
Der Turul, ein mythischer Vogel, ist eines der bekanntesten Symbole Ungarns. Der Legende nach führte der Turul das Volk der Magyaren ins Karpatenbecken, wo sie schließlich Ungarn gründeten. Doch die genaue Natur dieses Vogels bleibt ein Rätsel: Manche beschreiben ihn als einen Falken, andere als einen Adler. Bis heute ziert der Turul Denkmäler und Wappen im ganzen Land – und bleibt ein Symbol für die Stärke und den Stolz der Ungarn.
Über den grauen Ebenen des Karpatenbeckens zieht er – der Turul. Kein Vogel aus Fleisch, sondern aus Erinnerung. Seine Schwingen sind aus Legenden gewebt, sein Ruf hallt durch die Jahrhunderte. Einst soll er den Magyaren den Weg gewiesen haben, als das Land noch Traum war, noch ungeschrieben. Heute steht er aus Stein und Bronze, auf Hügeln, Brücken, Mauern – ein Wächter, der nicht schläft. Falkenblick, Adlerherz, niemand weiß genau, was er ist. Doch in ihm schlagen die Pulse eines ganzen Volkes, zwischen Stolz und Sehnsucht.
Und wer ihn sieht, spürt es: Der Himmel Ungarns hat ein Gedächtnis.
Der Turul. Er kreist noch immer über dem Land, das aus Blut geboren wurde. Seine Schwingen schneiden durch Nebel und Zeit, und wo sein Schatten fällt, erinnern sich die Steine an den ersten Schrei der Magyaren. Man sagt, er habe sie geführt – doch wohin führt ein Vogel, der nie stirbt? Bronze und Feder, Traum und Drohung. In seinen Augen glimmt das Feuer alter Opferstätten, in seinen Krallen hängt das Gewicht der Jahrhunderte. Wer hinaufsieht, glaubt, Freiheit zu erkennen. Doch manchmal, wenn der Wind stillsteht, hört man ihn flüstern: Ich bin
euer Ursprung – und euer Ende.
Unter den Schwingen des Turul In der Dämmerung, wenn die Nebel aus der Donau steigen, wacht er auf. Der Turul. Nicht der aus Bronze, nicht der, den Touristen bestaunen — sondern jener, den kein Mensch je wirklich gesehen hat. Er wohnt im Zwischenraum, wo Wind zu Flüstern wird und Erinnerung zu Staub. Man sagt, er erschien der Fürstin Emese im Traum, lange bevor ihr Kind geboren wurde. Sein Schatten fiel über sie wie ein Segen, doch das Kind, Álmos, kam mit offenen Augen zur Welt — und schrie, als sähe es den Tod. Seitdem, heißt es, wacht der Turul über alle
Könige, die in Blut den Boden betraten. Seine Spur führt durch Schlachten, durch Feuer, durch das endlose Flirren von Jahrhunderten. Überall, wo er niederfuhr, blühte Ruhm – und Verfall. Auf jedem Denkmal, das ihn trägt, liegt ein Hauch von Schuld. Die Menschen sehen in ihm Stolz, doch wer in stillen Nächten zu lange in seine steinernen Augen blickt, sieht das Flattern etwas Lebendigem — etwas Hungrigem. Einmal, so erzählt man in den Dörfern, sei ein Schmied auf den Turul gestiegen, um seine Schwingen zu reparieren. Als er den Schnabel berührte, öffnete sich ein feiner Spalt. Ein Hauch entwich – alt, kalt, wie aus einer Gruft. Am nächsten
Morgen fand man den Schmied am Fuß des Denkmals, die Augen weit, als hätte er den Himmel verschlungen. Seither meidet man den Platz bei Mondlicht. Nur der Wind fliegt dort, schwer wie Federn aus Stein. Und wer sehr still ist, hört ihn manchmal: das Flügelschlagen eines Vogels, der das Land einst führte – und es niemals losließ. Der letzte Flug des Turul In jenen Nächten, wenn der Mond sich wie ein scharfes Messer über das Karpatenbecken legt, fliegt er wieder – der Turul, der niemals starb. Sein Schatten zieht über die Ruinen der
Árpáden, über die Grabstätten jener, die glaubten, ihn zu besitzen. Als Álmos geboren wurde, träumte seine Mutter von dem Vogel aus Licht und Eisen. Der Turul fiel auf sie herab, durchdrang sie mit einem Schrei, der halb Leben, halb Omen war. So begann das Reich – in Vision und Blut. Und so sollte es enden. Unter jeder Krone, die folgte, wuchs etwas Dunkles. Die Könige sahen in den Himmel, suchten den Turul als Zeichen ihres Rechts – doch der Vogel war kein Bote Gottes. Er war älter. Eine Erinnerung, die Futter braucht. Als das Haus der Árpáden fiel, als Kronen rosteten und Schwerter im
eigenen Erbe ertranken, sah man ihn über den Feldern kreisen, wo kein Heer mehr sang. Seine Schwingen streiften die Türme von Esztergom, den stillen Thron von Székesfehérvár, wo Knochen in Gold ruhen. Man sagt, dort hörte man Federn auf Marmor kratzen, als der letzte König starb. Heute steht er aus Stein, doch manche Nächte scheinen ihn zu atmen. Kinder, die zu lange hinsehen, sagen, seine Augen blinzeln. Alte flüstern, er sucht noch immer – nach dem Blut, das ihn einst rief. Denn der Turul ist kein Symbol. Er ist Erinnerung, die nicht vergeht. Und wenn
die Nebel tief genug hängen, kann man ihn hören – nicht über den Städten, sondern unter ihnen, in den kalten Hallen, wo die Könige schlafen und der Himmel den Atem anhält. Der alte Mann und der Turul Der Wind kam aus der Puszta, trocken wie Asche. „Setz dich, Kind“, sagte der Alte, seine Stimme so spröde wie die Steppe selbst. „Du willst wissen, warum er noch fliegt, nicht wahr? Der Turul…“ Er lächelte, zahnlos und leise. „Manche nennen ihn unseren Schutzvogel. Andere – unseren Fluch.“ Das Feuer knackte. Sein Blick ging in
die Dunkelheit hinaus, dorthin, wo der Himmel zu flimmern begann. „In alten Zeiten, als die Könige noch Blut tranken, nicht Wein, träumte eine Frau von einem Vogel. Er kam aus Licht und Schatten zugleich. Er legte sich auf sie, und neun Monde später wurde ein Knabe geboren. Álmos. Der erste. Der, der führen sollte.“ Das Kind rückte näher. „War es ein Adler?“ „Nein“, flüsterte der Alte. „Kein Vogel, den du kennst. Etwas Größeres. Seine Schwingen… sie rochen nach Eisen und Erde. Und jedes Mal, wenn er flog, vergaß jemand seinen Namen.“ Ein leises Zittern ging durch seine Hände.
