Kurzgeschichte
Wenn die Welt zu warm wird

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"Wenn die Welt zu warm wird"
Veröffentlicht am 30. Oktober 2025, 18 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Sandra Cunningham - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht: Der Winter ist ein Bösewicht, die Bäume tragen Schneegewicht, die Stämme sind kahl und so schwarz wie ein Pfahl, die Felder sind weiß und auf dem See liegt Eis. In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.
Wenn die Welt zu warm wird

Wenn die Welt zu warm wird

Wenn die Welt zu warm wird

Als der Wind von Süden kommt, kehrt etwas Altes zurück. In einem kleinen Dorf an der kroatischen Küste erwacht eine Hornisse, die sechzig Jahre geschlafen hat – und mit ihr das Echo einer Welt, die zu warm, zu laut und zu lebendig geworden ist. Zwischen Salzluft und Staub erhebt sich ein Summen, das nicht nur von Flügeln erzählt, sondern von Erinnerung, Schuld und Wandel. „Wenn die Welt zu warm wird“ ist eine poetische Parabel über das Erwachen alter Mächte, über den zarten

Wahnsinn der Natur und die flüsternde Frage, ob die Erde uns eines Tages vergessen – oder sich an uns erinnern wird. Leise wie Flügelschlag – tödlich wie Zeit.

Die Königin aus dem Staub

(Eine Parabel über Wärme, Wandel und Wiederkehr) Er kam von Süden, warm und träge, als hätte er sich verirrt. Der Wind brachte Salz mit – und ein Flüstern, das sich zwischen die Mauern des kroatischen Dorfes Solin legte. In jener Nacht war das Meer still. Nur ein dumpfes, unruhiges Summen drang aus den Gärten, ein Laut wie das Erwachen von etwas, das zu lange geschwiegen hatte.

Marija Vuković hörte ihn zuerst.

Eine Frau mit Händen, die nach Lavendel rochen, und Augen, die mehr sahen, als sie sollten. Als sie das Fenster öffnete, saß dort eine Hornisse. Groß, bronzen, ihr Hinterleib glühte im Mondlicht wie ein Tropfen Bernstein. „Sechzig Jahre,“ flüsterte Marija. „Sechzig Jahre warst du fort.“ Die Hornisse neigte den Kopf – als hätte sie verstanden – und verschwand im Dunkel. Am Morgen kamen sie in Scharen. Unter den Traubenranken, in den Mauerritzen, sogar in den hohlen Glockenlöchern der Kirche.

Die Kinder schrien. Die Alten beteten. Nur Marija blieb still. Ihr Vater hatte ihr einst erzählt, die Königin schlafe tief in der Erde, bis die Welt wieder warm genug sei, sie zu rufen. Nun war die Welt warm. Zu warm. Am dritten Tag fand Marija das Nest. Es hing unter dem Dach – groß wie eine Totenglocke, pulsierend, atmend. Sie glaubte, Herzschläge darin zu hören. Jedes Mal, wenn sie hinsah, schien es zu wachsen – als erinnere sich etwas in seinem Inneren. Pfarrer Luka kam mit Weihwasser und einem Besenstiel.

Er war jung und glaubte noch an den Lärm, den man Ordnung nennt. Als er das Nest sah, hob er den Stab. „Das sind Tiere,“ sagte er. „Gottes Geschöpfe, aber fehl am Platz.“ „Nicht sie sind fehl am Platz,“ antwortete Marija leise, „sondern wir.“ Das Summen wurde lauter. Ein Chor aus vibrierenden Kehlen, betend oder fluchend, man konnte es nicht sagen. Dann brach der Schwarm hervor – wie Rauch, der lebt. Luka stürzte zu Boden, das Weihwasser zischte auf den Steinen. Als das Summen verebbte, war seine Haut rot und geschwollen, doch er

atmete. „Sie hat dich nur gewarnt,“ flüsterte Marija. „Die Königin tötet erst, wenn man ihr Reich stört.“ Die Tage wurden heißer, das Summen tiefer. Man hörte es nachts durch die Mauern, als würde das Dorf selbst atmen. Die Menschen flohen. Nur Marija blieb. Eines Nachts kam der Sturm. Regen fiel wie Asche, Blitze zeichneten Narben über das Meer. Da brach das Nest auf. Aus der Spalte kroch ein Wesen hervor – größer, majestätisch, schwer vom Gewicht der Zeit.

