
Obwohl sie sich erst vor wenigen Minuten getroffen haben, empfindet er eine tiefe Zuneigung zu ihr und kann nachvollziehen, was sie mit dem tragischen Tod ihres Mannes durchgemacht hat. Den Hund, Franz den Ersten, vermisst sie sicher genauso.
„Wir waren damals in einem Gut Gstör, einem Übungsgelände. Gibt’s das noch?“, fragt er, um die Frau abzulenken.
„Ich hab immer wieder gehört, wie die Soldaten sich darüber unterhalten haben, kann aber nicht sagen, ob es noch
existiert.“ „War eine schöne, lustige Zeit, die wir da verbracht haben. Ab und zu kamen wir uns vor wie Kindergartenkinder, die mit den Erzieherinnen im Schnee buddelten“, erzählt Phil. „Heute weiß ich durch meine Enkel, dass es gar nicht so verkehrt war, zu lernen, wie man sich im Winter bei Minusgraden ein Schneehaus baut und Säcke mit Schnee füllt, die als Kugelfang dienen sollen.“ „Sie haben Enkel?“, fragt die Frau interessiert. „Ja, drei. Sind richtige Rabauken.“ Bevor er weiter erzählen kann, merkt
Phil, wie die Frau noch trauriger wird als vorher. „Meine Kinder leben in den USA. Ich sehe sie und die Enkel, wenn sie im Urlaub oder in den Ferien zu Besuch kommen“, erklärt sie. „Wenn es nicht schon so spät wäre, würde ich sagen, wir fahren zum Gut Gstör raus und sehen uns um“, schlägt Phil spontan vor. „Das ist eine gute Idee“, stimmt die Frau zu. „Franz würde sich auch freuen, wenn er mal woanders schnüffeln kann. Aber Sie haben recht, es ist zu spät. Bis wir da draußen sind, wird’s fast schon
dunkel.“ „Oh Mann“, fasst sich Phil an den Kopf. „Ich hab total die Zeit vergessen. Hab mir die Maschine gekauft, wollte eigentlich nur eine kleine Runde fahren“, deutet er auf die Harley. „Mein Mann hat auch ’ne Harley gefahren“, berichtet die Frau. „Sie steht noch zu Hause in der Garage. Ich hab’s nicht übers Herz gebracht, sie zu verkaufen. Dachte immer wieder, ich fahr sie selber.“ Phil freut sich, als ein Strahlen über das Gesicht der Frau zieht. „Ich muss unbedingt eine SMS nach Hause schreiben. Die haben keine
Ahnung, wo ich bin.“ = Hab mir ein anderes Motorrad gekauft = bin auf Probefahrt = mach dir keine Sorgen = bin in Kempten gelandet = werde vielleicht übernachten = P „So, und ab damit“, drückt er an seinem Handy auf „Senden“. „Wenn Sie ’ne Harley haben, lassen Sie uns morgen eine Runde fahren“, bietet er spontan an. „Irgendwie hab ich schon große Lust zu fahren“, stimmt die Frau zu. „Es fehlt nur der letzte Drücker.“ „Und den gibt’s morgen von mir“, nimmt Phil die Frau in die Arme und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich bin
Phil.“ „Cindy“, gibt die Frau ihm den Kuss zurück. „Franz wird nicht begeistert sein, wenn er so lang allein bleiben muss, aber ich denke, wenn ich dich als Triebfeder hab, schaffe ich es, die Harley wieder in Betrieb zu nehmen.“ „Prima“, reibt Phil sich die Hände. „Wo kann ich hier übernachten? Motorradfahrer sind nicht in jeder Gaststätte willkommen.“ „Du kannst bei mir übernachten“, bietet Cindy an. „Ich hab genug Platz, und die Harley kannst du in der Garage stellen.“ „Das ist gut“, freut sich Phil. „Ich fahr langsam hinter dir
her.“ „Ich hab da unten mein Auto stehen. Wenn ich hierher komme, parke ich da, geh mit Franz durch die Wiesen am Fluss entlang.“ „Wohnst du in der Stadt?“ „Nein. Mein Mann hat gut verdient. Wir haben uns ein kleines Haus mit Garten etwas außerhalb der Stadt gekauft. Warte hier, ich geh zum Auto, komm her, dann kannst du hinter mir herfahren.“ Candy Hundertsechzig Kilometer weiter nördlich sitzt Candy im Wohnzimmer und sieht zum x-ten Mal auf ihr Handy, ob
eine SMS von Phil angekommen ist. Sie hat, als sie vom Einkaufen nach Hause gekommen ist, gesehen, dass die BMW weg ist, der Roller nicht mehr in seiner Ecke steht. Anscheinend hat Phil seine Zweiräder in Betrieb genommen und ist mit der BMW unterwegs. Das war aber schon vor über drei Stunden. Es wird schon langsam dunkel, und in der Dunkelheit fährt Phil nicht so gern. Besorgt geht sie zu Nachbar Schreiter rüber, um ihn zu fragen, ob er etwas mitbekommen hat. Doch der hat auch nur gesehen, dass Phil seinen Oldie über den Hof geschoben hat, kurz darauf mit seiner BMW weggefahren ist. Auch seine Freunde, mit denen er immer
wieder unterwegs ist, wissen nicht, wo er ist und haben ihn nicht gesehen. „Verflixt, in der Nacht fährt er doch nicht gern“, fragt sich Candy zum wiederholten Mal. „Ist vielleicht etwas passiert und er wurde nicht gefunden?“ Aber dann leuchtet ihr ein, dass er seine Papiere dabei hat, wenn er unterwegs ist. So wüsste die Polizei auf jeden Fall, wen sie benachrichtigen muss. Bis nach zweiundzwanzig Uhr geht Candy aufgeregt und nervös durch die Wohnung, sieht immer wieder auf ihr Handy – nichts, keine Nachricht von Phil. Um Mitternacht nimmt sie schließlich
eine Tablette, um wenigstens ein paar Stunden schlafen zu können, bevor sie sich am Morgen auf die Suche macht und Freunde und die Polizei um Hilfe bittet. Während Candy angefangen hat, sich Sorgen zu machen, fährt Phil hinter Cindys BMW Touring her zu ihrem Haus. Wie sie es beschrieben hat, liegt es am Stadtrand, umgeben von einem Wiesengrundstück, in dem Cindys Mann angefangen hat, einen Teich anzulegen. Hund Franz springt aus dem Auto, umkreist Phil mit freudigem Gebell. „Na, willst du mir zeigen, wo du zu Hause bist?“, krault er ihn am Bauch. Cindy freut sich, wie der Hund Phil
angenommen hat. Normalerweise ist er Fremden gegenüber sehr misstrauisch und lässt sich lange nicht anfassen. Mit Phil tobt und spielt er, als wären sie die besten Freunde. Mit etwas Herzklopfen denkt sie an den kommenden Tag und fragt sich, ob sie es mit Phils Hilfe schafft, die Harley wieder zu fahren. Seit ihr Mann verunglückt ist, hat sie sich nur draufgesetzt, den Motor in der Einfahrt laufen lassen und die Maschine dann wieder in die Garage geschoben. Neugierig geht sie um Phils Maschine und fragt sich, wie es wohl wäre, mit ihm als Sozia zu
fahren. „Na, ich denke, morgen werde ich es wissen“, geht sie freudig ins Haus, um etwas zu essen zu richten. Phil und der Hund spielen und toben immer noch im Garten, als sie den Tisch komplett gedeckt hat. „Hei, ihr zwei, kommt rein, Abendessen!“, ruft sie zur Tür raus. „Kommst du mit? Frauchen hat was zu Futtern gerichtet“, fragt Phil den Hund, der mit den Vorderpfoten, den Kopf gesenkt, das Hinterteil hoch aufgestellt, darauf wartet, dass Phil versucht, das dicke Seil zuerst zu
erwischen. „Ufffzzmmhhffff ... wuff wuff“, antwortet der Hund und trottet neben Phil ins Haus. Er sieht prüfend in seinen Napf, ob etwas Leckeres drin ist, und macht dann erst mal seinen Wassernapf leer. Hund Franz der Dritte schläft glücklich und zufrieden. Cindy und Phil machen es sich am Tisch gemütlich. „Trinkst du ein Glas Wein mit mir, wenn du heute nicht mehr fahren musst?“ „Ja, gern, das passt genau zu dem Brot und
Schinken.“ Während des Essens unterhalten sie sich über die Zeit, die sie in der ehemaligen Kaserne verbracht haben, und stellen immer wieder fest, dass sie einige gemeinsame Hobbys und Interessen haben. Am nächsten Morgen beschäftigen sie sich mit Cindys Harley und freuen sich auf eine gemeinsame Ausfahrt, bei der Cindy eventuell als Sozia mitfährt. Candy Candy ruft ihre Freunde noch einmal durch, bevor sie zur Polizei geht, um eine Vermisstenanzeige
aufzugeben. Wie sie befürchtet hat, weiß niemand, was mit Phil sein könnte und wo er steckt. „Ihr Mann ist sicher mit seiner BMW unterwegs und hat die Zeit vergessen“, versucht der diensthabende Beamte, Candy zu beruhigen. „Aber dann hätte er mir sicher Bescheid gegeben. Sein Handy hat er immer dabei, wenn er unterwegs ist.“„Mag schon sein“, reibt der Beamte beruhigend Candys Hand. „Vielleicht hat er eine Nachricht geschickt oder versucht, Sie anzurufen, hat aber keinen Empfang, nicht genügend
Sendeleistung.“
„Ich mach mir solche Sorgen.“
Fortsetzung folgt: