Kurzgeschichte
Die Stadt der glühenbden Paprika

0
"Die Stadt der glühenbden Paprika"
Veröffentlicht am 02. November 2025, 24 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht: Der Winter ist ein Bösewicht, die Bäume tragen Schneegewicht, die Stämme sind kahl und so schwarz wie ein Pfahl, die Felder sind weiß und auf dem See liegt Eis. In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.
Die Stadt der glühenbden Paprika

Die Stadt der glühenbden Paprika

Die Stadt der glühenden Paprika Die Nacht lag schwer über ihm. Márton stand vor den Ruinen der Stadt, deren Mauern im Mondlicht wie glühende Kohlen schimmerten. Der Wind trug einen Hauch von Rauch, getrockneten Kräutern und scharfen Gewürzen zu ihm, und die Luft schmeckte nach Paprika – nicht süßlich, sondern scharf, fast schneidend, als wolle sie die Schleimhäute warnen, dass sie die Stadt nicht unvorbereitet betreten durfte. Im Gasthaus, das wie durch ein Wunder noch stand, saßen zwei Gestalten bei schwachem Licht. Eine alte Frau schob eine Schale voller blutroter Paprikaschoten über den Tisch. Jede

Schote glänzte, als sei sie von innen entzündet. „Jeder Biss bringt dich näher an den Kern der Stadt“, sagte die alte Frau. „Aber sei gewarnt: Der Kern ist heiß, scharf und unerbittlich. Er zeigt dir, was verborgen bleiben sollte, und verlangt, dass du es spürst.“ Márton zögerte nur kurz. Dann griff er nach einer Schote und biss hinein. Die Schärfe explodierte in seinem Mund wie ein Sturm aus Feuer. Die Augen schlossen sich, und sofort erschienen Bilder von Derenc: Kinder, barfuß in den Paprikafeldern; Feste, in denen Rauch, Feuer und Gewürz untrennbar verschmolzen; ein alter Mann, der

versuchte, die Stadt vor einem Feuer zu retten, das die Schoten selbst entzündet zu haben schien. „Es ist, als würde die Stadt mich fressen“, flüsterte Márton. Schweiß und Tränen liefen über sein Gesicht. „Nein“, sagte die junge Frau, die sich ihm gegenübersetzte. „Sie verschlingt dich nicht. Sie zeigt dir nur, was du warst und sein könntest. Wer den Kern erreicht, trägt Derenc in sich. Du kannst dich nicht trennen, nicht mehr. Aber du wirst verstehen, warum wir geblieben sind.“ „Jeder Biss ist ein Pakt“, ergänzte der Mann. „Jede Schärfe ein Versprechen. Du wirst sehen, wie die Vergangenheit

brennt und doch süß ist, wie Schmerz und Freude verschmelzen. Nur so erkennt man die Stadt wirklich.“ Márton griff nach einer weiteren Schote und biss zu. Diesmal spürte er nicht nur Schmerz, sondern ein berauschendes Gefühl von Verbundenheit. Stimmen der Vergangenen flüsterten ihm zu; ihr Lachen und Weinen mischten sich mit dem Knistern der Paprikaschoten. „Siehst du sie jetzt?“ fragte die alte Frau. „Sie sind überall. In jeder Ecke, in jedem Schatten, in jeder Flamme. Derenc lebt, weil du sie spürst.“ Márton öffnete die Augen und sah die Stadt nicht mehr als Ruine, sondern als lebendigen Organismus, pulsierend,

brennend, voller Erinnerungen und Emotionen. Die Mauern atmeten, die Straßen flüsterten, und die Paprikapflanzen reckten ihre leuchtenden Schoten wie Finger in die Nacht. „Und wenn ich zu viel sehe?“ fragte Márton. „Wenn ich von der Schärfe überwältigt werde?“ „Dann bist du verloren“, sagte der Mann mit bitterem Lächeln. „Oder du wirst ein Hüter wie wir. Ein Hüter der Erinnerungen, der Schärfe und der Stadt.“ Die junge Frau berührte seinen Arm. „Es tut weh, aber es ist schön. Es ist Derenc. Du kannst nicht entkommen, aber du kannst verstehen.“