Ihr Leib schimmerte wie durchsichtiges Harz. Sie sah Marija an, und Marija neigte den Kopf. „Willkommen zurück,“ flüsterte sie. „Die Welt ist wieder warm.“ Die Königin hob die Flügel. Ein Laut wie das Reißen von Seide. Dann erhob sie sich, und der Schwarm folgte. Am Morgen war das Dorf leer. Nur das Nest blieb – kalt, grau, still. Doch aus seinem Inneren kam ein leises Ticken, wie von einer Uhr, die niemand angehalten hat.

Jahre später fand man das Dorf überwachsen, von Feigen umklammert.

Im Dachstuhl hing das versteinert gewordene Nest – eine Reliquie aus Wachs und Zeit. Niemand hörte mehr das Summen. Doch wenn der Wind von Süden kam, meinten manche, über den Wellen eine einzelne Hornisse fliegen zu sehen – und in ihrem Flügelschlag das Wort: „Erinnerung.“

Ich, die Königin

(Ein Monolog aus Wachs und Zeit)


Ich erinnere mich an Hitze. An den Geruch von Stein, der im Sommer singt. An die Süße verrottender Feigen, an den Rausch des Lebens, der summt, brennt, vergeht. Damals war ich Königin. Ich trug das Summen der Erde in mir, ein Lied aus Flügeln, Wind und instinktvoller Ordnung. Alles hatte Platz. Selbst der Tod.

Dann kam die Kälte. Sie fraß sich in meine Glieder, leckte mir das Leben von den Antennen. Ich grub mich tief, tiefer als Erinnerung. Und in der Dunkelheit betete ich nicht — ich wartete. Sechzig Winter schlief ich. Über mir vergingen Generationen von Lärm. Menschen bauten Städte, verbrannten Himmel, zogen Mauern zwischen sich und die Stille. Und die Erde wärmte sich. Langsam. Beharrlich. Wie ein Tier, das im Schlaf Fieber bekommt.

Ich erwachte, als die Wurzeln zu schwitzen begannen. Da wusste ich: Es war Zeit. Ich kroch hinauf, brach durch Erde, Sand, Vergangenheit. Licht schnitt mich. Luft brannte. Die Welt roch anders — metallisch, müde. Ich sah die Menschen wieder. Sie blickten nicht auf, sie hörten nicht zu. Sie redeten in Geräten, deren Stimmen nie atmeten. Ich spürte Mitleid, das nicht meines war.


Sie sahen mich, und nannten mich „gefährlich“. Aber ich war nie Gefahr. Ich war Erinnerung. Ich war der Puls, der wiederfand, was er verloren hatte. Ich baute mein Nest dort, wo das Meer den Himmel küsst. Unter Ziegeln, zwischen Staub und vergessenen Gebeten. Meine Schwestern folgten mir. Ihr Summen war wie Herzschlag — nicht laut, nur beständig. Wir reinigten, was verfiel. Wir nahmen, was zu viel war. Wir töteten nicht – wir glichen aus.

Doch sie verstanden nicht. Sie sahen in uns das Ende, und ahnten nicht, dass sie längst selbst begonnen hatten, sich zu vernichten. Ich summte ihnen ein letztes Lied. Ein Lied aus Erinnerung, aus Gleichgewicht. Und dann erhob ich mich. Über den Dächern, über den Wellen, im Glühen einer Welt, die zu warm geworden war. Mein Schatten zog über das Meer – und in ihm lag kein Zorn. Nur Erkenntnis.

Ich bin kein Monster. Ich bin das, was bleibt, wenn man das Schweigen zu lange überhört. Ich bin die Königin, und ich kehre zurück, immer dann, wenn die Welt zu warm wird.

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Hörbuch

Über den Autor

KatharinaK
Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht:
Der Winter ist ein Bösewicht,
die Bäume tragen Schneegewicht,
die Stämme sind kahl
und so schwarz wie ein Pfahl,
die Felder sind weiß
und auf dem See liegt Eis.
In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.

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"Wenn die Welt zu warm wird..."
Wow, was für eine wunderbar erzählte Geschichte, liebe Katharina.
Hat mir sehr gut gefallen und nein, sie sind in der Tat absolut nicht fehl am Platz... ...smile*
LG zu Dir
Louis :-)
Diese Woche - Antworten
KatharinaK Vielleicht gefällt Dir der zweite Teil des Ganzen ebenso - Liebe Grüße von der Hornisse
Katharina
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