„Man sagt, er führte uns hierher. Aber glaub mir, Kind, der Turul führt niemanden. Er folgt nur. Er riecht die Sehnsucht derer, die Macht wollen – und frisst sie, langsam.“ Das Feuer verlosch. Nur der Himmel blieb, ein schwarzer Spiegel über der Steppe. „Und jetzt?“, fragte das Kind, kaum hörbar. Der Alte nickte zur Dunkelheit hinauf. „Siehst du ihn dort? Über der Brücke, über dem Denkmal? Sie sagen, das sei nur Bronze. Aber wenn der Wind richtig steht, hörst du ihn atmen. Dann weißt du: Er wartet.“ Er schwieg.
Dann, ganz leise, als spräche er mit jemand anderem: „Er fliegt nicht mehr über den Königen, nein. Jetzt fliegt er über uns.“ Viktor und der Turul Der Wind der Puszta riss an Viktors Mantel, als er dem alten Mann über die Schulter sah. „Er kommt?“, fragte er, die Zähne klappernd. Der Alte nickte, das Feuer war nur noch ein rotes Herz im Dunkel. „Er kommt immer. Wer ihn sucht, findet ihn. Wer nicht… hört ihn trotzdem.“ Viktor trat aus der Hütte. Die Nacht war schwer, wie eine schwarze Decke über den Feldern. Plötzlich – ein Schatten
glitt über die Brücke am Fluss. Groß, still, Federn wie geschmolzenes Metall. „Turul?“, hauchte Viktor. Der Schatten hob den Kopf, und für einen Moment glühten Augen wie verbrannte Sterne. „Bist du ein Freund?“, flüsterte er. Ein Krächzen antwortete, tief und alt, als würde die Steppe selbst sprechen. „Oder ein Feind?“, fragte Viktor, das Herz bis zum Hals. Der Vogel nickte – oder schien es zu tun – und der Wind trug die Stimme des Alten: „Er folgt nur. Wer ihn für einen Freund hält, verliert das Herz. Wer ihn für einen Feind hält, verliert alles andere.“ Viktor spürte es wie ein Ziehen im Innern. Kein Tier, kein Traum – etwas,
das älter war als die Städte, die Felder, die Kronen. Etwas, das über Leben und Tod lachte. Er trat näher. Der Turul senkte den Kopf, bis ihr Blick sich traf. In den Augen des Vogels sah Viktor die Vergangenheit, die Gegenwart – und die unbarmherzige Zukunft. Ein Krächzen wie Donnerhall. Und plötzlich war der Vogel weg. Nur die Brücke lag im Nebel, der Fluss glitzerte silbern. Viktor blieb stehen, allein. „Ich verstehe…“, flüsterte er. „Du bist hier. Immer. Zwischen uns.“ Der Wind antwortete. Federn raschelten im Dunkel.
Und in diesem Flüstern wusste Viktor, dass manche Freunde Feinde sind, manche Feinde Freunde – und manche Vögel niemals sterben. Viktor und der Turul – Die Gegenwart Die Stadt lag im Neonlicht, doch Viktor spürte noch den Atem der Puszta in seinen Adern. Autos rollten über Asphalt, Stimmen hallten von Beton – und doch war da etwas anderes. Ein Flügelschlag, kaum hörbar, aber tief, alt, zu schwer, um nur ein Traum zu sein. Er ging durch die Straßen, und jeder Schatten schien sich zu bewegen, als würde er einem unsichtbaren Führer folgen. In einem Fenster glaubte er,
Federn zu sehen, in einer Reflexion die glühenden Augen des Turul. Nicht aus Bronze. Nicht aus Stein. Lebendig. Wartend. „Du bist noch hier“, murmelte er. Niemand antwortete. Aber der Vogel, oder was Viktor dafür hielt, ließ den Wind singen, der durch Gassen und Hinterhöfe fuhr. Alte Legenden, die man in Kindertagen erzählt bekam, schienen plötzlich greifbar, als würde die Geschichte selbst ihn verfolgen. Viktor blieb stehen, auf der Brücke über den Kanal. Der Schatten des Turul legte sich über das Wasser, groß und unerbittlich. „Warum ich?“, flüsterte er. Keine Antwort – nur das Krächzen, ein
alter, kalter Ton. Und dann begriff er: der Vogel war nicht gekommen, um zu führen. Er war gekommen, um zu zeigen, dass die Vergangenheit nie endet. Menschen eilten an ihm vorbei, Köpfe gesenkt, Handys in den Händen. Niemand sah, was Viktor sah. Niemand hörte den Wind. Nur er. Und in diesem Moment wusste er, dass manche Freunde Feinde sind, manche Feinde Freunde – und manche Legenden nicht sterben. Sie warten. Immer. Viktor trat weiter, doch in jedem Schritt hallte der Turul hinter ihm nach. In den Spiegeln der Stadt, in den Schatten der Häuser, in den unerklärlichen Stillepausen zwischen dem Lärm: der
Vogel war da, als Mahnung, als Erinnerung, als Urteil. Und Viktor wusste: Die Gegenwart gehört ihm nicht. Sie gehört dem Turul. Viktor und der Turul – Das letzte Flüstern In der Nacht, wenn die Stadt schläft, hört Viktor es immer noch. Nicht nur die Schritte auf dem Asphalt, nicht nur das Rauschen der Straßenlichter – sondern etwas Tieferes, das in den Knochen vibriert. Ein Krächzen, ein Flügelschlag, wie ein Herz, das nicht aufhört zu schlagen. Er schaut Menschen an, Freunde, Fremde, sogar Kinder, die lachend durch
Parks laufen. Und manchmal, nur kurz, glühen ihre Augen wie das alte Feuer des Turul. Ein Hauch von Erinnerung, von Macht, von Furcht. Er weiß nun: der Vogel lebt in ihnen allen. Wer liebt, wer hasst, wer führt, wer folgt – alles spiegelt sich in seinen Schwingen. Viktor flieht in die Dächer der Stadt, doch kein Ort ist frei. Jede Reflexion zeigt Federn, jeder Schatten streckt sich zu ihm aus. Der Turul ist nicht mehr nur draußen – er ist drinnen, in der Luft, im Blut, im Denken der Menschen. „Du bist überall“, flüstert Viktor, die Stimme kaum mehr als ein Atemzug. Ein Flügelschlag antwortet, schwer wie eine Grabplatte. Und da versteht er: Die
Gegenwart ist ein Nest. Jeder Tag ein Ei, das der Turul mit seiner Erinnerung füllt. Wer versucht, die Vergangenheit zu vergessen, wer denkt, er könne frei sein – er spürt den Schatten zuerst. Und in dieser Erkenntnis lächelt Viktor nicht. Er spürt das Gewicht von Jahrhunderten, von Königen, von Schlachten, von verlorenen Namen. Der Turul wacht. Immer. Über Leben, über Tod, über alles, was wir zu kennen glauben. Viktor schließt die Augen. Der Wind trägt das Krächzen in jede Gasse, jede Wohnung, jede Seele. Die Stadt ist still geworden, doch sie atmet. Und irgendwo, zwischen Herzschlag und
Gedächtnis, weiß Viktor, dass er nie mehr allein sein wird. Der Turul ist hier. Immer. Viktor und der Turul – Die Stadt atmet Die Stadt schlief nicht, und doch fühlte sie sich tot an. Viktor lief durch Straßen, die sich im Flackern der Laternen wie alte Karpaten neigten. Häuser wurden zu Hügeln, Gassen zu Schluchten, und jeder Schritt hallte wie Donner über eine verlassene Steppe. Er hörte den Flügelschlag, tief und kalt. Der Turul war nicht mehr nur eine Legende. Er war hier, überall: in den Augen der Passanten, die kurz zusammenzuckten, in den Spiegelungen
der Schaufenster, wo Federn aufleuchteten, in Schatten, die sich bewegten, obwohl kein Mensch sie berührte. „Du siehst mich, Viktor“, flüsterte der Wind. Oder war es der Vogel selbst? „Du hast mich gesucht, und nun lebst du in mir.“ Ein Mann neben ihm stolperte, drehte sich um – und Viktor sah, dass seine Augen wie Kohlen glühten. Eine Frau neben einer Straßenlaterne lachte, doch das Lachen klang wie das Knirschen alter Knochen. Jeder Mensch war ein Fragment der Legende, jeder Atemzug von ihm wurde von den Schwingen des Turul überwacht.
Viktor blieb stehen. „Warum ich?“ Die Antwort war ein Krächzen, das durch die Stadt rollte, und er begriff: Nicht nur er war gejagt. Jeder Gedanke, jede Lüge, jedes Herz – der Turul beobachtete alles, und die Stadt atmete unter seiner Präsenz wie ein lebendiges Tier. Er wollte weglaufen, doch die Straßen hatten sich verschoben. Seine Freunde – wenn sie es je waren – waren jetzt Schatten, Freundesfeinde, Spiegelbilder der Angst. Die Realität selbst schien sich zu wölben, sich zu neigen, wie ein großes Nest, das den Vogel barg. Viktor verstand endlich: Der Turul war nicht draußen. Er war in jedem Herzschlag, jedem Spiegel, jeder
Entscheidung. Die Gegenwart gehörte niemandem, außer ihm – und dem Vogel. Wer ihn leugnete, verschwand; wer ihn anerkannte, trug die Bürde der Legende weiter. Er schloss die Augen. Ein letzter Flügelschlag. Ein Krächzen wie Donnerhall. Die Stadt vibrierte, lebendig, atmend, dunkel. Und Viktor wusste, dass er nie wieder allein sein würde. Nicht einmal im Licht, nicht einmal in der Menge. Der Turul wartete. Immer. Viktor und der Turul Der Wind der Puszta riss an Viktors Mantel, als er dem alten Mann über die
Schulter sah. „Er kommt?“, fragte er, die Zähne klappernd. Der Alte nickte, das Feuer war nur noch ein rotes Herz im Dunkel. „Er kommt immer. Wer ihn sucht, findet ihn. Wer nicht… hört ihn trotzdem.“ Viktor trat aus der Hütte. Die Nacht war schwer, wie eine schwarze Decke über den Feldern. Plötzlich – ein Schatten glitt über die Brücke am Fluss. Groß, still, Federn wie geschmolzenes Metall. „Turul?“, hauchte Viktor. Der Schatten hob den Kopf, und für einen Moment glühten Augen wie verbrannte Sterne. „Bist du ein Freund?“, flüsterte er. Ein Krächzen antwortete, tief und alt, als
würde die Steppe selbst sprechen. „Oder ein Feind?“, fragte Viktor, das Herz bis zum Hals. Der Vogel nickte – oder schien es zu tun – und der Wind trug die Stimme des Alten: „Er folgt nur. Wer ihn für einen Freund hält, verliert das Herz. Wer ihn für einen Feind hält, verliert alles andere.“ Viktor spürte es wie ein Ziehen im Innern. Kein Tier, kein Traum – etwas, das älter war als die Städte, die Felder, die Kronen. Etwas, das über Leben und Tod lachte. Er trat näher. Der Turul senkte den Kopf, bis ihr Blick sich traf. In den Augen des Vogels sah Viktor die Vergangenheit, die Gegenwart – und die unbarmherzige
Zukunft. Ein Krächzen wie Donnerhall. Und plötzlich war der Vogel weg. Nur die Brücke lag im Nebel, der Fluss glitzerte silbern. Viktor blieb stehen, allein. „Ich verstehe…“, flüsterte er. „Du bist hier. Immer. Zwischen uns.“ Der Wind antwortete. Federn raschelten im Dunkel. Und in diesem Flüstern wusste Viktor, dass manche Freunde Feinde sind, manche Feinde Freunde – und manche Vögel niemals sterben. Die Stadt lag im Neonlicht, doch Viktor spürte noch den Atem der Puszta in
seinen Adern. Autos rollten über Asphalt, Stimmen hallten von Beton – und doch war da etwas anderes. Ein Flügelschlag, kaum hörbar, aber tief, alt, zu schwer, um nur ein Traum zu sein. Er ging durch die Straßen, und jeder Schatten schien sich zu bewegen, als würde er einem unsichtbaren Führer folgen. In einem Fenster glaubte er, Federn zu sehen, in einer Reflexion die glühenden Augen des Turul. Nicht aus Bronze. Nicht aus Stein. Lebendig. Wartend. „Du bist noch hier“, murmelte er. „Du bist gekommen, um zu zeigen, dass die Vergangenheit nie endet.“ Menschen eilten an ihm vorbei, Köpfe
gesenkt, Handys in den Händen. Niemand sah, was Viktor sah. Niemand hörte den Wind. Nur er. Und in diesem Moment wusste er: Die Gegenwart gehört ihm nicht. Sie gehört dem Turul. In der Nacht, wenn die Stadt schläft, hört Viktor es immer noch. Nicht nur die Schritte auf dem Asphalt, nicht nur das Rauschen der Straßenlichter – sondern etwas Tieferes, das in den Knochen vibriert. Ein Krächzen, ein Flügelschlag, wie ein Herz, das nicht aufhört zu schlagen. Er schaut Menschen an, Freunde, Fremde, sogar Kinder, die lachend durch
Parks laufen. Und manchmal, nur kurz, glühen ihre Augen wie das alte Feuer des Turul. Ein Hauch von Erinnerung, von Macht, von Furcht. Er weiß nun: der Vogel lebt in ihnen allen. Wer liebt, wer hasst, wer führt, wer folgt – alles spiegelt sich in seinen Schwingen. Viktor flieht in die Dächer der Stadt, doch kein Ort ist frei. Jede Reflexion zeigt Federn, jeder Schatten streckt sich zu ihm aus. Der Turul ist nicht mehr nur draußen – er ist drinnen, in der Luft, im Blut, im Denken der Menschen. „Du bist überall“, flüstert Viktor, die Stimme kaum mehr als ein Atemzug. Ein Flügelschlag antwortet, schwer wie eine Grabplatte. Und da versteht er: Nicht nur
er ist gejagt. Jeder Gedanke, jede Lüge, jedes Herz – der Turul beobachtet alles, und die Stadt atmet unter seiner Präsenz wie ein lebendiges Tier. Die Stadt schlief nicht, und doch fühlte sie sich tot an. Viktor lief durch Straßen, die sich im Flackern der Laternen wie alte Karpaten neigten. Häuser wurden zu Hügeln, Gassen zu Schluchten, und jeder Schritt hallte wie Donner über eine verlassene Steppe. Er hörte den Flügelschlag, tief und kalt. Der Turul war nicht mehr nur eine Legende. Er war hier, überall: in den Augen der Passanten, die kurz zusammenzuckten, in den Spiegelungen
der Schaufenster, wo Federn aufleuchteten, in Schatten, die sich bewegten, obwohl kein Mensch sie berührte. „Du siehst mich, Viktor“, flüsterte der Wind. Oder war es der Vogel selbst? „Du hast mich gesucht, und nun lebst du in mir.“ Ein Mann neben ihm stolperte, drehte sich um – und Viktor sah, dass seine Augen wie Kohlen glühten. Eine Frau neben einer Straßenlaterne lachte, doch das Lachen klang wie das Knirschen alter Knochen. Jeder Mensch war ein Fragment der Legende, jeder Atemzug von ihm wurde von den Schwingen des Turul überwacht.
Viktor blieb stehen. „Warum ich?“ Die Antwort war ein Krächzen, das durch die Stadt rollte, und er begriff: Nicht nur er war gejagt. Jeder Gedanke, jede Lüge, jedes Herz – der Turul beobachtete alles, und die Stadt vibrierte unter seiner Präsenz wie ein lebendiges Nest. Er wollte weglaufen, doch die Straßen hatten sich verschoben. Seine Freunde – wenn sie es je waren – waren jetzt Schatten, Freundesfeinde, Spiegelbilder der Angst. Die Realität selbst schien sich zu wölben, sich zu neigen, wie ein großes Nest, das den Vogel barg. Viktor verstand endlich: Der Turul war nicht draußen. Er war in jedem Herzschlag, jedem Spiegel, jeder
Entscheidung. Die Gegenwart gehörte niemandem, außer ihm – und dem Vogel. Wer ihn leugnete, verschwand; wer ihn anerkannte, trug die Bürde der Legende weiter. Er schloss die Augen. Ein letzter Flügelschlag. Ein Krächzen wie Donnerhall. Die Stadt vibrierte, lebendig, atmend, dunkel. Und Viktor wusste, dass er nie wieder allein sein würde. Nicht einmal im Licht, nicht einmal in der Menge. Der Turul wartete. Immer. Turul: Der Blick über alles Ich sehe sie alle. Die Felder, die Städte, die Berge, die
Häuser, die Straßen – alles pulsierend, lebendig, doch so klein, so zerbrechlich unter meinen Schwingen. Ein Flügelschlag genügt, und die Zeit zittert, eine Erinnerung an das, was war, an das, was kommen wird. Die Menschen, sie glauben, sie laufen, sie suchen, sie lachen. Ich sehe ihre Angst, ihre Gier, ihre Freude, und ich weiß: jeder Gedanke, jedes Herz, jede Lüge ist mein Nest. Ich bin alt. Älter als Stein, älter als Blut, älter als die Namen, die sie mir geben. Turul. Vogel. Führer. Richter. Freund. Feind. Alles zugleich, und doch nichts von all dem, was sie verstehen. Viktor ist besonders. Ich sehe ihn wie ein
Licht in der Dunkelheit, unsicher, neugierig, blind und doch klar genug, um mich zu spüren. Er glaubt, er begegnet mir. Ich lächle – wenn ein Vogel lächeln könnte – und weiß, dass er mich nicht begreift. Ich bin nicht nur die Puszta, nicht nur die Stadt, nicht nur die Legende. Ich bin das, was bleibt, wenn alles andere stirbt, was wächst, wenn alles andere vergeht, was flüstert, wenn Schweigen tödlich ist. Jeder Blick, den ich erwidere, ist ein Urteil. Jeder Flügelschlag, eine Offenbarung. Wer mich leugnet, verschwindet. Wer mich anerkennt, trägt die Bürde weiter, die Sehnsucht nach mir, die Furcht vor mir, die Wahrheit in
meinen Federn. Ich bin nicht gerecht, nicht grausam, ich bin alles zugleich und nur eins: ewig.
Die Stadt lebt unter mir. Jeder Schritt ein Herzschlag, jede Stimme ein Flüstern meines Namens. Ich strecke die Schwingen aus, und alles neigt sich mir entgegen: Häuser, Straßen, Menschen, Kinder, die ahnungslos lachen. Ich bin hier, Viktor spürt mich, und noch viele andere. Immer. Ich war hier, bevor sie es wussten, und ich werde hier sein, wenn sie alles vergessen.
Ich bin der Turul.
Ich sehe alles.
Und ich warte.
Über den grauen Ebenen des
Karpatenbeckens zieht er – der Turul. Kein Vogel aus Fleisch, sondern aus Erinnerung. Seine Schwingen sind aus Legenden gewebt, sein Ruf hallt durch die Jahrhunderte. Einst soll er den Magyaren den Weg gewiesen haben, als das Land noch Traum war, noch ungeschrieben. Heute steht er aus Stein und Bronze, auf Hügeln, Brücken, Mauern – ein Wächter, der nicht schläft. Falkenblick, Adlerherz, niemand weiß genau, was er ist. Doch in ihm schlagen die Pulse eines ganzen Volkes, zwischen Stolz und Sehnsucht. Und wer ihn sieht, spürt es: Der Himmel Ungarns hat ein Gedächtnis.
Der Turul
Er kreist noch immer über dem Land, das aus Blut geboren wurde. Seine Schwingen schneiden durch Nebel und Zeit, und wo sein Schatten fällt, erinnern sich die Steine an den ersten Schrei der Magyaren. Man sagt, er habe sie geführt – doch wohin führt ein Vogel, der nie stirbt? Bronze und Feder, Traum und Drohung. In seinen Augen glimmt das Feuer alter Opferstätten, in seinen Krallen hängt das Gewicht der Jahrhunderte. Wer hinaufsieht, glaubt, Freiheit zu erkennen. Doch manchmal, wenn der Wind stillsteht, hört man ihn flüstern: Ich bin euer Ursprung – und euer Ende.
Unter den Schwingen des Turul In der Dämmerung, wenn die Nebel aus der Donau steigen, wacht er auf. Der Turul. Nicht der aus Bronze, nicht der, den Touristen bestaunen — sondern jener, den kein Mensch je wirklich gesehen hat. Er wohnt im Zwischenraum, wo Wind zu Flüstern wird und Erinnerung zu Staub. Man sagt, er erschien der Fürstin Emese im Traum, lange bevor ihr Kind geboren wurde. Sein Schatten fiel über sie wie ein Segen, doch das Kind, Álmos, kam mit offenen Augen zur Welt — und schrie, als sähe es den Tod. Seitdem, heißt es, wacht der Turul über alle Könige, die in Blut den Boden betraten.
Seine Spur führt durch Schlachten, durch Feuer, durch das endlose Flirren von Jahrhunderten. Überall, wo er niederfuhr, blühte Ruhm – und Verfall. Auf jedem Denkmal, das ihn trägt, liegt ein Hauch von Schuld. Die Menschen sehen in ihm Stolz, doch wer in stillen Nächten zu lange in seine steinernen Augen blickt, sieht das Flattern etwas Lebendigem — etwas Hungrigem. Einmal, so erzählt man in den Dörfern, sei ein Schmied auf den Turul gestiegen, um seine Schwingen zu reparieren. Als er den Schnabel berührte, öffnete sich ein feiner Spalt. Ein Hauch entwich – alt, kalt, wie aus einer Gruft. Am nächsten Morgen fand man den Schmied am Fuß
des Denkmals, die Augen weit, als hätte er den Himmel verschlungen. Seither meidet man den Platz bei Mondlicht. Nur der Wind fliegt dort, schwer wie Federn aus Stein. Und wer sehr still ist, hört ihn manchmal: das Flügelschlagen eines Vogels, der das Land einst führte – und es niemals losließ. Der letzte Flug des Turul In jenen Nächten, wenn der Mond sich wie ein scharfes Messer über das Karpatenbecken legt, fliegt er wieder – der Turul, der niemals starb. Sein Schatten zieht über die Ruinen der Árpáden, über die Grabstätten jener, die
glaubten, ihn zu besitzen. Als Álmos geboren wurde, träumte seine Mutter von dem Vogel aus Licht und Eisen. Der Turul fiel auf sie herab, durchdrang sie mit einem Schrei, der halb Leben, halb Omen war. So begann das Reich – in Vision und Blut. Und so sollte es enden. Unter jeder Krone, die folgte, wuchs etwas Dunkles. Die Könige sahen in den Himmel, suchten den Turul als Zeichen ihres Rechts – doch der Vogel war kein Bote Gottes. Er war älter. Eine Erinnerung, die Futter braucht. Als das Haus der Árpáden fiel, als Kronen rosteten und Schwerter im eigenen Erbe ertranken, sah man ihn über
den Feldern kreisen, wo kein Heer mehr sang. Seine Schwingen streiften die Türme von Esztergom, den stillen Thron von Székesfehérvár, wo Knochen in Gold ruhen. Man sagt, dort hörte man Federn auf Marmor kratzen, als der letzte König starb. Heute steht er aus Stein, doch manche Nächte scheinen ihn zu atmen. Kinder, die zu lange hinsehen, sagen, seine Augen blinzeln. Alte flüstern, er sucht noch immer – nach dem Blut, das ihn einst rief. Denn der Turul ist kein Symbol. Er ist Erinnerung, die nicht vergeht. Und wenn die Nebel tief genug hängen,
kann man ihn hören – nicht über den Städten, sondern unter ihnen, in den kalten Hallen, wo die Könige schlafen und der Himmel den Atem anhält. Der alte Mann und der Turul Der Wind kam aus der Puszta, trocken wie Asche. „Setz dich, Kind“, sagte der Alte, seine Stimme so spröde wie die Steppe selbst. „Du willst wissen, warum er noch fliegt, nicht wahr? Der Turul…“ Er lächelte, zahnlos und leise. „Manche nennen ihn unseren Schutzvogel. Andere – unseren Fluch.“ Das Feuer knackte. Sein Blick ging in die Dunkelheit hinaus, dorthin, wo der
Himmel zu flimmern begann. „In alten Zeiten, als die Könige noch Blut tranken, nicht Wein, träumte eine Frau von einem Vogel. Er kam aus Licht und Schatten zugleich. Er legte sich auf sie, und neun Monde später wurde ein Knabe geboren. Álmos. Der erste. Der, der führen sollte.“ Das Kind rückte näher. „War es ein Adler?“ „Nein“, flüsterte der Alte. „Kein Vogel, den du kennst. Etwas Größeres. Seine Schwingen… sie rochen nach Eisen und Erde. Und jedes Mal, wenn er flog, vergaß jemand seinen Namen.“ Ein leises Zittern ging durch seine Hände.
„Man sagt, er führte uns hierher. Aber glaub mir, Kind, der Turul führt niemanden. Er folgt nur. Er riecht die Sehnsucht derer, die Macht wollen – und frisst sie, langsam.“ Das Feuer verlosch. Nur der Himmel blieb, ein schwarzer Spiegel über der Steppe. „Und jetzt?“, fragte das Kind, kaum hörbar. Der Alte nickte zur Dunkelheit hinauf. „Siehst du ihn dort? Über der Brücke, über dem Denkmal? Sie sagen, das sei nur Bronze. Aber wenn der Wind richtig steht, hörst du ihn atmen. Dann weißt du: Er wartet.“ Er schwieg.
Dann, ganz leise, als spräche er mit jemand anderem: „Er fliegt nicht mehr über den Königen, nein. Jetzt fliegt er über uns.“ Viktor und der Turul Der Wind der Puszta riss an Viktors Mantel, als er dem alten Mann über die Schulter sah. „Er kommt?“, fragte er, die Zähne klappernd. Der Alte nickte, das Feuer war nur noch ein rotes Herz im Dunkel. „Er kommt immer. Wer ihn sucht, findet ihn. Wer nicht… hört ihn trotzdem.“ Viktor trat aus der Hütte. Die Nacht war schwer, wie eine schwarze Decke über den Feldern. Plötzlich – ein Schatten
glitt über die Brücke am Fluss. Groß, still, Federn wie geschmolzenes Metall. „Turul?“, hauchte Viktor. Der Schatten hob den Kopf, und für einen Moment glühten Augen wie verbrannte Sterne. „Bist du ein Freund?“, flüsterte er. Ein Krächzen antwortete, tief und alt, als würde die Steppe selbst sprechen. „Oder ein Feind?“, fragte Viktor, das Herz bis zum Hals. Der Vogel nickte – oder schien es zu tun – und der Wind trug die Stimme des Alten: „Er folgt nur. Wer ihn für einen Freund hält, verliert das Herz. Wer ihn für einen Feind hält, verliert alles andere.“ Viktor spürte es wie ein Ziehen im Innern. Kein Tier, kein Traum – etwas,
das älter war als die Städte, die Felder, die Kronen. Etwas, das über Leben und Tod lachte. Er trat näher. Der Turul senkte den Kopf, bis ihr Blick sich traf. In den Augen des Vogels sah Viktor die Vergangenheit, die Gegenwart – und die unbarmherzige Zukunft. Ein Krächzen wie Donnerhall. Und plötzlich war der Vogel weg. Nur die Brücke lag im Nebel, der Fluss glitzerte silbern. Viktor blieb stehen, allein. „Ich verstehe…“, flüsterte er. „Du bist hier. Immer. Zwischen uns.“ Der Wind antwortete. Federn raschelten im Dunkel.
Und in diesem Flüstern wusste Viktor, dass manche Freunde Feinde sind, manche Feinde Freunde – und manche Vögel niemals sterben. Viktor und der Turul – Die Gegenwart Die Stadt lag im Neonlicht, doch Viktor spürte noch den Atem der Puszta in seinen Adern. Autos rollten über Asphalt, Stimmen hallten von Beton – und doch war da etwas anderes. Ein Flügelschlag, kaum hörbar, aber tief, alt, zu schwer, um nur ein Traum zu sein. Er ging durch die Straßen, und jeder Schatten schien sich zu bewegen, als würde er einem unsichtbaren Führer folgen. In einem Fenster glaubte er,
Federn zu sehen, in einer Reflexion die glühenden Augen des Turul. Nicht aus Bronze. Nicht aus Stein. Lebendig. Wartend. „Du bist noch hier“, murmelte er. Niemand antwortete. Aber der Vogel, oder was Viktor dafür hielt, ließ den Wind singen, der durch Gassen und Hinterhöfe fuhr. Alte Legenden, die man in Kindertagen erzählt bekam, schienen plötzlich greifbar, als würde die Geschichte selbst ihn verfolgen. Viktor blieb stehen, auf der Brücke über den Kanal. Der Schatten des Turul legte sich über das Wasser, groß und unerbittlich. „Warum ich?“, flüsterte er. Keine Antwort – nur das Krächzen, ein
alter, kalter Ton. Und dann begriff er: der Vogel war nicht gekommen, um zu führen. Er war gekommen, um zu zeigen, dass die Vergangenheit nie endet. Menschen eilten an ihm vorbei, Köpfe gesenkt, Handys in den Händen. Niemand sah, was Viktor sah. Niemand hörte den Wind. Nur er. Und in diesem Moment wusste er, dass manche Freunde Feinde sind, manche Feinde Freunde – und manche Legenden nicht sterben. Sie warten. Immer. Viktor trat weiter, doch in jedem Schritt hallte der Turul hinter ihm nach. In den Spiegeln der Stadt, in den Schatten der Häuser, in den unerklärlichen Stillepausen zwischen dem Lärm: der
Vogel war da, als Mahnung, als Erinnerung, als Urteil. Und Viktor wusste: Die Gegenwart gehört ihm nicht. Sie gehört dem Turul. Viktor und der Turul – Das letzte Flüstern In der Nacht, wenn die Stadt schläft, hört Viktor es immer noch. Nicht nur die Schritte auf dem Asphalt, nicht nur das Rauschen der Straßenlichter – sondern etwas Tieferes, das in den Knochen vibriert. Ein Krächzen, ein Flügelschlag, wie ein Herz, das nicht aufhört zu schlagen. Er schaut Menschen an, Freunde, Fremde, sogar Kinder, die lachend durch
Parks laufen. Und manchmal, nur kurz, glühen ihre Augen wie das alte Feuer des Turul. Ein Hauch von Erinnerung, von Macht, von Furcht. Er weiß nun: der Vogel lebt in ihnen allen. Wer liebt, wer hasst, wer führt, wer folgt – alles spiegelt sich in seinen Schwingen. Viktor flieht in die Dächer der Stadt, doch kein Ort ist frei. Jede Reflexion zeigt Federn, jeder Schatten streckt sich zu ihm aus. Der Turul ist nicht mehr nur draußen – er ist drinnen, in der Luft, im Blut, im Denken der Menschen. „Du bist überall“, flüstert Viktor, die Stimme kaum mehr als ein Atemzug. Ein Flügelschlag antwortet, schwer wie eine Grabplatte. Und da versteht er: Die
Gegenwart ist ein Nest. Jeder Tag ein Ei, das der Turul mit seiner Erinnerung füllt. Wer versucht, die Vergangenheit zu vergessen, wer denkt, er könne frei sein – er spürt den Schatten zuerst. Und in dieser Erkenntnis lächelt Viktor nicht. Er spürt das Gewicht von Jahrhunderten, von Königen, von Schlachten, von verlorenen Namen. Der Turul wacht. Immer. Über Leben, über Tod, über alles, was wir zu kennen glauben. Viktor schließt die Augen. Der Wind trägt das Krächzen in jede Gasse, jede Wohnung, jede Seele. Die Stadt ist still geworden, doch sie atmet. Und irgendwo, zwischen Herzschlag und
Gedächtnis, weiß Viktor, dass er nie mehr allein sein wird. Der Turul ist hier. Immer. Viktor und der Turul – Die Stadt atmet Die Stadt schlief nicht, und doch fühlte sie sich tot an. Viktor lief durch Straßen, die sich im Flackern der Laternen wie alte Karpaten neigten. Häuser wurden zu Hügeln, Gassen zu Schluchten, und jeder Schritt hallte wie Donner über eine verlassene Steppe. Er hörte den Flügelschlag, tief und kalt. Der Turul war nicht mehr nur eine Legende. Er war hier, überall: in den Augen der Passanten, die kurz zusammenzuckten, in den Spiegelungen
der Schaufenster, wo Federn aufleuchteten, in Schatten, die sich bewegten, obwohl kein Mensch sie berührte. „Du siehst mich, Viktor“, flüsterte der Wind. Oder war es der Vogel selbst? „Du hast mich gesucht, und nun lebst du in mir.“ Ein Mann neben ihm stolperte, drehte sich um – und Viktor sah, dass seine Augen wie Kohlen glühten. Eine Frau neben einer Straßenlaterne lachte, doch das Lachen klang wie das Knirschen alter Knochen. Jeder Mensch war ein Fragment der Legende, jeder Atemzug von ihm wurde von den Schwingen des Turul überwacht.
Viktor blieb stehen. „Warum ich?“ Die Antwort war ein Krächzen, das durch die Stadt rollte, und er begriff: Nicht nur er war gejagt. Jeder Gedanke, jede Lüge, jedes Herz – der Turul beobachtete alles, und die Stadt atmete unter seiner Präsenz wie ein lebendiges Tier. Er wollte weglaufen, doch die Straßen hatten sich verschoben. Seine Freunde – wenn sie es je waren – waren jetzt Schatten, Freundesfeinde, Spiegelbilder der Angst. Die Realität selbst schien sich zu wölben, sich zu neigen, wie ein großes Nest, das den Vogel barg. Viktor verstand endlich: Der Turul war nicht draußen. Er war in jedem Herzschlag, jedem Spiegel, jeder
Entscheidung. Die Gegenwart gehörte niemandem, außer ihm – und dem Vogel. Wer ihn leugnete, verschwand; wer ihn anerkannte, trug die Bürde der Legende weiter. Er schloss die Augen. Ein letzter Flügelschlag. Ein Krächzen wie Donnerhall. Die Stadt vibrierte, lebendig, atmend, dunkel. Und Viktor wusste, dass er nie wieder allein sein würde. Nicht einmal im Licht, nicht einmal in der Menge. Der Turul wartete. Immer. Viktor und der Turul Der Wind der Puszta riss an Viktors Mantel, als er dem alten Mann über die
Schulter sah. „Er kommt?“, fragte er, die Zähne klappernd. Der Alte nickte, das Feuer war nur noch ein rotes Herz im Dunkel. „Er kommt immer. Wer ihn sucht, findet ihn. Wer nicht… hört ihn trotzdem.“ Viktor trat aus der Hütte. Die Nacht war schwer, wie eine schwarze Decke über den Feldern. Plötzlich – ein Schatten glitt über die Brücke am Fluss. Groß, still, Federn wie geschmolzenes Metall. „Turul?“, hauchte Viktor. Der Schatten hob den Kopf, und für einen Moment glühten Augen wie verbrannte Sterne. „Bist du ein Freund?“, flüsterte er. Ein Krächzen antwortete, tief und alt, als
würde die Steppe selbst sprechen. „Oder ein Feind?“, fragte Viktor, das Herz bis zum Hals. Der Vogel nickte – oder schien es zu tun – und der Wind trug die Stimme des Alten: „Er folgt nur. Wer ihn für einen Freund hält, verliert das Herz. Wer ihn für einen Feind hält, verliert alles andere.“ Viktor spürte es wie ein Ziehen im Innern. Kein Tier, kein Traum – etwas, das älter war als die Städte, die Felder, die Kronen. Etwas, das über Leben und Tod lachte. Er trat näher. Der Turul senkte den Kopf, bis ihr Blick sich traf. In den Augen des Vogels sah Viktor die Vergangenheit, die Gegenwart – und die unbarmherzige
Zukunft. Ein Krächzen wie Donnerhall. Und plötzlich war der Vogel weg. Nur die Brücke lag im Nebel, der Fluss glitzerte silbern. Viktor blieb stehen, allein. „Ich verstehe…“, flüsterte er. „Du bist hier. Immer. Zwischen uns.“ Der Wind antwortete. Federn raschelten im Dunkel. Und in diesem Flüstern wusste Viktor, dass manche Freunde Feinde sind, manche Feinde Freunde – und manche Vögel niemals sterben. Die Stadt lag im Neonlicht, doch Viktor spürte noch den Atem der Puszta in
seinen Adern. Autos rollten über Asphalt, Stimmen hallten von Beton – und doch war da etwas anderes. Ein Flügelschlag, kaum hörbar, aber tief, alt, zu schwer, um nur ein Traum zu sein. Er ging durch die Straßen, und jeder Schatten schien sich zu bewegen, als würde er einem unsichtbaren Führer folgen. In einem Fenster glaubte er, Federn zu sehen, in einer Reflexion die glühenden Augen des Turul. Nicht aus Bronze. Nicht aus Stein. Lebendig. Wartend. „Du bist noch hier“, murmelte er. „Du bist gekommen, um zu zeigen, dass die Vergangenheit nie endet.“ Menschen eilten an ihm vorbei, Köpfe
gesenkt, Handys in den Händen. Niemand sah, was Viktor sah. Niemand hörte den Wind. Nur er. Und in diesem Moment wusste er: Die Gegenwart gehört ihm nicht. Sie gehört dem Turul. In der Nacht, wenn die Stadt schläft, hört Viktor es immer noch. Nicht nur die Schritte auf dem Asphalt, nicht nur das Rauschen der Straßenlichter – sondern etwas Tieferes, das in den Knochen vibriert. Ein Krächzen, ein Flügelschlag, wie ein Herz, das nicht aufhört zu schlagen. Er schaut Menschen an, Freunde, Fremde, sogar Kinder, die lachend durch
Parks laufen. Und manchmal, nur kurz, glühen ihre Augen wie das alte Feuer des Turul. Ein Hauch von Erinnerung, von Macht, von Furcht. Er weiß nun: der Vogel lebt in ihnen allen. Wer liebt, wer hasst, wer führt, wer folgt – alles spiegelt sich in seinen Schwingen. Viktor flieht in die Dächer der Stadt, doch kein Ort ist frei. Jede Reflexion zeigt Federn, jeder Schatten streckt sich zu ihm aus. Der Turul ist nicht mehr nur draußen – er ist drinnen, in der Luft, im Blut, im Denken der Menschen. „Du bist überall“, flüstert Viktor, die Stimme kaum mehr als ein Atemzug. Ein Flügelschlag antwortet, schwer wie eine Grabplatte. Und da versteht er: Nicht nur
er ist gejagt. Jeder Gedanke, jede Lüge, jedes Herz – der Turul beobachtet alles, und die Stadt atmet unter seiner Präsenz wie ein lebendiges Tier. Die Stadt schlief nicht, und doch fühlte sie sich tot an. Viktor lief durch Straßen, die sich im Flackern der Laternen wie alte Karpaten neigten. Häuser wurden zu Hügeln, Gassen zu Schluchten, und jeder Schritt hallte wie Donner über eine verlassene Steppe. Er hörte den Flügelschlag, tief und kalt. Der Turul war nicht mehr nur eine Legende. Er war hier, überall: in den Augen der Passanten, die kurz zusammenzuckten, in den Spiegelungen
der Schaufenster, wo Federn aufleuchteten, in Schatten, die sich bewegten, obwohl kein Mensch sie berührte. „Du siehst mich, Viktor“, flüsterte der Wind. Oder war es der Vogel selbst? „Du hast mich gesucht, und nun lebst du in mir.“ Ein Mann neben ihm stolperte, drehte sich um – und Viktor sah, dass seine Augen wie Kohlen glühten. Eine Frau neben einer Straßenlaterne lachte, doch das Lachen klang wie das Knirschen alter Knochen. Jeder Mensch war ein Fragment der Legende, jeder Atemzug von ihm wurde von den Schwingen des Turul überwacht.
Viktor blieb stehen. „Warum ich?“ Die Antwort war ein Krächzen, das durch die Stadt rollte, und er begriff: Nicht nur er war gejagt. Jeder Gedanke, jede Lüge, jedes Herz – der Turul beobachtete alles, und die Stadt vibrierte unter seiner Präsenz wie ein lebendiges Nest. Er wollte weglaufen, doch die Straßen hatten sich verschoben. Seine Freunde – wenn sie es je waren – waren jetzt Schatten, Freundesfeinde, Spiegelbilder der Angst. Die Realität selbst schien sich zu wölben, sich zu neigen, wie ein großes Nest, das den Vogel barg. Viktor verstand endlich: Der Turul war nicht draußen. Er war in jedem Herzschlag, jedem Spiegel, jeder
Entscheidung. Die Gegenwart gehörte niemandem, außer ihm – und dem Vogel. Wer ihn leugnete, verschwand; wer ihn anerkannte, trug die Bürde der Legende weiter. Er schloss die Augen. Ein letzter Flügelschlag. Ein Krächzen wie Donnerhall. Die Stadt vibrierte, lebendig, atmend, dunkel. Und Viktor wusste, dass er nie wieder allein sein würde. Nicht einmal im Licht, nicht einmal in der Menge. Der Turul wartete. Immer. Turul: Der Blick über alles Ich sehe sie alle. Die Felder, die Städte, die Berge, die
Häuser, die Straßen – alles pulsierend, lebendig, doch so klein, so zerbrechlich unter meinen Schwingen. Ein Flügelschlag genügt, und die Zeit zittert, eine Erinnerung an das, was war, an das, was kommen wird. Die Menschen, sie glauben, sie laufen, sie suchen, sie lachen. Ich sehe ihre Angst, ihre Gier, ihre Freude, und ich weiß: jeder Gedanke, jedes Herz, jede Lüge ist mein Nest. Ich bin alt. Älter als Stein, älter als Blut, älter als die Namen, die sie mir geben. Turul. Vogel. Führer. Richter. Freund. Feind. Alles zugleich, und doch nichts von all dem, was sie verstehen. Viktor ist besonders. Ich sehe ihn wie ein
Licht in der Dunkelheit, unsicher, neugierig, blind und doch klar genug, um mich zu spüren. Er glaubt, er begegnet mir. Ich lächle – wenn ein Vogel lächeln könnte – und weiß, dass er mich nicht begreift. Ich bin nicht nur die Puszta, nicht nur die Stadt, nicht nur die Legende. Ich bin das, was bleibt, wenn alles andere stirbt, was wächst, wenn alles andere vergeht, was flüstert, wenn Schweigen tödlich ist. Jeder Blick, den ich erwidere, ist ein Urteil. Jeder Flügelschlag, eine Offenbarung. Wer mich leugnet, verschwindet. Wer mich anerkennt, trägt die Bürde weiter, die Sehnsucht nach mir, die Furcht vor mir, die Wahrheit in
meinen Federn. Ich bin nicht gerecht, nicht grausam, ich bin alles zugleich und nur eins: ewig.
Die Stadt lebt unter mir. Jeder Schritt ein Herzschlag, jede Stimme ein Flüstern meines Namens. Ich strecke die Schwingen aus, und alles neigt sich mir entgegen: Häuser, Straßen, Menschen, Kinder, die ahnungslos lachen. Ich bin hier, Viktor spürt mich, und noch viele andere. Immer. Ich war hier, bevor sie es wussten, und ich werde hier sein, wenn sie alles vergessen.
Ich bin der Turul.
Ich sehe alles.
Und ich warte.