Márton nahm die letzte Schote, biss hinein, und die Schärfe durchflutete ihn wie ein Feuersturm. Bilder, Geräusche, Düfte – alles auf einmal. Die Stadt, die Menschen, die Freude, der Schmerz, die Verluste – alles in ihm. Er schrie, lachte, weinte, taumelte zwischen Ekstase und Qual. Plötzlich war Stille. Die alte Frau lächelte mild. „Du hast den Kern erreicht. Du siehst nun, was Derenc ist. Und du trägst es in dir.“ Márton stand auf, zitternd, doch verbunden. „Ich… ich verstehe.“ „Gut“, sagte der Mann. „Dann bist du bereit. Bereit, die Stadt zu tragen, die Schärfe zu spüren und ihre Geschichten

weiterzugeben.“ Die junge Frau nickte. „Du bist jetzt ein Teil von uns. Derenc lebt, solange es jemanden gibt, der ihre Schärfe schmeckt.“ Márton wanderte durch die Straßen. Das Pflaster unter seinen Füßen war rau, doch er spürte jede Unebenheit, als sei es das Pulsieren der Stadt selbst. Er berührte die Wände – sie fühlten sich warm an, fast lebendig. Eine Tür schwang quietschend auf, und eine alte Frau saß da, die Hände in einer Schale voller Paprikapulver, das wie glühende Asche leuchtete. „Márton“, flüsterte sie, „die Stadt spricht nur zu denen, die sich trauen, den Kern

zu kosten. Hörst du das Knistern?“ Er nickte. Das Knistern war mehr als Geräusch – es war Atemzug, Herzschlag, alles in einem. Und dann sah er die Kinder. Sie spielten, lachten, liefen durch den Rauch, der von glühenden Paprikaschoten aufstieg. „Sie… sie sind Geister?“ fragte Márton. „Nein“, sagte die junge Frau. „Sie sind Erinnerung. Freude, Trauer, Schärfe – alles in einem. Wir haben sie nie vergessen, und nun wirst du sie tragen.“ Márton folgte einem schmalen Pfad, gesäumt von Paprikapflanzen, deren Rot intensiver war als alles, was er je gesehen hatte. Er pflückte eine und biss hinein. Die Hitze durchbohrte ihn wie

ein Sturm, aber diesmal war da kein Schmerz – nur ein Brennen, das ihn erweckte, das ihn weitete, das ihn zum Teil der Stadt machte. „Fühlst du das?“ flüsterte der Mann. „Jede Schote erzählt eine Geschichte. Jede glühende Spitze brennt Erinnerung, Lust, Trauer in dich hinein. Nur wer alles spürt, versteht Derenc.“ Márton nickte. Er konnte die Stadt schmecken, riechen, fühlen – und mit jedem Schritt verwob sich seine Seele tiefer mit der verlorenen Stadt. „Es ist zu viel“, hauchte er. „Aber es ist schön. Schrecklich schön.“ „Schön und schrecklich sind eins in Derenc“, sagte die junge Frau. „Hier gibt

es keine Trennung von Schmerz und Freude. Alles lebt in der Schärfe, alles lebt in dir.“ Die Nacht zog sich wie ein Samtvorhang über die Stadt, doch Márton sah plötzlich die Vergangenheit. Ein Mann stolperte über zerbrochene Pflastersteine, eine Frau trug einen Korb voller Paprikaschoten, ein Kind rannte lachend vorbei und streifte dabei eine glühende Fackel. Alles war lebendig, alles war gegenwärtig. „Siehst du?“ flüsterte die alte Frau. „Du bist jetzt Teil des Pulsschlags. Jeder Atemzug, jede Schote, jede Erinnerung ist in dir. Die Stadt lebt durch dich.“ Márton schloss die Augen, und als er sie

wieder öffnete, sah er, wie der Morgen langsam über den Hügeln aufstieg. Die Welt war still, aber in ihm brannte die Hitze von Derenc unaufhörlich weiter. Die Sonne hatte sich über die Hügel geschoben, als Márton die letzten Ruinen hinter sich ließ. Die Stadt lag still da, doch er wusste: Sie ruhte nicht. Sie lebte in ihm. Jeder Herzschlag, jeder Atemzug war durchzogen von der Schärfe der Paprika, von den Erinnerungen, von den Geschichten der verlorenen, glühenden Stadt. Er wanderte durch die Felder, die Luft frisch, die Erde weich unter seinen Füßen. Doch alles schmeckte anders. Farben, Geräusche, Düfte – alles

pulsierte wie die Schoten in Derenc. „Die Schärfe begleitet dich“, flüsterte eine Stimme in seinem Inneren. „Sie lässt dich nicht los.“ Er lächelte. Schmerz, Lust, Trauer, Freude – alles eins. Die Kinder, die Feste, die Schreie, die glühenden Schoten – sie lebten jetzt in ihm, und er war lebendig durch sie. Am Rand eines Bachs setzte er sich, die Füße im Wasser, ließ die Hitze in sich nachklingen. Die Welt war still, aber in ihm tobte das Feuer von Derenc. Die Schärfe war ein Geschenk, eine Last, eine Gabe zugleich. „Vielleicht“, murmelte er, „ist das, was wir vergessen, nicht verloren. Vielleicht

lebt es weiter, wenn wir nur den Mut haben, es zu spüren.“ Der Wind spielte durch die Felder, trug den Duft von frischem Gras, doch in jedem Atemzug schmeckte Márton auch das Glühen der Paprika, die Geschichten der Stadt, die letzten Bewohner. Alles war gegenwärtig, lebendig, unerbittlich. Er stand auf, das Feuer in sich wie eine unsichtbare Flamme, die niemals erlöschen würde. Die Stadt war hinter ihm, doch sie lebte in ihm weiter, durch ihn, in der Schärfe seiner Sinne und in der unvergänglichen Glut der Paprika. Und so wanderte Márton weiter, ein Hüter der verlorenen Geschichten, ein Träger der glühenden Schärfe, ein Zeuge

der morbiden Schönheit einer Stadt, die niemand vergessen konnte. Wer Derenc schmeckte, wer die Hitze spürte, trug die Stadt für immer im Herzen – und die Welt war nie wieder dieselbe. Márton setzte sich auf einen abgebrochenen Stein, die Hände um die Knie geschlungen, und spürte das Nachbrennen der Schärfe in seinem Mund, auf seiner Zunge, tief in seiner Kehle. Es war kein bloßer Schmerz, es war ein Flüstern der Stadt, ein Atemzug der Vergangenheit, der verlangte, gehört zu werden. Er schloss die Augen und sah die Gesichter derer, die einst hier gelebt hatten: ein alter Schmied, dessen Hände

nach Ruß und Schärfe riechen, Kinder, die barfuß durch das glühende Laub rannten, ein Paar, das unter dem Schein von Fackeln tanzte, während die Paprikapflanzen wie glühende Zeugen ihrer Leidenschaft zitterten. Jeder Atemzug, jeder Gedanke schien durchzogen von der roten Glut der Schoten, von einer Wärme, die die Seele brannte und zugleich nährte. „Es ist zu schön, um wahr zu sein“, murmelte er, die Lippen vom Brennen zerschnitten. „Und zu schmerzhaft, um es zu ignorieren.“ Eine sanfte Stimme erhob sich in seinem Inneren, nicht hörbar für andere, nur für ihn: „Schmerz und Schönheit sind eins.

Wer den Kern spürt, erkennt die Wahrheit. Wer die Hitze fürchtet, wird sie nie verstehen.“ Er griff in seinen Mantel und zog die letzte Schote hervor, die ihm die junge Frau gegeben hatte, noch glühend, als wäre sie gerade erst von der Sonne geküsst worden. Mit einem Zittern biss er hinein. Die Schärfe schoss wie ein Feuerpfeil durch seine Adern, ließ sein Herz schneller schlagen, seine Gedanken explodieren. Doch diesmal war da keine Angst. Nur Erkenntnis. Die Stadt flüsterte in tausend Stimmen zugleich: Siehst du uns? Fühlst du uns? Erinnerst du dich?

„Ich… ich erinnere mich“, stammelte Márton. „Ich trage euch in mir. Jeder Schritt, jede Schote, jede Erinnerung – alles lebt in mir weiter.“ Die Paprikaschärfe verwandelte sich langsam in ein warmes Leuchten, das durch seinen Körper floss. Er konnte die Geschichten der Stadt schmecken, hören, fühlen. Jede Freude, jeder Verlust, jeder Schrecken, jede Liebe – alles pulsierte in ihm. „Du bist der Hüter“, sagte die Stimme der alten Frau, die nun wie ein Teil seines Bewusstseins war. „Die Stadt ist in dir. Du wirst sie weitertragen, wenn du gehst. Jeder Atemzug von dir wird ein Echo von Derenc sein.“

