Kurzgeschichte
Das morbide Bankett - ein Menü in fünf Gängen - Guten Appetit

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"Das morbide Bankett - ein Menü in fünf Gängen - Guten Appetit"
Veröffentlicht am 28. Oktober 2025, 18 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht: Der Winter ist ein Bösewicht, die Bäume tragen Schneegewicht, die Stämme sind kahl und so schwarz wie ein Pfahl, die Felder sind weiß und auf dem See liegt Eis. In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.
Das morbide Bankett - ein Menü in fünf Gängen - Guten Appetit

Das morbide Bankett - ein Menü in fünf Gängen - Guten Appetit

Prolog: Einladung, gedeckter Tisch, fünf leere Stühle.

Gang I – Balut: Das Ungeborene – Opfer des Lebensdurstes. Gang II – Boodog: Das Feuer im Leib – der Mensch als Koch und Gott zugleich.

Gang III – Casu Marzu: Der süße Verfall – Liebe, die zu lange bleibt. Gang IV – Hundert-Tage-Ei: Die Zeit, die sich selbst konserviert. Gang V – Krähensuppe: Das Gedächtnis des Hungers.


Epilog: Der Erzähler hebt den Löffel – und begreift, dass das Bankett nie endet.


Das Morbide Bankett

Ich ordne die Teller wie Reliquien auf dem langen Eichenholz, das unter dem Gewicht der Jahre knarrt. Fünf Gänge, fünf Länder, fünf Geheimnisse, die nur ein wacher Magen und ein blasser Mut kosten. Die Kerzen flackern, werfen tanzende Schatten auf Gesichter, die nicht existieren. Ich bin hier der Dirigent, der die Symphonie des Verfalls leitet. Zuerst serviere ich Balut. Die Gäste, die ich niemals sehe, riechen es zuerst – ein fermentiertes Ei, halb Leben, halb Tod.

Ich sehe ihre Hände zittern, doch sie nehmen den Löffel. Das Embryo, noch gefroren in der Zeit, erinnert sie an das Ungeborene, das wir alle in uns tragen: Hoffnung, die nicht reifen durfte. Ich lächle, und niemand weiß, ob aus Freude oder aus Hunger. Dann kommt Boodog, aus dem Inneren einer Ziege zubereitet, das Fleisch dampft noch, heiß von den Steinen, die wir hineingestopft haben. Die Gäste kosten, und der Rauch klettert ihnen in die Nase wie flüsternde Geschichten von alten Kriegen. Ich höre die Gedanken zerspringen wie zerbrochene Gläser. Sie verstehen: ich koche nicht nur Fleisch,

ich koche Erinnerung, Angst und das Prickeln des Lebens am Rand des Abgrunds. Casu Marzu folgt, der Käse, in dem Maden tanzen, süß wie der Tod. Ein Gast streckt zögernd die Hand aus, die Larven winden sich zwischen seinen Fingern, und ein Schauer läuft ihm über den Rücken. Ich sage nichts, nur nicke. Der Verfall ist süß, und jeder Biss ist ein Pakt: Wer isst, akzeptiert die Endlichkeit, die wir alle ignorieren. Das hundert Tage alte Ei liegt wie ein Juwel in der Mitte des Tisches. Grünes Eigelb, geleeartiges Weiß – konservierte

Zeit. Ich erzähle ihnen Geschichten vom Gestern, und während sie kauen, spüren sie die Jahre in ihren Mägen. Sie schmecken die vergangene Freude, die sich in Säure verwandelte, den Duft der Geduld, die in Gelb und Grün zerfällt. Am Ende serviere ich die Krähensuppe. Schwarze Federn schwimmen im klaren Sud, stumme Zeugen von Hunger und Krieg. Sie trinken, und ich sehe in ihren Augen das Verständnis: Alles, was wir sind, ist Mahlzeit, Erinnerung, Rauch. Ich klinge mit meinem Löffel an ihrem Glas – ein Trinkspruch, den niemand aussprechen muss.

Wenn der letzte Bissen genommen ist, die Kerzen erlöschen, sitze ich allein. Ich bin Gastgeber und Gast zugleich, Wächter und Opfer. Das Bankett endet nie; es wartet in der Dunkelheit, im stillen Knistern der Flammen, im Hauch des Duftes von Balut und Boodog. Ich lächle, während ich die Stühle abrücke – der sechste Gang wartet bereits, und ich weiß: ich werde es selbst sein.

🥚 I. Balut – Das Ungeborene Zwischen Kalk und Schale zuckt ein Flügel, kaum mehr Traum, noch nicht Erinnerung. Der Mann hält das Ei an die Lippen, als wolle er ihm ein letztes Gebet zuflüstern. Ein leises Knacken – wie ein gebrochener Vers – entweicht. Die Brühe riecht nach Leben, das es sich anders gewünscht hätte. Er trinkt, verschluckt den Blick, der ihn aus der Membran anstarrt. Ein Rest Schnabel, ein Schatten Feder – verschwinden in seinem Mund. Und irgendwo im Innern, wo Reue wohnt, schlägt für einen Augenblick etwas Kleines, Warmes. Dann wird auch das still.

🐐 II. Boodog – Das Herz der Steppe Die Ziege steht nicht mehr. Sie liegt, offen, wie ein Gebet an den Rauch. Männer mit wettergegerbten Händen stopfen glühende Steine in ihren Leib, bis sie zischt wie Rache. Der Wind trägt den Duft von Haar, das verbrennt, und von Fleisch, das begreift, was Opfer heißt. Sie lachen, trinken Wodka, erzählen vom Winter, der alles nimmt. Später reißen sie das Fell auf, teilen das dampfende Herz. Es schmeckt nach Erde, Metall und Mondlicht. Ein Kind fragt, ob die Seele mitgegart wird. Der Vater nickt. Und kaut weiter.


🧀 III. Casu Marzu – Der süße Verfall Er liegt da wie eine lebendige Wunde, warm, vibrierend. Die Larven tanzen, hungrig, selig im Käse. Manche springen, als wollten sie entkommen. Andere bleiben, denn sie kennen keinen Himmel außer Milch. Der Alte in Sardinien schneidet ein Stück ab, lächelt zahnlos. „Er atmet noch“, sagt er und steckt ihn sich in den Mund. Knacken, süßlich, wie ein Kuss auf einen offenen Sarg. Ein Tropfen läuft über seine Lippe, goldgelb, fast göttlich. So schmeckt die Zeit, wenn sie zu lange geliebt wurde.


🥚 IV. Das Hundert-Tage-Ei – Das Geduldige Im Dunkel der Asche ruht es, ein Mond, der sich selbst verdaut. Kalk, Salz, Wasser – ein Altar für Veränderung. Wer es öffnet, blickt in ein Auge aus Grün und Braun, durchsichtig wie Erinnerung. Der Duft ist alt, beinahe weise. Manche sagen, es rieche nach Tod. Andere nennen es Ewigkeit. Die Frau, die es serviert, lächelt leise, als hätte sie das Geheimnis des Stillstands gefunden. Sie isst. Der Geschmack ist fremd, doch vertraut: wie ein Kuss von jemandem, den man längst begraben hat.

🦅 V. Krähensuppe aus Borsod – Schwarzer Sonntag Es war Krieg, und der Himmel hatte Hunger. Krähen kreisten über Miskolc, als warteten sie auf sich selbst. Man schoss, rupfte, kochte. Drei Stunden brodelten Flügel und Wurzeln im Topf, bis das Wasser schwarz wie Bedauern wurde. Kinder schliefen bei dem Geruch ein. Die Alten sagten, er bringe Glück, weil er an nichts erinnere, was man besaß. Heute ist das verboten. Doch manchmal, wenn Schnee fällt und Holz fehlt, glaubt man, die Luft schmecke wieder danach – nach Rauch, nach Flügeln, nach Überleben.

Epilog


Die Gäste sind gegangen – oder vielleicht waren sie nie hier. Nur der Tisch bleibt, dunkel glänzend, übersät mit den Überresten: grüne Eigelbe, zerbrochene Schalen, die letzten dampfenden Tropfen von Boodog. Ich wische nichts auf. Jeder Fleck ist Erinnerung, jede vergessene Larve ein stiller Zeuge des Vergänglichen. Ich sitze allein in der Stille, spüre die Schwere der Kerzenstummel und höre das leise Echo ihrer Schritte in den leeren Räumen. Ein Lächeln zuckt über mein Gesicht – zufrieden, erschöpft, wissend.

Ich habe ihnen den Tod serviert, nicht als Ende, sondern als Geschmack: bittersüß, unvermeidlich, verlockend. Draußen zieht die Nacht auf, und die Welt atmet weiter, unwissend. Aber hier drinnen, in meinem Reich aus Düften und Schatten, lebt das Bankett weiter. In jeder Erinnerung, in jedem Traum, in jedem stillen Schaudern. Ich bin Gastgeber und Chronist zugleich. Und während die Dunkelheit sich über den Tisch legt, flüstere ich: „Kommt wieder. Ich habe immer einen Platz für euch.“

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Über den Autor

KatharinaK
Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht:
Der Winter ist ein Bösewicht,
die Bäume tragen Schneegewicht,
die Stämme sind kahl
und so schwarz wie ein Pfahl,
die Felder sind weiß
und auf dem See liegt Eis.
In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.

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