
„Ups… eine Harley für elffünf??“ bleibt Phil am Schaufenster des Custom-Bike-Händlers Matze stehen, an dem er immer wieder auf seiner Spazier-Runde vorbeigeht, um ein wenig „Stallluft“ zu schnuppern. Eine Harley-Davidson ist schon lange sein Wunschmotorrad. Bisher hat er sich diesen Wunsch nicht erfüllt, weil die Maschinen preislich etwas über dem liegen, was er sich leisten kann und auch will. Die beiden Maschinen hier sind mit elffünf jedoch durchaus im Bereich des Möglichen. Neugierig betritt er den Laden, um zu prüfen, ob der Preis vielleicht ein Schreibfehler ist, und um die Maschinen näher anzusehen. Beide sind in dunklem Rot bzw. Rot/Schwarz lackiert, was ihm gut gefällt. Matze, der Inhaber des Geschäfts, steht hinter dem Tresen und sortiert Regale, in denen
Prospekte, Zeitschriften, Pins und Aufnäher liegen. Er beobachtet Phil ein paar Minuten, um einzuschätzen, ob echtes Kaufinteresse besteht oder er nur mal gucken möchte. Phils Herz schlägt schneller, je näher er den Maschinen kommt. „… elffünf…“ denkt er, kratzt sich am Kopf. „… das ist günstig…“ Er geht weiter um die größere Maschine herum. Sie hat größere Koffer und wirkt durch die einfarbige Lackierung wuchtiger als die andere Maschine mit Zweifarben-Lackierung. „Nimmst du Gebrauchtmotorräder in Zahlung, wenn ich eine von den beiden Maschinen nehme?“ fragt er spontan. „Kommt darauf an, was du drangeben willst“, antwortet Matze. Sein Gefühl hat ihn nicht getäuscht: Phil meint es ernst. „Für die große hier würde ich meinen Oldie in Zahlung geben“, entscheidet sich Phil, sich von
seinem Heinkel Tourist zu trennen. „Eine BMW R 100 S und meinen Heinkel-Roller. Die BMW ist Baujahr 1980, der Roller 1961.“ „Ja, da wär ich interessiert“, sagt Matze, kratzt sich am Kopf. „Aber ich glaube nicht, dass die beiden zusammen elffünf bringen.“ „Den Rest würde ich finanzieren“, bietet Phil an. „Wie viel hast du dir für die BMW und den Heinkel vorgestellt?“ fragt Matze. „Für den Heinkel habe ich noch einige Originalersatzteile, keine Nachbauten“, erklärt Phil. „Wenn ich die dazugebe, viereinhalb. Für die BMW sechs. Sie ist in sehr schönem Originalzustand, erst 28.000 km.“ „Das wären zehnfünf“, überlegt Matze, „und welche würdest du nehmen?“ „Die mit den großen Koffern“, zeigt Phil auf die Maschine. „Die Zweifarben-Lackierung der
anderen gefällt mir nicht so gut. Außerdem hat sie kleinere Koffer.“ „Ja, die Road King stellt schon etwas dar“, stimmt Matze zu. „Die Street Bob ist eher was für Mädels. Am besten, du kommst mit deinen beiden Fahrzeugen vorbei, dann reden wir über den Preis.“ „Von dem Heinkel fällt es mir schon schwer, mich zu trennen“, reibt Phil sich das Kinn. „Aber ich kann nur mit einem Fahrzeug fahren. Ich habe auch keine große Lust mehr auf Oldtimer-Treffen.“ „Na dann bring ihn mal her, vielleicht behalte ich ihn für mich. Hab auch ein paar Oldies“, zeigt Matze auf eine Ecke, in der mehrere Fahrzeuge unter Tüchern abgedeckt stehen. „Gehst du in Rente oder warum ziehst du hier aus?“ fragt Phil neugierig. „Ich habe Buell mit dazu genommen, brauche größere Ausstellungsräume. Will auch zwei
weitere Montageplätze einrichten, vielleicht noch einen Mechaniker einstellen. Mal sehen.“ „Hast du schon etwas Passendes gefunden?“ „Ja, ich ziehe in die Halle vom ehemaligen Auto Maier. Habe mich mit dem Senior geeinigt, bevor sein Sohn alles verkaufen konnte. Dort gibt es bessere Sozialräume, Parkplätze, und die Lage ist wesentlich besser.“ „Steht der Eröffnungstermin schon fest?“ „Ja, am ersten August, es sei denn, mir kommt etwas Dummes dazwischen.“ Phil geht noch einmal um die Road King, setzt sich auf die Maschine und prüft, wie sie liegt. „Liegt gut in der Hand“, stellt er die Füße auf den Boden und testet Hebel und Schalter. „Das ist eine der letzten Maschinen vor dem Jubiläumsmodell 2003. Hat aber schon den überarbeiteten Motor mit 66 PS, Einspritzung. Du fährst sie mit fünf bis sechs
Litern.“ „Gut, dann gehe ich nach Hause und hole den Roller“, steigt Phil von der Maschine ab. „Darf ich sie probefahren?“ „Klar doch. Sie ist zugelassen, fahre selbst immer wieder damit“, stimmt Matze zu. „In etwa einer Stunde fahre ich sie ins neue Geschäft. Dann müsstest du in die Neumannstraße kommen.“ „Denke, ich bin vorher zurück“, sagt Phil, noch unschlüssig, ob er seinen Heinkel-Roller wirklich abgeben soll. Auf Oldtimer-Treffen sieht er fast immer dieselben Fahrzeuge und Leute. Zudem hat er den Roller im vergangenen Jahr kaum gefahren und weiß nicht, ob die alten Batterien starten. Zu Hause angekommen, prüft er, ob seine Frau Candy schon zurück ist, und findet auf dem Küchentisch einen Zettel: „Bin etwa um 19 Uhr
zurück.“ In der Garage holt er den Heinkel aus seiner Ecke, prüft den Luftdruck, baut die Zündkerze aus, reinigt sie gründlich und stellt den Elektrodenabstand mit der Messlehre ein. Wie erwartet springt der Motor nicht sofort an, obwohl die Ladekontrollleuchte an ist. Spannung steigt, als Phil den Roller vom Ständer nimmt, mit eingeschalteter Zündung und eingelegtem zweiten Gang über den Hof schiebt. Obwohl er ein Jahr nicht gefahren wurde, tuckert der Motor nach wenigen Metern los. Phil hält ihn am Gas, fährt langsam die Zufahrt auf die Straße und lässt den Motor ein paar Minuten laufen, bevor er Helm, Jacke und Handschuhe holt, um ein Stück zu fahren. Bereits auf den ersten Kilometern entschließt er sich, den Roller zu behalten. Vierzig Jahre sind eine lange Zeit, und er ist an die Macken der Handschaltung gewöhnt. Er fährt zurück in die
Garage, um die BMW startklar zu machen. „Vielleicht legt Matze noch was drauf, wenn er sieht, in welch super gutem Originalzustand sie ist“, denkt Phil, während er in die Werkstatt fährt. „Bringst du die BMW zuerst?“ fragt Matze und geht um das Motorrad herum, als er den Originalzustand erkennt. Er weiß, dass alte BMW-Boxer begehrt sind und ihren Wert behalten, nur die 100 S noch nicht. „Aber der wunderbare Originalzustand…“, reibt Matze sich das Kinn. „Die sollte ich irgendwann behalten, sie steigt im Wert.“ „Was wolltest du nochmal für die BMW haben?“ fragt er, als wüsste er es nicht mehr. Phil nennt den Preis: sechs bis sechseinhalb Tausend. „Ok, ich gebe dir sechs“, bietet Matze die Hand an. „Einverstanden“, sagt Phil und holt die
