
Der Gulasch-Mythos, also dass ein Hirte überm Feuer Gulasch gemacht habe, ist in Fachkreisen umstritten — Gulyás könnte eher eine städtische Erfindung sein. Der Bogrács (der traditionelle Kessel, „Kazan“) war in weiten Teilen Asiens verbreitet, und seine Verwendung ist nicht spezifisch ungarisch oder ausschließlich für Fleischgerichte gedacht. In alten Hirtenküchen dominierten eher einfache, tassenweise getragene, weniger fleischlastige Gerichte — etwa Pasten aus Getreide oder Teigwaren, die man in
einem Kessel zubereitete.
Der Slambuc (auch bekannt unter Namen wie öhön, szuszinka, topogó etc.) gilt hier als ein heute noch regional bekanntes Gericht, das der ursprünglichen Idee dieser einfachen Hirtenküche am nächsten kommt.
Rezeptlich besteht Slambuc aus wenigen Zutaten: Szalonna (Speck), Zwiebeln, Paprika, Tomaten, Eier-Tészta (Eierteignudeln), Kartoffeln und Gewürzen.
Interessant: Man darf die Teigwaren bei der Zubereitung nicht rühren, sondern nur drehen oder wenden, und traditionell – so heißt es – genau 32 Mal.
„Man soll die Welt nicht belachen, nicht beweinen, sondern begreifen.“ — Baruch de Spinoza
Die Stadt lag unter einem grauen Schleier. Regen rann an den Fensterscheiben hinab, zog Spuren wie kleine Furchen im Gesicht eines alten Mannes. Lina zog den Mantel enger, als sie aus der U-Bahn trat. In der Ferne hupten Autos, ein Bus quietschte, ein Verkäufer rief heiser nach Kundschaft. Ein gewöhnlicher Tag in einer unruhigen Welt – doch in ihrem Rucksack klapperten Dinge, die von
einer anderen Zeit erzählten: eine Tüte Kartoffeln, Nudeln, ein Stück Speck, getrockneter Paprika. David, ihr siebenjähriger Neffe, hüpfte neben ihr. Lina lächelte und hielt seine Hand fester. Sie hatte ihrer Schwester versprochen, heute David von der Schule zu holen und den Nachmittag zu beschäftigen. „Ich muss unbedingt zum Anwalt, du weißt schon, die Scheidung steht bald an“, murmelte Moni in ihr Handy, als sie vorbeiging. „Mach dir keine Sorgen, Moni. Ich weiß schon, was ich mit ihm mache – Slambuc kochen“, sagte Lina, und ihre Augen funkelten geheimnisvoll.
„Slambuc? Das alte Zeug!“ Moni zog die Brauen hoch. „Mach doch lieber irgendwas Modernes. Was die Kinder heute so essen.“ „An dem alten Zeug, wie du es nennst, ist überhaupt nichts alt. Es macht nicht nur den Bauch satt, im Gegensatz zu…“ „Lass mich doch mit deinen Traditionen zufrieden. David mag das gar nicht. Du wirst schon sehen, was du davon hast, Schwesterherz.“ „Nun, du hast auch was davon, meine Liebe. Oder willst du David etwa mit zum Anwalt nehmen?“ David kicherte, sein kleiner Rucksack hüpfte auf dem Rücken mit. „Ich will lieber Slambuc!“
Lina lächelte, spürte ein warmes Ziehen in der Brust. Der Regen prasselte leise auf die Dächer, und die grauen Straßen verwandelten sich für einen Moment in einen Schauplatz aus Erinnerungen. Sie dachte an die alte ungarische Tante, die vor Jahrzehnten Kartoffeln und Nudeln über offenem Feuer rührte, und an das leise Flüstern: „Man soll die Welt nicht belachen, nicht beweinen, sondern begreifen.“ „Dann lass uns gehen, mein Kleiner. Heute gibt es ein Abenteuer in Töpfen und Pfannen.“ Und während die Stadt im Regen vibrierte, spürte Lina, dass dieser Nachmittag nicht nur David, sondern
auch ihr selbst eine Tür zurück in die Zeit öffnen würde – eine Zeit, in der ein einfaches Gericht wie Slambuc mehr war als Essen: ein Akt des Verstehens, ein Stück Heimat, das man schmecken konnte. „Tante Lina, warum kochst du eigentlich dieses alte Zeug? In der Schule sagen alle, Gulasch ist das ungarischste Essen!“ Lina lächelte. „Vielleicht. Aber manchmal ist das, was leiser ist, älter. Und wahrer.“ David sah sie an, als spräche sie in Rätseln. „Aber Gulasch ist doch besser, oder?“ „Das wirst du selbst herausfinden“, sagte
sie, während sie die schwere Haustür aufstemmte. „Heute machen wir Slambuc“, erklärte sie, „so wie meine Großmutter ihn gekocht hat, draußen, über offenem Feuer. Es war das Essen der Hirten, einfach und ehrlich.“ David stützte den Kopf auf die Hände. „Und warum nicht einfach Nudeln mit Sauce?“ „Weil Slambuc Geduld braucht. Und Geduld ist das, was man braucht, um zu begreifen.“ Er runzelte die Stirn. „Begreifen?“ „Ja“, sagte sie. „Spinoza meinte, man soll die Welt nicht belachen, nicht beweinen, sondern begreifen. Vielleicht
fängt das Begreifen manchmal in einem Kochtopf an.“ Der Zug fuhr hinaus aus der Stadt, hinein in die endlose Weite der Puszta. Lina saß am Fenster, der Himmel über den Feldern war bleiern, aber weit. Der Rhythmus der Schienen beruhigte sie. Es war Jahre her, dass sie zuletzt zur Tanya ihrer Großmutter gefahren war. David schlief an ihrer Schulter. Sie betrachtete sein Gesicht, weich, vertrauensvoll – so wie ihres einmal gewesen war, bevor die Stadt sie festhielt, mit Terminen, E-Mails, Stimmen, die alles wollten, nur keine Stille. Als sie am alten Bahnhof ausstieg, wehte
ein Geruch von feuchter Erde und Rauch herüber. Ein alter Mann stand am Zaun der Tanya, sein Gesicht vom Wind gegerbt. „Ah, du bist die Enkelin der Nagy Mama“, rief er. „Sie war eine gute Köchin. Weißt du noch, wie sie Slambuc rührte?“ „Ich will es wieder lernen“, antwortete Lina. Er nickte langsam. „Dann wirst du auch verstehen, warum es so wichtig ist. Speck, Kartoffeln, Nudeln – aber das Wichtigste ist die Reihenfolge. Und das Warten. Immer wieder rühren, nie zu früh aufgeben. Genau wie im Leben.“ David blickte in den alten Kessel, der
auf drei Steinen stand. „Das ist also der Slambuc?“ fragte er ungläubig. „Noch nicht“, sagte der Alte. „Jetzt ist es nur Hoffnung.“ Sie lachten, und Lina spürte, wie sich etwas löste in ihr – eine Schicht aus Staub, die sich über die Jahre gelegt hatte. Am Abend saßen sie am Feuer. Die Flammen warfen warme Schatten auf die Gesichter. Die Nachbarin Ilonka erzählte Geschichten, die sie selbst als Kind gehört hatte. Von Hirten, die im Sommer durch die Steppe zogen, vom Klang der Glocken der Tiere, vom einfachen Leben
unter dem Himmel. „Früher,“ sagte sie, „hat man nicht über das Leben gesprochen. Man hat es gelebt. Wer gekocht hat, hat verstanden.“ Lina lächelte leise. „Vielleicht müssen wir wieder anfangen zu kochen, um wieder zu verstehen.“ David kicherte. „Oder wenigstens, um was zu essen.“ Alle lachten. Später, als der Himmel voller Sterne hing, dachte Lina an Spinozas Worte. Nicht belachen. Nicht beweinen. Begreifen. Der Satz war wie eine Melodie, die man nie ganz vergessen hatte. Der Morgen war hell und kühl. Tau lag
auf dem Gras, und der Himmel schimmerte in feinen Rosatönen. Lina und David sammelten Holz für das Feuer. Es roch nach Erde und Vergangenheit. Ilonka kam mit einer Schüssel Speckstücke und rief: „Heute zeigen wir euch, wie man’s richtig macht!“ Sie entzündeten das Feuer. Das Fett schmolz, zischte, knisterte. Der Duft füllte die Luft. „Jetzt die Kartoffeln,“ sagte Ilonka, „dann die Nudeln. Immer rühren, Kind. Der Slambuc verzeiht keine Ungeduld.“ David nahm den Löffel, drehte den Teig langsam im Kessel. Seine Bewegungen waren vorsichtig, fast ehrfürchtig. „Wie lange noch?“ fragte er.
„Bis du nicht mehr fragst“, antwortete Lina. Die Alten lachten, aber in ihren Augen lag etwas Weiches. Dann begann der Schmied zu erzählen: „Als ich jung war, hab ich mit meinem Vater draußen auf der Weide gekocht. Wir hatten kaum was. Aber am Abend, wenn der Slambuc fertig war, hat’s gerochen wie ein Fest. Ich hab da gelernt, dass ein Mensch, der warten kann, reich ist.“ Lina hörte still zu. „Und du?“ fragte Ilonka sie. „Was suchst du hier, in der alten Tanya?“ Sie sah in die Glut. „Vielleicht mich selbst. Oder das, was bleibt, wenn alles
andere laut wird.“ Ilonka nickte. „Dann bist du am richtigen Ort. Die Puszta redet nicht viel, aber sie hört zu.“ Der Abend fiel, die Stimmen verklangen. Nur das Feuer blieb. David saß neben ihr, den Kopf an sie gelehnt. „Tante Lina, was meinst du – hat Omi uns vergessen?“ „Nein“, sagte sie leise. „Sie ist hier, in allem, was riecht und klingt und schmeckt. Wir müssen nur still genug sein, um’s zu begreifen.“ Am nächsten Tag war das Licht weich wie ein Versprechen. Nebel hing über den Feldern, und der Wind roch nach
feuchtem Gras. Lina stand früh auf, legte Holz nach und wischte über den alten Tisch, als wolle sie Erinnerungen freilegen. „Heute kochen wir beides“, sagte sie zu David, der verschlafen aus dem Nebel kam. „Slambuc – und Gulasch. Zwei Arten, Heimat zu verstehen.“ Er grinste. „Und wer gewinnt?“ „Vielleicht keiner. Vielleicht beide.“ Sie schnitten gemeinsam Speck und Zwiebeln. Das Fett knisterte, die Zwiebeln glitzerten im Licht. Der Slambuc nahm Gestalt an, Kartoffeln und Nudeln verbanden sich im rauchigen Dunst, während auf dem zweiten Herd der Gulasch brodelte, rot wie das Herz
eines alten Liedes. „Warum machst du das so langsam?“ fragte David. „Weil man beim Rühren denkt. Und beim Denken merkt, dass es mehr gibt als Eile.“ Sie erzählte ihm, wie ihre Großmutter den Slambuc kochte, wenn das Wetter schlecht war. Wie sie dabei sang, leise, ein Lied ohne Worte. „Sie sagte immer: Wer kocht, erzählt Geschichten, ohne zu sprechen.“ David sah sie an. „Und was erzählst du heute?“ Lina hielt kurz inne. „Dass man die Welt nicht belachen soll. Nicht beweinen. Sondern begreifen. Vielleicht ist das
mein Rezept.“ Er lachte. „Dann bist du die Philosophin mit dem Kochlöffel!“ „Und du mein Schüler“, sagte sie, und ihre Stimme klang wie ein Lächeln. Als der Duft beider Gerichte sich mischte, füllte er die Küche wie eine Erinnerung, die plötzlich wieder lebendig wurde. Draußen riefen die Krähen, und irgendwo klapperte der Wind an einer alten Tür. „Weißt du“, sagte Lina, „der Unterschied zwischen Gulasch und Slambuc ist wie der zwischen Stadt und Land. Der eine ist laut, der andere still. Aber beide brauchen Feuer, damit sie leben.“ Sie aßen am Abend draußen, unter einem
