ungekannte Gewässer
„ Wer traut sich, von da oben aus der Astgabel zu springen?“ fragt Oskar, einer der größeren Jungs, die jeden Sommer am Fluss zu finden sind.
Ganze Generationen Jugendlicher und Kinder haben an dem Abschnitt Schwimmen gelernt, sich im flachen Wasser umspülen lassen, in der Uferböschung Höhlen gegraben, sie mit Steinen befestigt, um das schnell fließende Wasser umzuleiten.
Aus den größeren Steinen und dem Lehm am Ufer haben sie Burgen gebaut, Fantasiegebilde, die mit Ästen und
Zweigen Skulpturen darstellen sollen.
Weiter in der Flussmitte und am gegenüber liegenden Ufer sind noch die alten Spuren zu sehen, in denen die Bauern mit ihren Pferdewagen durch den Fluss gefahren sind, wenn sie die Sauerwiesen gemäht, das Gras getrocknet, als Heu und Öhmd als Winterfutter nach Hause gefahren haben.
Im Herbst und Winter kam es durch die Stauseeregulierungen immer wieder zu Hochwassern, die ein Durchfahren des Flusses unmöglich machten.
In diesen Zeiten haben Fischer und Korbmacher die Fuhren benutzt. In der Flussbiegung stehen Weidenbäume, die jedes Jahr ausgeschnitten wurden, aus
den Ästen und Zweigen Körbe und andere Gebrauchsgegenstände geflochten...
Die Kinder folgen mit ihren Blicken Oskars Hände, die in die weiter weg stehenden Erlen und Pappeln deuten.
In diesem Flussabschnitt hat es einige Untiefen, in denen noch nie jemand rein geschwommen ist.
Die Alten im Dorf erzählen, dass in diesem Abschnitt starke Strömungen sind, die alles und jeden unter Wasser ziehen, es unmöglich machen, wieder aufzutauchen.
Sie berichten auch, dass ein junges Mädchen in einem der „ Gumpen „ wie die Leute die Stellen im Fluss nennen,
ertrunken ist, als es von übermütigen jungen Männern in der Nacht, nach einem Trinkgelage ins Wasser geworfen wurde.
Ihre Leiche wurde nie gefunden.
„ Na, wie siehts aus?“ fragt Oskar noch mal mit einem hämischen Grinsen, „ wer traut sich?“
Von den Anderen hat niemand Lust, in die unbekannten Stellen zu springen, geschweige denn, drin zu schwimmen.
„ Spring doch selber, mach es uns allen vor, wenn du dich traust,“ fordert Andre Oskar auf.
Dass er so dazu aufgefordert wird, hätte Oskar sich nicht
gedacht.
„ Ich war schon oft drin,“ redet er sich raus, „ bin auch schon rein gesprungen, nur von da oben noch nicht.“
Die Anderen wissen erst nicht, ob sie das glauben sollen. Oskar ist als Sprücheklopfer bekannt, hat ne große Schnauze, mit der er alles fertig bringt oder schon mal gemacht hat.
„ Du weißt, dass in den Untiefen schon sehr lange Zeit niemand mehr geschwommen ist. Die Leute wagen sich nur mit einem Boot da ran,“ gibt Andre zu bedenken
„ Ach was,“ bläst Oskar sich wieder auf, „ von einem Boot, ja, das kann jeder. Drin schwimmen, das macht viel mehr
fun und dann noch von da oben runter springen, das ists.“
Trotz der großen Worte reagiert niemand. Alle warten anscheinend drauf, dass Oskar es vor macht. Zumindest in dem Gumpen schwimmt.
„ Außerdem hats da Schlingpflanzen, die dich auch runter ziehen können, wenn du sie berührst,“ gibt Andre zu bedenken.
„ Ach die paar Pflänzchen da,“ wiegelt Oskar ab, „ die können nichts anhaben. Ich nehme mein Messer mit, schneide mich frei, wenn die scheiß Pflanzen mich runter ziehen wollen.“
Oskar merkt, dass er keine Wahl mehr hat, als in den Gumpen zu springen, wenn er sein Gesicht vor den Anderen
nicht verlieren will. Er muss auch durch den Gumpen schwimmen, um auf die Erle klettern zu können, von der er runter springen will.
Seine Hände zittern ein wenig, als er sich den Gürtel mit seinem Messer umschnallt.
Mit heftigem Herzklopfen watet er ins Wasser, das ihm nach einigen Metern bis zu den Hüften reicht. Ein kleines Stück weiter muss er schwimmen.
Die Blätter von den Schlingpflanzen,
die bis an die Oberfläche reichen, machen ihm mehr Angst, als er sich eingesteht.
Er ärgert sich auch, weil er wieder
solche Sprüche gemacht hat, seine große Schnauze wieder mal nicht zügeln konnte.
Mühsam versucht er, ruhig zu bleiben, rudert nur mit den Armen, um die Schlingpflanzen nicht zu sehr in Bewegung zu bringen.
Es kommt ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich das andere Ufer erreicht hat, um auf die Erle zu klettern.