Fahrzeugpapiere aus seiner Jacke. „Mit dem Heinkel musst du in die Neumannstraße kommen“, deutet Matze auf seinen voll beladenen Transporter. „Bei dem Roller habe ich vorhin die Luft geprüft und die Zündkerze gereinigt. Nach zwei Metern Anschieben sprang der Motor sofort an…“ „Also kriegst du es nicht übers Herz, ihn zu verkaufen“, ergänzt Matze. „Ja, ich behalte ihn. Vierzig Jahre lassen sich nicht einfach weggeben. Ich werde mein Sparbuch plündern und den Rest finanzieren.“ „In Ordnung“, klopft Matze Phil auf die Schulter. „Komm ins Büro, dann machen wir den Vertrag fertig.“ Wenige Minuten später ist Phil stolzer Besitzer einer Harley-Davidson Road King. Matze gibt ihm die Papiere mit, damit er die Maschine am nächsten Tag ummelden
kann. „Den Rest bringst du mir in den nächsten Tagen in der Neumannstraße vorbei. Ich werde dort die meiste Zeit sein.“ Matze zeigt Phil, worauf er achten muss, wenn die Maschine kalt oder warm gestartet wird, und wo sich Schalter, Knöpfe, Werkzeug und Zubehör befinden. „Nun mach, dass du losfährst“, klopft er Phil auf die Schulter. „Sonst muss ich noch heulen, wenn eine meiner Lieblingsmaschinen weg ist… Gute Fahrt und pass auf dich auf.“ Phil startet die Maschine und fährt langsam aus dem Ausstellungsraum. Zur Freude über die Harley kommt das gute Gefühl, dass er seinen Oldie behalten hat. Matze sieht ihm noch eine Weile nach und freut sich, einen echten Harley-Liebhaber als Kunden gewonnen zu haben. Auf dem Zubringer zur Schnellstraße wechselt Phil auf die alte Bundesstraße, auf der er viele
Jahre zur Kaserne fuhr, als er noch bei der Bundeswehr war. Glücklich und zufrieden fährt er gemütlich durch die vielen Kurven, betrachtet Obstgärten und Hütten und fühlt sich um Jahre zurückversetzt. Am Ende der alten Bundesstraße entscheidet er spontan, weiter in die Stadt zu fahren, in der er vor über dreißig Jahren stationiert war. Die Zufahrt an der Iller entlang sieht fast noch wie früher aus, bis auf zwei neue Fußgängerbrücken. Wie vor achtunddreißig Jahren fährt Phil auf die alte Landstraße und will zum Tor der Kaserne, in der er seine Grundausbildung machte. „…was ist denn hier passiert??“ fragt er sich, als weder Tor noch Gebäude zu erkennen sind. Fahrzeughallen, Werkstätten, Garagen – alles weg, nur große Wohnblocks stehen noch. „Hallo, guten Tag, was ist hier passiert?“ fragt eine junge Frau, die mit einem großen Hund
spaziert. „Gibt es die Kaserne nicht mehr?“„Die ist schon lange aufgelöst“, antwortet Phil. „Ja, nur die großen Wohnblocks sind geblieben. Die Stadt hat daraus Sozialwohnungen gemacht. Waren Sie als Soldat hier?“ „Ja, vor achtunddreißig Jahren. Es ist schwer zu glauben, dass nichts mehr da ist, was ich kenne.“ „Kann ich gut verstehen“, sagt die Frau. „Ich habe in der Küche gearbeitet, bis die Kaserne aufgelöst wurde.“ Wehmütig lässt Phil seinen Blick über die Wohnblocks gleiten. „In dem Block ganz hinten, im zweiten Stock, das dritte und vierte Fenster – das war unsere Stube, 208.“ Der Hund kommt neugierig zu Phil, schnüffelt an seiner Hand und genießt die Streicheleinheiten. „Das ist Franz, der Dritte“, erklärt die Frau.
„Wir kommen immer wieder hierher, schwelgen in Erinnerungen. Anfangs hat mein Mann mich nach der Arbeit abgeholt.“
„Und jetzt tut er es nicht mehr?“„Er sieht uns von oben zu“, deutet die Frau in den Abendhimmel. „Ein betrunkener Autofahrer hat ihn und Franz den Ersten überfahren.“
Die Frau beginnt zu weinen. Phil nimmt sie in den Arm und drückt sie an sich.
| PamolaGrey Guten Abend, liebe Gabriele, danke für dein Kommentar, ich freue mich das dir meine Story gefällt. Es gib noch eine Fortsetzung, in den nächsten Tagen. LG Pam |