Er stand auf. Der Schmerz in seiner Zunge und in seiner Kehle war noch da, aber er fühlte sich lebendiger als je zuvor. Der Wind trug den Duft von glühendem Paprikapulver, von Erde und Rauch, und er sog ihn in sich auf. Jede Faser seines Körpers war mit der Stadt verbunden, und das Wissen, dass sie in ihm weiterlebte, ließ sein Herz brennen – nicht wie Schmerz, sondern wie ein Leuchtfeuer der Erinnerung. „Ich werde euch nicht vergessen“, flüsterte er, während er die Straßen hinabstieg. „Derenc, die glühende Stadt, lebt weiter in mir. Die Schärfe eurer Paprika, euer Lachen, euer Leid – alles wird bei mir bleiben. Ich werde es

tragen, bis ich selbst verglühe.“ Am Rande der Felder, wo die Sonne sich erhob und die Schoten der Paprikapflanzen in unvergesslichem Rot leuchteten, blieb er stehen. Márton blickte zurück auf die Ruinen, die nun nicht mehr tot erschienen, sondern pulsierend, lebendig, als würde die Stadt selbst ihm zuzwinkern, als wollte sie sagen: Du bist angekommen. Du bist einer von uns. Er spürte ein letztes Nachbrennen auf seiner Zunge, dann breitete sich eine Wärme in ihm aus, die ihn wie eine unsichtbare Umarmung hielt. Die Welt um ihn herum war still, friedlich, doch in seinem Inneren tobte das Feuer von

Derenc weiter. „Die Schärfe… sie ist ein Geschenk“, murmelte er. „Ein Schmerz, der süß ist. Eine Erinnerung, die brennt. Ein Herz, das nie vergessen wird.“ Mit jedem Schritt, den er nun durch die Felder machte, wusste Márton, dass er nicht nur eine Stadt verlassen hatte. Er hatte ein Erbe angenommen, ein Leben, das untrennbar mit der glühenden, verlorenen Schönheit von Derenc verbunden war. Die Schärfe, die er spürte, war nicht nur Hitze – sie war Erinnerung, Leben, Tod und alles dazwischen. Die Sonne war längst über den Hügeln verschwunden, und nur ein schwaches

Licht glitt über die glühenden Paprikafelder. Márton setzte sich auf den kalten Stein, die Hände um die Knie geschlungen, und spürte die Wärme, die noch immer durch seinen Körper pulsierte. Jede Erinnerung, die er in Derenc gesammelt hatte, schien noch lebendiger zu sein, als hätten die Ruinen ihn in der Zeit festgehalten, um ihm ein letztes Geschenk zu machen. Der Nachgeschmack der Paprika brannte in seinem Mund – nicht schmerzhaft, sondern sanft wie ein Flüstern: Wir sind hier. Wir vergessen dich nicht. Er schloss die Augen und hörte das leise Knistern des Windes in den

vertrockneten Blättern, als wäre es das Flüstern der Stadt selbst. Ein Lachen, ein Weinen, ein alter Schmied, der seinen Hammer schwang – alles verschmolz zu einer Melodie, die nur er hören konnte. „Selbst in der Stille brennt ihr weiter“, murmelte er, die Stimme kaum mehr als ein Atemzug. „Jede Erinnerung ist wie ein Feuer, das niemals verlöscht.“ Die Felder glühten im letzten Licht, und Márton spürte, wie die Stadt durch ihn atmete. Er war nicht mehr nur ein Besucher; er war ein Teil von Derenc geworden, ein Hüter der Glut, der Geschichten und der Schärfe, die niemand sonst mehr schmecken konnte. Und während die Nacht herabsank und

die Sterne wie glühende Paprikasamen funkelten, fühlte er die Nachglut auf seiner Zunge, die ihn wie ein Versprechen umhüllte: Du trägst uns weiter. Du vergisst uns nie. Wir sind ewig in dir.

0

Hörbuch

Über den Autor

KatharinaK
Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht:
Der Winter ist ein Bösewicht,
die Bäume tragen Schneegewicht,
die Stämme sind kahl
und so schwarz wie ein Pfahl,
die Felder sind weiß
und auf dem See liegt Eis.
In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.

Leser-Statistik
1

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Zeige mehr Kommentare
10
0
0
Senden

172890
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung