
Das Fest des Neujahrsbades
In der ungarischen Stadt Baja gibt es eine besondere Tradition: das Neujahrsbad. Am 1. Januar springen die mutigsten Einwohner in die kalten Fluten der Donau, um das neue Jahr zu begrüßen. Dieser erfrischende Start ins Jahr hat sich zu einer beliebten Veranstaltung entwickelt, bei der Einheimische und Besucher gleichermaßen teilnehmen. Das Neujahrsbad ist nicht nur ein erfrischendes Erlebnis, sondern auch eine Gelegenheit, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken – und sich an den Abenteuern des neuen Jahres zu erfreuen.
Die Stadt Baja schlief noch, als Éva sich aus der schmalen Gasse schob, die vom Hauptplatz zum Donauufer führte. Der Himmel war blass, fast durchsichtig, und über den Dächern hing ein leichter Rauch, der von den Kaminen der Häuser aufstieg. Die Straßen waren still, nur das ferne Krächzen von Krähen durchbrach die Stille. Die Menschen der Stadt hatten sich noch nicht gesammelt, doch Éva wusste, dass das Wasser rufen würde. Seit Tagen hatte sie sich auf diesen Moment vorbereitet. Das Neujahrsbad war keine einfache Tradition; es war ein Sprung in die Kälte, in die Ungewissheit,
ein Ritual, das Mut erforderte. In der Kindheit hatte sie die Erwachsenen beobachtet, die mit roten Wangen, aber lachend ins Wasser sprangen, und immer wieder hatte sie sich gesagt: „Dieses Jahr bin ich dabei.“ Nun war dieses Jahr da. Am Ufer versammelte sich bereits eine bunte Schar: Kinder mit aufgeregtem Glitzern in den Augen, ältere Damen in wärmender Wolle, Männer mit entschlossenen Gesichtern, die sich gegenseitig auf die Schulter klopften. Es war eine eigenartige Mischung aus Nervosität, Freude und ritualisierter Spannung. Jeder, der hier stand, spürte die Erwartung, das Flüstern des kalten Windes auf der Haut, die Vorfreude auf
den Sprung, der nicht nur den Körper, sondern auch den Geist wachrütteln würde. Éva fröstelte, als sie ihre Arme um sich schlug. Sie hatte sich warm angezogen, dicke Wollsocken unter den Stiefeln, doch nichts konnte sie auf die Kälte vorbereiten, die sie erwarten würde. Sie atmete tief ein und sah zum Wasser hinab. Die Donau glitzerte wie flüssiges Silber, ruhig und endlos, und doch wusste jeder hier, dass sie das alte Jahr hinwegspülen und das neue Jahr willkommen heißen würde. „Wer zuerst?“ Ein Mann lachte, das Geräusch war rau und herzlich. Éva drehte sich und sah ihn zum ersten Mal:
László. Er war groß, die Schultern breit, das Haar noch dunkel vom Winterregen, das Gesicht von einem leichten Bartschatten gekrönt. Seine Augen waren klar und schienen ihr direkt in die Seele zu blicken. Sie spürte einen leisen Stich im Herzen – ein unerklärliches Ziehen, das sie sofort erröten ließ. Er lächelte und nickte in ihre Richtung. „Bereit?“ fragte er, seine Stimme freundlich, aber mit einem Funken Herausforderung. Éva schluckte. Sie wollte „ja“ sagen, wollte mutig sein, doch der Gedanke an die eiskalte Donau schickte ein Zittern durch ihre Beine. „Vielleicht… zusammen?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein
Flüstern. Er lachte, nicht spöttisch, sondern warm, und ergriff ihre Hand. „Zusammen“, wiederholte er. Und in diesem Moment spürte Éva, dass die Entscheidung gefallen war – nicht nur der Sprung, sondern etwas anderes, etwas Unsichtbares zwischen ihnen. Die Menge am Ufer formte eine lockere Linie, jeder bereit, das Ritual zu beginnen. Die Kälte biss in die Haut, und die Nervosität wuchs mit jedem Herzschlag. Éva drückte Lászlós Hand, und er erwiderte den Druck, als wäre es ein stilles Versprechen. Dann der Ruf: „Auf drei!“ Eins… Zwei…
Drei! Und sie sprangen. Die Donau war ein Schock. Das Wasser war eiskalt, schnitt durch die Haut wie tausend kleine Nadeln, die Schärfe der Kälte raubte den Atem. Éva schrie, reflexhaft, doch László hielt sie fest, drückte sie dicht an sich, und plötzlich war da mehr als nur körperliche Wärme – ein Gefühl von Nähe, Sicherheit und... Unvermeidlichkeit. Das Wasser wirbelte um sie, trug sie, und als sie auftauchten, prallten ihre Augen erneut aufeinander. Lachen, Atemzüge, das Schlagen der Herzen – alles verschmolz zu einem Moment, der größer war als die Kälte, größer als der Mut,
den es gekostet hatte, zu springen. „Du bist verrückt“, sagte Éva, lachend und zitternd zugleich. „Vielleicht“, erwiderte László, „aber ich würde nie alleine springen.“ Die beiden schwammen ans Ufer, die Hände ineinander verschränkt, während die Menge um sie herum jubelte. Kinder sprangen noch hinterher, alte Freunde klatschten, und das Ritual nahm seinen Lauf – ein Wirbel aus Kälte, Mut und Freude, der die Stadt wachrüttelte. Éva und László standen am Ufer, Tropfen glitzerten auf ihren Haaren, und sie wussten beide, dass dies mehr war als ein Neujahrsritual. Es war ein Beginn. Nicht nur des Jahres, sondern eines Moments,
eines Gefühls, das leise, aber unaufhaltsam wuchs. Die Minuten bis zum Sprung zogen sich wie Gletscher. Éva stand am Ufer und sah den Rauch von Teekannen über den Decken der kleinen Holzhäuschen am Ufer steigen. Händler boten dampfende Getränke und Decken an, die Kinder sprangen aufgeregt auf der Stelle, während alte Männer mit wettergegerbten Gesichtern Witze rissen, um die Nervosität zu vertreiben. László hatte sich neben sie gestellt, die Hände tief in den Taschen, doch ab und zu sah er zu ihr, ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. „Weißt du“, begann er, „ich bin schon seit Jahren bei
diesem Bad dabei. Aber ich habe noch nie jemanden getroffen, der… naja… mich so nervös macht.“ Éva lachte, das Geräusch schneidend klar in der kalten Luft. „Vielleicht bist du auch nur mutig, wenn du alleine bist.“ Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, trotz der Kälte, und sie sah zur Donau, die sanft unter der winterlichen Sonne glitzerte. „Alleine?“, wiederholte er, den Kopf schief gelegt. „Da wäre es doch viel weniger interessant.“ Er trat näher, und sie spürte das leichte Kribbeln, das sich ausbreitete, wenn jemand mehr Nähe zuließ, als sie erwartet hatte. Die ersten Springer liefen voraus,
lachten, schrien, während sie in die glitzernde Kälte stürzten. Éva spürte, wie ihre Angst wuchs – doch zugleich wuchs die Aufregung. Das Bad war ein Sprung in die Ungewissheit, in die Angst, aber auch in das Leben selbst. Und plötzlich war László nicht nur ein Begleiter, sondern ein Anker, der sie hielt, während ihr Herz wild schlug. „Bereit?“, flüsterte er, als die Gruppe am Ufer sich sammelte, um den offiziellen Sprung zu beginnen. „Bereit“, antwortete sie, und zum ersten Mal glaubte sie es. Der Countdown begann. „Drei… Zwei… Eins…“ Gemeinsam stürzten sie, durchbrachen
die glatte Oberfläche der Donau, und das Wasser war ein Schock aus Eis und Freiheit zugleich. Éva schrie, und László lachte, ein tiefes, erfülltes Lachen, das sie umarmte, wie die Wärme, die sie nicht erwartet hatte. Das Wasser umspielte sie, trug sie, und jeder Atemzug war ein kleiner Kampf, ein Triumph, ein Erwachen. Als sie wieder auftauchten, tropfte das Wasser von ihren Haaren und den Schultern, die Hände noch immer ineinander verschränkt. Das Lachen der Menschen um sie herum hallte wie Glocken über das Wasser, und in diesem Moment schien alles möglich: der Beginn eines neuen Jahres, der Beginn von etwas
Eigenem, zwischen zwei Menschen, die zufällig am Ufer standen und mutig genug waren, zu springen. Sie schwammen ans Ufer, zitternd, lachend, und fanden Plätze auf den bereitgestellten Decken. Die Wärme des Feuers, das am Ufer brannte, hüllte sie langsam ein. Während sie sich nebeneinander setzten, spürte Éva, wie das zarte Band zwischen ihnen wuchs – ein Band, das aus Mut, gemeinsamer Angst, Kälte und unverhoffter Nähe entstand. „Ich hätte nicht gedacht, dass…“, begann sie, doch László legte einen Finger auf ihre Lippen. „Ich auch nicht“, sagte er sanft. „Aber manchmal sind die besten
Dinge die, die man nicht erwartet.“ Die beiden sahen zu, wie die anderen weiter sprangen, wie Kinder kichernd aus dem Wasser stürzten, wie alte Damen applaudierten, die Männer lachten, und die Stadt erwachte langsam zum neuen Jahr. Jeder Sprung war ein kleines Abenteuer, jede Welle ein Versprechen, jede Begegnung ein Moment, der zählte. Und während Éva László ansah, wusste sie, dass dieses Bad nicht nur die Kälte des Winters vertrieben hatte, sondern auch die Vorsicht ihres Herzens – es hatte Raum geschaffen für etwas, das größer war als Angst, größer als Vorsicht, größer als sie selbst. Die Sonne stand inzwischen höher, doch
ihre Strahlen hatten keine Kraft. Sie glitten über die winterliche Stadt, zeichneten ein fahles Gold auf Dächer, Eiszapfen und das schimmernde Wasser. Der Dampf der Atemzüge vermischte sich mit dem Rauch des Holzfeuers, das am Ufer prasselte. Menschen drängten sich in Decken, tranken heißen Pálinka oder Tee, lachten, husteten, erzählten – und über allem lag das Gefühl, etwas Übermenschliches getan zu haben. Éva saß eingehüllt in eine grobe Wolldecke, ihre Haare noch feucht, aber ihr Blick lebendig. Neben ihr hockte László, barfuß, mit geröteten Wangen und einem Becher Tee in der Hand. Sein Lächeln war still, als würde er einen
Gedanken festhalten, der nicht entweichen durfte. „Du bist zum ersten Mal dabei?“ fragte er schließlich, und sie nickte. „Ich hab es mir jedes Jahr vorgenommen“, antwortete sie. „Aber ich war zu feige. Zu… vernünftig.“ „Und jetzt?“ Sie sah auf das Wasser hinaus, wo neue Gruppen zum Sprung ansetzten. Das Lachen hallte über die Donau, gemischt mit dem Kreischen der Möwen. „Jetzt fühle ich mich – lebendig. Als hätte ich mir selbst bewiesen, dass ich noch… etwas wagen kann.“ László nickte langsam. „So ist das mit der Donau. Sie nimmt uns das Zittern
und gibt uns etwas zurück, das man nicht erklären kann.“ „Du machst das jedes Jahr?“ „Seit zehn Jahren.“ Er grinste. „Aber nie so.“ Sein Blick blieb an ihr hängen, und für einen Moment war da dieses unsichtbare Ziehen zwischen ihnen, zart wie Atemluft und doch unübersehbar. „Ich kenne fast jeden hier“, fuhr er fort, um die Spannung zu brechen. „Da hinten ist Gábor, der Schmied – er springt jedes Jahr mit einem roten Hut. Und die Frau mit dem grauen Zopf, das ist Ilona. Sie sagt, die Donau wasche ihr jedes Jahr fünf Jahre Alter weg.“ Éva lachte, und das Geräusch war weich,
hell und rein. Sie liebte diesen Ton in sich selbst, dieses Aufblühen, das sie kaum wiedererkannte. „Und du?“ fragte sie. „Was wäscht dir die Donau fort?“ Er überlegte, schwenkte den Tee in der Tasse, sah dann zu ihr. „Erinnerungen. Oder vielleicht nur das, was sie zurücklassen. Ich hatte mal eine… schwierige Zeit. Aber jedes Mal, wenn ich springe, bleibt ein Stück davon zurück im Wasser.“ Éva schwieg, spürte plötzlich eine seltsame Ehrfurcht. Der Mann vor ihr war kein Fremder mehr, sondern jemand, der Kälte in Stärke verwandelt hatte. „Dann hast du heute etwas Gutes
zurückgelassen“, sagte sie leise. Er lächelte. „Und vielleicht auch etwas Neues gefunden.“ Zwischen ihnen lag die Stille des Flusses, durchbrochen von Jubelrufen und Lachen. Es war kein peinliches Schweigen, sondern ein ruhiges, wärmendes – wie ein gemeinsamer Atemzug. Später, als sie sich auf den kleinen Markt begaben, der am Rande des Ufers aufgebaut war, drängten sich die Gerüche von gebratenem Fisch, süßen Mandeln und Gewürzwein durch die kalte Luft. Überall standen Menschen, die lachten, redeten, tranken – als hätte niemand in der Stadt je an Müdigkeit
geglaubt. László führte sie durch die Menge, grüßte Bekannte, stellte Éva vor, als wären sie schon lange Freunde. Sie fühlte sich leicht – fast schwebend. Sie blieben an einem Stand stehen, wo ein alter Mann geröstete Kastanien verkaufte. „Die ersten des Jahres bringen Glück“, sagte er und lächelte zahnlos. László kaufte zwei Tüten, reichte ihr eine. „Dann teilen wir das Glück“, sagte er. Sie liefen weiter, die warme Kastanie in der Hand, während die Donau glitzerte wie ein Versprechen. Später, als die Sonne begann, sich über die Hügel am westlichen Ufer zu neigen,
schlenderten sie schweigend zurück. Das Feuer am Ufer war kleiner geworden, die Menschen hatten sich zerstreut. Nur die letzten Mutigen wagten noch Sprünge ins Abendlicht. Éva blieb stehen, sah den Wellen nach. „Es ist, als ob das Jahr in der Donau wohnt“, flüsterte sie. „Vielleicht tut es das“, sagte László. „Vielleicht ist das Wasser nur der Spiegel, in dem wir uns selbst neu sehen.“ Sie drehte sich zu ihm. „Und was siehst du?“ Er trat näher, so nah, dass sie den Duft seines Atems spürte – Rauch, Tee und ein Hauch Pfeffer. „Dich“, sagte er
schlicht. Ihr Herz schlug schneller, doch es war kein Erschrecken, sondern ein ruhiges, tiefes Wissen, dass dieser Augenblick wichtig war – vielleicht einer jener stillen Wendepunkte, an denen das Leben seine Richtung ändert. Sie standen da, während die Donau glitzerte und die Stadt Baja in das sanfte Blau des Abends sank. Über den Dächern stiegen Lichter auf, Kinder liefen mit Wunderkerzen, und irgendwo spielte jemand auf einer Geige eine Melodie, die von Sehnsucht und Wärme sprach. László streckte seine Hand aus, und Éva legte ihre hinein. Kein Versprechen, kein Wort, nur ein stilles Einverständnis: Das
neue Jahr hatte gerade erst begonnen. Als die Sonne hinter den Dächern der Stadt versank, verwandelte sich Baja in ein Meer aus glitzerndem Frost und flackerndem Licht. Laternen brannten entlang des Ufers, ihr Schein spiegelte sich im Wasser, das noch immer den Hauch der Menschen trug, die hineingesprungen waren. Der Tag des Neujahrsbades ging zu Ende, aber in der Luft hing noch das Knistern der Aufregung, das Echo von Lachen, das Flüstern von Geschichten, die neu begannen. Éva und László waren geblieben. Die meisten waren schon gegangen, eingehüllt in Decken, auf dem Weg nach