Himmel, der wie ein Spiegel war. Der Slambuc dampfte, goldbraun, die Ränder leicht knusprig. Der Gulasch daneben glänzte dunkelrot, würzig, kräftig. „Jetzt kommt die Wahrheit,“ sagte Lina. David kostete zuerst den Gulasch. „Schmeckt gut. Wie immer.“ Dann nahm er einen Löffel Slambuc, kaute, schwieg, blickte in die Flammen. „Der schmeckt… anders. Wie früher, glaub ich. So, als wär Zeit drin.“ „Weil Zeit drin ist“, sagte Lina. „Und Zuwendung. Beides schmeckt man.“ Sie aßen schweigend weiter. Der Himmel verdunkelte sich, Grillen zirpten. Lina dachte an ihre Großmutter, an ihre
Hände, die nie rasteten, an die Sanftheit in ihren Bewegungen. Es war Haltung. Es hieß, nicht davonzulaufen, sondern zu bleiben – auch, wenn’s raucht, wenn’s klebt, wenn’s brennt. „Tante Lina?“ fragte David leise. „Hm?“ „Warum hast du früher nie Zeit gehabt, sowas zu machen?“ Sie atmete tief. „Weil ich dachte, alles Wichtige passiert woanders. In Büros, in Städten, zwischen Terminen. Aber jetzt weiß ich – das Wichtige passiert hier. Wenn man zuhört.“ Er nickte ernst, lächelte. „Ich glaub, ich fang an zu begreifen.“ „Dann bist du schneller als ich es war.“
Ein Windstoß ging über die Felder, trug den Geruch des Slambuc mit sich, als wollte er die Welt daran erinnern, dass auch das Einfache heilig ist. Am Morgen war der Himmel klar. Die Sonne stieg über die Steppe wie ein langsames Versprechen. David kam mit glänzenden Augen angelaufen. „Tante Lina! Darf ich heute alleine kochen?“ Sie sah ihn an, überrascht und stolz zugleich. „Wenn du dir sicher bist – ja. Aber ich bleibe hier, falls du mich brauchst.“ Er nickte und begann. Speck, Zwiebeln, Kartoffeln, Nudeln. Die Reihenfolge, das Rühren, das Warten.
Lina saß auf der Bank und beobachtete ihn, wie die Bewegungen ruhig und sicher wurden. „Nicht zu stark rühren“, rief sie leise. „Lass den Kessel selbst erzählen.“ „Ich weiß!“, rief er zurück. Sie schloss die Augen und hörte das Knistern des Feuers. In der Ferne brummte ein Traktor, irgendwo krähten Hähne. Alles war so einfach – und doch war alles darin: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Als David den Deckel abnahm, duftete es wie ein Lied. „Fertig“, sagte er stolz. Sie probierte. Es schmeckte nach Geduld.
Nach Kindheit. Nach Ankunft. „Das ist der beste Slambuc, den ich je gegessen habe.“ David grinste. „Weil ich ihn gemacht hab, oder?“ „Ja“, sagte sie. „Weil du ihn begriffen hast.“ Der Wind fuhr durch ihr Haar, trug Rauch und Licht davon. Lina sah hinaus auf die Felder. Die Erde glänzte, als hielte sie alles in sich, was war und sein würde. Und in diesem Moment fühlte sie, dass Begreifen kein Ende ist – sondern ein Anfang. Am Abend, als das Feuer längst erloschen war, stand der alte Kessel leer in der Küche. Nur ein leichter Duft
blieb, Paprika und Rauch, Erinnerung und Hoffnung. Lina schrieb die letzten Zeilen in ihr Notizbuch: „Begreifen ist, wenn du den Mut findest, zu bleiben. Wenn du kochst, weil du lieben willst, nicht weil du satt werden musst. Wenn du verstehst, dass jedes Rühren eine Art Gebet ist. Nur ein leichter Duft blieb – Paprika, Rauch, Erinnerung, Hoffnung.“ Sie legte den Stift beiseite und sah zum Fenster hinaus. Über der Puszta stiegen Sterne auf, einer nach dem anderen, ruhig, unbeirrt
Und sie wusste: Der letzte Slambuc war
eigentlich der erste.