch es nach Suppe. Nach ihrer Suppe, glaubte sie. Kartoffel und Majoran. Anton stellte die Schale vor sie hin. „Iss ein bisschen.“ Sie tat es. Löffel für Löffel. Langsam, als müsste sie sich an die Bewegung erinnern. Dann blieb sie stehen. Schaute auf die Hand, die den Löffel hielt. „Er ist schwer“, sagte sie. „Ja“, antwortete Anton, „er ist aus Silber.“ „Nein“, sagte sie, „er ist schwer, weil er weiß, wer ich war.“


Er lächelte. Ein Schmerz, der nicht weh tun wollte. Am Nachmittag saß sie am Fenster. Das Licht war matt, fast grau. Sie sah ihr Spiegelbild im Glas – verschwommen, weich. „Du bist noch da“, flüsterte sie. Doch die Lippen bewegten sich nicht. Ein leises Pochen – Anton kam, stellte eine Vase mit einer Rose auf die Fensterbank. „Die letzte aus dem Garten“, sagte er. Sie nickte, aber das Wort Rose blieb in der Kehle stecken.


Etwas in ihr wollte sprechen, erklären, danken. Doch die Worte kamen nicht mehr. Sie spürte, wie ihr Kopf sich füllte mit Stille, dicker und dichter, bis sie kaum noch atmen konnte. Anton kniete sich neben sie, legte die Hand auf ihre. „Ich bin hier“, sagte er. Sie sah ihn an, lange. Dann lächelte sie, ein kleines, müdes Lächeln. „Ich weiß“, hauchte sie. Und für einen Atemzug war sie wieder Lina. Ganz. Die Tage wurden kürzer. Draußen taute der Schnee, das Dach tropfte in

gleichmäßigem Rhythmus. Manchmal saß sie nur da und hörte auf die Tropfen. Zählte sie, vergaß die Zahlen, begann von vorn. „Das ist mein Lied“, sagte sie einmal. Anton nickte. „Ein schönes Lied.“ Er las ihr nicht mehr vor. Sie schien die Stimmen nicht mehr zu verstehen, aber manchmal summte sie, wenn er neben ihr saß – leise, fast tonlos. Es war kein Lied, das er kannte, und doch kam es ihm vertraut vor. Eines Morgens kam die Pflegerin. Lina saß im Sessel, die Decke auf den Knien,

den goldenen Löffel in der Hand. „Was haben Sie da, Frau Weber?“ Lina sah auf das Metall, drehte es zwischen den Fingern. „Mein Name“, sagte sie. „Wie bitte?“ „Mein Name“, wiederholte sie, „damit ich ihn nicht verliere.“ Die Frau lächelte. „Das ist schön.“ Aber Lina wusste, dass es kein Scherz war. Der Löffel war schwer, warm, lebendig. Er hielt die Jahre, die sie war, die Stimmen, die sie getragen hatte. Am Abend setzte sich Anton zu ihr. Er las nicht, sprach nicht.

Er hielt einfach ihre Hand, und sie hielt zurück – schwach, aber spürbar. Draußen fiel wieder Schnee. Sie sah hinaus, sah nichts. „Anton?“ „Ja.“ „Bin ich schlimm?“ „Nein“, sagte er, und seine Stimme zitterte. „Du bist schön.“ Sie schloss die Augen. „Ich glaube, ich bin müde.“ „Dann ruh dich aus.“ Sie nickte. Ein Atemzug. Noch einer.

Dann ein stilles Zittern, kaum merklich, als ob etwas in ihr nach Hause ginge. Später, als der Wind das Dach streifte, nahm Anton den Löffel aus ihrer Hand. Er war warm, fast lebendig. Er legte ihn neben die Rose auf den Tisch und setzte sich wieder zu ihr. Er sprach kein Gebet. Nur ihr Name. Lina. Und in der Stille danach war es, als würde der Nebel nicht dichter werden – sondern sanfter. Wie ein letzter, stiller Mantel aus Licht.

Nachwort Es gibt Krankheiten, die nehmen das Gedächtnis – und solche, die nehmen den Menschen, bevor das Gedächtnis geht. Die frontotemporale Demenz ist eine davon. Sie löscht nicht sofort, sie verschiebt. Erst das Lachen, dann die Grenzen, dann die Sprache. Bis die Welt nicht mehr auseinanderzuhalten ist in „du“ und „ich“, in „früher“ und „heute“. Doch in diesem Verschwinden liegt eine merkwürdige Zärtlichkeit. Denn während das Ich sich löst, bleibt etwas anderes zurück – etwas, das kein Name braucht. Ein Blick. Ein Atem. Ein

Rest von Nähe, der sich nicht erklären lässt. Lina hat aufgehört, sich zu erkennen, lange bevor ihr Körper aufhörte, da zu sein. Aber vielleicht ist das Erkennen gar nicht das Wesentliche. Vielleicht war sie am Ende nicht weniger sie selbst, sondern freier davon. Wie ein Blatt, das sich endlich vom Ast löst, nicht weil der Wind es entreißt, sondern weil es Zeit ist, zu fallen. Anton blieb zurück – mit der Hand voller Erinnerung, mit der Stimme, die noch „Lina“ sagen konnte, obwohl sie längst nicht mehr antwortete.

Und vielleicht, in dieser unausgesprochenen Stille, begann etwas Neues: eine Liebe, die keinen Namen mehr braucht, weil sie jenseits des Verstehens lebt. So bleibt am Ende nicht der Verlust, sondern die Spur eines Atems, eines Lichts im Nebel – so still, dass man es nur im Herzen hören kann.

Vor dem Nebel

Morgens ist sie zuerst wach. Das war schon immer so. Monikas Atem neben ihr, gleichmäßig, leise, manchmal mit einem kleinen Seufzer, den Andrea liebt, weil er klingt wie das Leben selbst. Sie steht auf, öffnet das Fenster. Kühle Luft, der Duft von Erde, ein Vogel irgendwo im Garten. Der Tag beginnt mit einem Geräusch, das sie beide einmal „ihr Lied“ nannten – das rhythmische Tropfen aus der alten Regenrinne. Im Flur hängt die Jacke, die Monika seit Wochen nicht getragen hat. Andrea

streicht darüber, wie über eine Erinnerung, und geht in die Küche. Kaffee. Zwei Tassen. Die alte Maschine faucht, als hätte sie ein Temperament. Es sind die kleinen Rituale, die sie festhalten. Rituale, die Ordnung geben, wenn die Welt langsam ihre Form verliert. Als Monika kommt, barfuß, noch halb im Schlaf, wirkt sie jünger, fast kindlich. „Du hast wieder zu früh aufgestanden“, sagt sie und lächelt, ein wenig schief. „Ich wollte den Tag nicht warten lassen“, antwortet Andrea. Sie trinken Kaffee, schweigend.

Draußen fällt das Licht durchs Fenster, warm und ruhig, und für einen Moment könnte alles so bleiben. Aber dann legt Monika den Löffel neben die Tasse, als wüsste sie nicht, was sie damit tun soll. „Ist der neu?“, fragt sie. „Nein“, sagt Andrea, „der ist von uns.“ Monika nickt, als wolle sie sich das merken. Andrea lächelt. Sie spricht nicht aus, dass es gestern dieselbe Frage war.

Später sitzen sie im Garten. Die Rosen haben noch Blüten, obwohl

der Herbst längst begonnen hat. Monika pflückt eine, betrachtet sie lange. „Sie ist unordentlich“, sagt sie schließlich. „Schau, die Blätter wissen gar nicht, wo sie hingehören.“ Andrea antwortet nicht sofort. Sie beobachtet, wie die Sonne Monikas Haar berührt, dieses unbändige Grau, das sie so schön findet. „Vielleicht mag ich sie gerade deshalb“, sagt sie leise. Monika lacht. Es klingt hell, fast wie früher. Doch dann bricht das Lachen ab, als sie ihre Hände betrachtet – als wären sie ihr fremd geworden.

„Ich wollte was machen“, murmelt sie. „Was war das?“ „Du wolltest die Blätter schneiden“, sagt Andrea. „Ach ja.“ Sie nimmt die Schere, schneidet zögernd. Der Schnitt ist schief, zu tief. „Nicht schlimm“, sagt Andrea schnell. „Das wächst wieder.“ Monika nickt, wirkt erleichtert. Ein Windstoß geht durch die Äste, und ein paar Blätter lösen sich, taumeln zu Boden. Andrea beobachtet, wie Monika ihnen mit den Augen folgt, als wäre das Fallen selbst eine Bedeutung.

Abends schreibt Andrea in ihr Notizbuch. Kleine Beobachtungen, mehr Fragmente als Sätze. „Sie hat heute gelacht, ohne Grund. Der schönste Klang.“ „Sie sucht Wörter, findet andere, manchmal bessere.“ „Ich habe Angst vor dem Tag, an dem sie meinen Namen nicht mehr weiß – aber ich fürchte noch mehr, dass ich ihn dann laut sagen muss, um sie daran zu erinnern.“ Sie legt den Stift beiseite, geht ins Schlafzimmer. Monika schläft schon, die Decke bis zum Kinn gezogen.

Andrea setzt sich auf die Bettkante und sieht ihr zu, bis das Atmen ruhig wird. In der Dunkelheit denkt sie daran, wie es begann – mit den kleinen Verwechslungen, den Momenten, die sie damals übersah. „Nur müde“, hatte Monika gesagt. „Zu viel Arbeit. Zu viel Denken.“ Andrea wollte ihr glauben. Vielleicht, weil Lieben manchmal heißt, das Offensichtliche nicht sehen zu wollen. In den frühen Stunden, kurz vor dem ersten Licht, wacht Andrea auf. Monika steht am Fenster, die Hände an der Scheibe.

„Es riecht nach Schnee“, sagt sie. „Es ist September.“ „Dann riecht der September heute nach Schnee.“ Andrea tritt neben sie. Draußen ist nichts als Nacht, still und schwarz. Aber in Monikas Stimme liegt ein Staunen, das Andrea nicht zerstören will. Sie legt die Arme um sie, spürt die Kälte ihrer Finger. „Komm“, sagt sie, „wir schlafen noch ein bisschen.“ Monika lehnt sich an sie, leicht, vertraut. „Ich bin froh, dass du da bist“, flüstert sie. „Ich war nie woanders“, sagt Andrea.

Und in diesem Moment glaubt sie, dass das stimmt. Egal, was kommen wird – sie wird bleiben. Nicht als Wächterin, nicht als Helferin, sondern als das, was sie immer war: ihre Frau.

---

Der Morgen beginnt wie jeder andere, doch Andrea spürt es schon beim Aufwachen: etwas ist anders. Monika liegt noch, aber ihre Hände greifen nach der Decke, als wäre sie fremd. „Guten Morgen“, sagt Andrea sanft. Keine Reaktion.

Nur ein leises Brummen, wie ein Gedanke, der sich nicht formen will. Andrea setzt sich auf die Bettkante, streicht Monika über den Arm. „Es ist Zeit aufzustehen“, sagt sie, ruhig, ohne Drängen. Monika dreht den Kopf, blickt auf, versucht zu lächeln. „Wer… bist du?“ Andrea schluckt, ein kurzer Stich im Herz. „Ich bin Andrea. Deine Frau.“ Die Worte scheinen fremd, fast schwer. Sie hilft Monika aus dem Bett, Schritt für Schritt. Jede Bewegung erfordert Aufmerksamkeit, aber auch Geduld. Im Bad bleibt Monika stehen, starrt auf

die Zahnbürste. „Wie… macht man das?“ Andrea hebt sie, zeigt ihr die Handhabung, immer wieder, ohne Ungeduld. „So“, sagt sie leise, „immer so.“ Frühstück ist ein Ritual voller Brüche. Monika rührt im Müsli, vergisst den Löffel, lacht über eigene Unordnung, dann wird ihr Gesicht ernst, als hätte sie plötzlich Angst, etwas falsch zu machen. Andrea sitzt ihr gegenüber, hält ihre Hand, hält den Atem des Moments fest. „Es ist alles richtig“, sagt sie. „Alles gut“, wiederholt sie, bis Monika nickt.

Tagsüber wandern sie durch den Garten. Andrea erzählt von den Pflanzen, vom Wetter, von der Katze, die draußen nach etwas sucht, das sie nicht fangen kann. Manchmal fragt Monika, wer sie sind, was sie tun. Andrea wiederholt die Geschichten, ohne Widerstand, ohne zu zeigen, dass es schon gestern erzählt wurde. Sie lacht leise, wenn Monika Dinge verwechselt, oder wenn sie Wörter verdreht, und bewahrt gleichzeitig den Ernst: Hier lebt jemand, der sich selbst immer mehr verliert. Am Nachmittag sitzt Monika am Fenster, starrt hinaus.

„Draußen ist alles fremd“, sagt sie. „Nein“, sagt Andrea, „es ist immer noch unser Garten.“ „Unser…?“ „Ja, unser Garten. Ich bin hier, ich bleibe bei dir.“ Monika legt den Kopf auf ihre Schulter, schweigt. Andrea spürt das Zittern, das kommt und geht. Abends liest Andrea vor. Worte, Geschichten, Lieder, die sie beide kannten. Monika hört zu, manchmal nickt sie, manchmal nickt sie nicht. Andrea liest weiter, weil das Vorlesen ein Anker ist – ein Stück Vergangenheit,

das noch trägt, noch Halt gibt. Manchmal stockt ihre Stimme, weil sie selbst in Gedanken bei dem ist, was Monika vergessen könnte. Aber sie liest weiter. Immer weiter. Wenn die Nacht kommt, ist es wie ein langsames Ausatmen. Monika liegt in ihren Armen, wiegt sich leicht. Andrea spürt, dass die Nähe mehr ist als Berührung – es ist Bewahren, Hüten, Lieben in der Stille. „Ich weiß nicht mehr alles“, flüstert Monika, „aber… du bist hier.“ Andrea nickt, drückt sie fester. „Und ich bleibe. Immer.“

Und so gehen sie Tag für Tag durch den Nebel. Jeder Moment ist zerbrechlich, jeder Blick kostbar. Andrea lernt, dass Liebe nicht nur im Erinnern lebt, sondern im Halten des Jetzt. Nicht im Festhalten, sondern im sanften Begleiten. Nicht im Wollen, sondern im Sein. --- Die Tage verlieren ihre Struktur. Andrea wacht auf, hört Monikas Atem, die leisen Geräusche, die geblieben sind. Manchmal murmelt sie Namen, Orte,

Dinge, die Andrea kennt – manchmal aber auch Wörter, die keinen Sinn ergeben, die wie kleine Rätsel in der Luft hängen. Andrea versteht nicht immer, was sie meint, doch sie antwortet, wie sie es immer getan hat: mit Nähe, mit Geduld, mit dem festen Willen, dass Monika sich gehalten fühlt. Eines Nachmittags sitzt Monika auf dem Sofa, die Hände in ihrem Schoß gefaltet. „Du bist… du bist schön“, sagt sie plötzlich. „Ich bin Andrea“, antwortet sie, „und ich liebe dich.“ Monika lächelt, unsicher, fast

zerbrechlich. „Ja… ich glaube“, murmelt sie. Andrea streicht ihr über die Haare, legt den Kopf an ihren. „Du bist hier“, flüstert sie. „Immer.“ Die Erinnerungen kommen in Fragmenten, wie Bilder aus einem Film, der nicht vollständig ist. Monika erkennt Orte wieder, andere verschwinden in Nebel. Manchmal fragt sie nach Menschen, die nie existiert haben, und Andrea nickt. Sie erzählt kleine Geschichten, die ihr Halt geben, die das Jetzt umarmen, ohne es zu erzwingen.

Sie erinnert sie nicht an alles, sie lässt sie manchmal ziehen, weil das Loslassen genauso Liebe ist wie das Halten. In den Nächten liegt Andrea neben ihr, beobachtet ihr Gesicht. Die Züge haben sich verändert, sind weicher geworden, oder vielleicht nur fremder. Manchmal spricht Monika, spricht wirr, oder flüstert ein Lied, das sie einst zusammen sangen. Andrea hört zu, versteht nicht alles, aber sie hört. Jede Silbe ist ein Echo dessen, was sie gewesen sind – und noch immer sind.


Eines Abends sagt Monika leise: „Ich weiß… ich weiß nicht mehr… wer ich war.“ Andrea nimmt ihre Hände, hält sie. „Du warst immer du. Und du bist es noch. In mir.“ Monika schließt die Augen, lehnt sich an sie. „Du bleibst?“ „Immer“, antwortet Andrea. Und sie meint es so, dass es reicht. Dass es trägt. Die Welt wird kleiner, langsamer. Die täglichen Handgriffe, die Routine, die einfachen Worte – sie werden zu Ankern.

Andrea kocht, wäscht, hilft, liest, erzählt, hält die Nähe. Sie spricht oft vom Heute, vom Jetzt, von Momenten, die noch gehen. Denn das Morgen ist unsicher, und das Gestern verschwimmt. Am Ende sitzen sie wieder im Garten. Der Herbst ist vollendet, die ersten Blätter sind gefallen. Monika berührt eine Rose, zögerlich, tastend. „Sie ist schön…“, sagt sie. „Wie du“, antwortet Andrea leise. Monika lächelt, und Andrea spürt, dass sie sie noch versteht – noch hier ist, wenn auch anders.

Als die Nacht kommt, legt Andrea Monika vorsichtig ins Bett. Sie bleibt neben ihr, hält ihre Hand, spürt den Atem, spürt das Leben, das noch in ihr ist. „Ich liebe dich“, flüstert sie, „und ich bleibe.“ Monika drückt ihre Hand, ein leichter Druck, ein Versprechen, ein Echo. Und Andrea bleibt, still, unerschütterlich, wie ein Baum, der Wind und Nebel trägt. Und so endet der Tag – nicht mit einem Abschied, sondern mit dem unerschütterlichen Willen zu bleiben. Die Worte, die sich lösen, die

Erinnerungen, die entgleiten, bedeuten nicht das Ende. Denn Liebe lebt nicht nur im Erinnern, sie lebt im Bleiben, im Sein, in jedem Atemzug, der die Gegenwart trägt. Andrea weiß, dass es Momente geben wird, in denen Monika sie nicht erkennt. Aber sie wird immer bei ihr sein. Nicht um zu retten, nicht um zu erinnern, sondern um zu lieben, so wie sie immer geliebt hat. Und das reicht.

Der Löffel, der vergaß Er lag seit Jahren in einer Schublade, zwischen stumpfen Messern, verbogenen Gabeln und einem Schneebesen, der immer ein wenig zu laut lachte. Er war aus Gold – das wusste er einmal. Er glänzte heller als alle anderen, und an Festtagen durfte er auf den Tisch, neben Porzellan und Kerzenlicht. Dann spürte er sich selbst: das Gewicht, den Glanz, den Zweck. Doch irgendwann hörten die Feste auf. Und die Jahre im Dunkel begannen. Zuerst vergaß er die Stimmen. Dann das Licht. Und eines Tages wachte er auf und wusste nicht mehr, was er war.

Er hörte das Klirren der anderen, aber ihre Sprache war fremd geworden. „Du bist still geworden“, sagte die Gabel. „Vielleicht bin ich kein Löffel mehr“, antwortete er. „Was denn sonst?“ Er dachte nach. Aber Gedanken waren schwer geworden, wie dickflüssiger Honig.

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KatharinaK
Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht:
Der Winter ist ein Bösewicht,
die Bäume tragen Schneegewicht,
die Stämme sind kahl
und so schwarz wie ein Pfahl,
die Felder sind weiß
und auf dem See liegt Eis.
In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.

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