Hause zu warmen Stuben, doch sie beide wanderten am Fluss entlang, begleitet vom leisen Murmeln des Wassers. „Ich mag es, wenn die Stadt still wird“, sagte Éva. „Dann hört man, wie die Donau atmet.“ László nickte. „Sie erzählt Geschichten, weißt du? Von all den Menschen, die in ihr Mut gefunden haben.“ Sie gingen weiter, der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Die Luft war klar, und der Himmel über ihnen spannte sich in einem tiefen, winterlichen Blau. „Erzähl mir deine Geschichte“, bat Éva schließlich. Er blieb stehen. Ein Windstoß fuhr durch die kahlen Äste, ein feiner Nebel stieg
vom Fluss auf. „Ich war Musiker“, begann er leise. „Bis vor ein paar Jahren. Dann… kam der Unfall. Ein Autounfall auf dem Weg zu einem Konzert in Pécs. Ich habe überlebt, aber mein Freund, mein Geiger, nicht. Danach… klang alles still.“ Er sah ins Wasser, das ruhig und dunkel unter ihnen floss. „Ich habe das Neujahrsbad angefangen, um mich zu erinnern, dass ich noch lebe.“ Éva legte ihm sanft eine Hand auf den Arm. „Und heute?“ Er sah sie an, und in seinen Augen glomm etwas, das zugleich Schmerz und Frieden war. „Heute war das erste Mal, dass ich gesprungen bin, ohne an ihn zu
denken. Ich hab an dich gedacht.“ Ihre Finger suchten die seinen, und sie ließ sie dort, in jener stillen Selbstverständlichkeit, die mehr sagte als jedes Wort. „Ich bin Lehrerin“, sagte sie nach einer Weile. „In der kleinen Schule am Platz. Ich bringe Kindern bei, Buchstaben zu lieben. Aber irgendwann…“ – sie lächelte traurig – „…habe ich vergessen, meine eigenen Geschichten zu schreiben. Ich bin in den Alltag gefallen wie in ein kaltes Wasser, ohne je wieder aufzutauchen.“ „Bis heute“, flüsterte er. „Bis heute“, wiederholte sie. Sie gingen weiter, bis sie den kleinen
Platz erreichten, auf dem eine alte Bronze-Statue eines Fischers stand. Die Straßenlaternen warfen weiches Licht auf das Kopfsteinpflaster. Hier, in der stillen Mitte der Stadt, schien die Zeit zu verweilen. „Weißt du“, sagte László und drehte sich zu ihr, „ich glaube, jeder braucht einmal im Jahr diesen Sprung. Nicht unbedingt ins Wasser, aber in etwas Neues. In jemanden vielleicht.“ Éva trat näher, ihre Schritte kaum hörbar. „Und du glaubst, du bist gesprungen?“ „Ja“, sagte er schlicht. „Und ich hoffe, du auch.“ Sie standen sich gegenüber, so nah, dass die Kälte sich verlor. Ihre Atemzüge
mischten sich, der Wind spielte mit einer Strähne ihres Haares. Und dann, ohne Hast, neigte er sich vor, küsste sie. Kein stürmischer Kuss, kein Filmmoment – ein leiser, ehrlicher Kuss, so ruhig und tief wie die Donau selbst. Als sie sich lösten, lachte Éva leise. „Das Wasser war wärmer.“ „Dann müssen wir nächstes Jahr wieder springen“, antwortete er, und seine Augen funkelten. Sie blieben noch lange auf dem Platz, sprachen über Bücher, Musik, Träume, verloren geglaubte Wege. Über die Stadt, die im Winter schläft und doch voller Leben ist. Über Mut, der in kleinen Gesten wohnt. Über die Donau, die alles
verbindet. Irgendwann, als die Nacht ganz hereingebrochen war, gingen sie zurück zum Ufer. Das Wasser floss still, doch in seinem dunklen Glanz spiegelten sich die Sterne, als wollte die Donau die Geschichten der Menschen zurück an den Himmel tragen. László nahm Évas Hand, und sie gingen nebeneinander her. Nicht wie zwei Fremde, die sich zufällig getroffen hatten, sondern wie zwei Linien, die sich endlich kreuzten, um gemeinsam weiterzulaufen. Über ihnen zogen die Wolken fort, und das Jahr lag offen vor ihnen – still, ungeschrieben,
verheißungsvoll.
Und irgendwo, tief unter der Oberfläche, flüsterte die Donau ein uraltes Lied vom Neubeginn.