„ Wird hier Eintritt verlangt oder darf man auch ohne zusehen?“ ist eine Frauenstimme zu hören.
Silke und Rick kommen ans Ufer, sehen Oskar gespannt zu, wie er die erste Astgabel auf der Erle erreicht. Mittwochs haben die Beiden Berufsschule, kommen
erst später zum Fluss, um mit den Freunden zu schwimmen.
„ Will der etwa von da runter springen?“ fragt Rick neugierig.
„ Ja, von uns hat niemand reagiert, als er uns gefragt hat, wer sich traut. Jetzt muss er es uns vormachen,“ klärt Andre Rick auf.
„ Lass den Quatsch,“ ruft Rick Oskar zu, „ springst direkt in die Schlingpflanzen, kommst doch nicht weit genug raus.“
„ Ich schneide mich frei, wenn die Biester was von mir wollen,“ zieht Oskar sein Messer aus der Scheide, steigt weiter auf die zweite Astgabel, von der er springen will.
Statt die Chance zu einem gefälligen
Rückzug zu nutzen, bringt er sich damit noch mehr in Gefahr. Ricks Hinweis, dass er nicht weit genug raus springen kann, um sich in den Schlingpflanzen nicht zu verfangen, hätte Jeder von den Anderen anerkannt, Oskar hätte seine „ Ehre“ nicht wie befürchtet verloren.
Rick ist so etwas wie ein Leitwolf.
„ Lass doch den Quatsch bleiben, du hast uns ja gezeigt, dass du dich traust, da durch zu schwimmen,“ versucht Andre noch mal, Oskar von seinem riskanten Manöver ab zu bringen, „ komm runter.“
„ Wer A sagt, muss auch B sagen,“ ruft Oskar zurück, steckt sein Messer in die Lederscheide zurück, stellt ein Bein in die Astgabel, um von da zu springen.
In der engen Astgabel kann er sich aber nicht stark genug abstoßen, landet wie Rick gesagt hat, in den Schlingpflanzen.
Der geschmeidige Pflanzenteppich gibt auch sofort nach, schließt sich über seinem Körper.
„ Scheiße, da kommt er nicht mehr raus,“ ruft Rick, nimmt sich einen spitzen Ast vom Ufer, spurtet so gut es im knietiefen Wasser geht, los. Die restlichen Meter muss er schwimmen, versucht, nicht zu nah an die Schlingpflanzen zu kommen, die durch Oskars verzweifelte Versuche, frei zu kommen, heftig hin und her schweben.
Rick sieht, dass die Lederscheide an
Oskars Gürtel leer ist. Offensichtlich hat er sein Messer verloren, als er sich in dem dichten Pflanzenteppich verwickelt hat.
´´ Ich muss runter,´´ nimmt Rick sich vor, ´´ die Pflanzen von unten angehen..´´
In dem trüben Wasser kann er aber nicht viel sehen und Oskar wirbelt grünen, glitschigen Schleim von den Pflanzen auf.
Nach ein paar Sekunden sieht er das Messer, wie es langsam auf den Grund sinkt, bekommt es am Griff zu fassen. Noch ein mal holt er an der Oberfläche tief Luft, taucht dann unter Oskars strampelnden Beinen durch, schneidet
einige Stängel von den Pflanzen ab, die sich durch das Strampeln um seinen Körper gewickelt haben.
Oskar spürt, dass er frei kommt, strampelt noch heftiger, um die schleimigen Pflanzen von seinem Körper los zu bekommen. Rick kann ihn so nicht weiter frei schneiden, ohne ihn zu verletzen.
Einen hartnäckigen Stängel reißt er am Grund aus, schiebt Oskar nach oben.
Endlich.. frei...
Ein kleines Stück neben dem Pflanzenteppich taucht er auf. Andre ist ihm mit Silke entgegen geschwommen.
Zusammen fassen sie ihn an den Händen, ziehen ihn ins niedrigere Wasser.
Keuchend und hustend reibt Oskar sich die letzten Reste grünen klebrigen Schleim aus dem Gesicht, spuckt Wasser aus, das ihm in den Mund geflossen ist.
„ Wo ist Rick?“ schreit Andre, versucht ihn unter Wasser zu sehen. Der Pflanzenteppich ist aber so dicht, dass außer grün nicht viel zu sehen ist.
„ Ich weiß es nicht,“ schreit Oskar zurück, „ ich hab ihn an den Beinen gespürt... das Arschloch wollte mich runter drücken...“
„ Du bist vielleicht ein Idiot,“ rüttelt Andre Oskar an der Schulter, „ er hat
dich nach oben gedrückt... du hast unter Wasser die Orientierung verloren...“
„ Du tickst doch nicht richtig,“ reißt Oskar sich los, „ das Einzige was ich verloren hab, ist mein Messer... mir reichts... ich hau ab...“
„ Bleib hier du feige Sau,“ versucht Andre ihn noch mal auf zu halten, „ wir müssen Rick helfen...“
„ Das kann tun wer will... aber ich nicht...“ reißt Oskar sich noch mal los, rennt weg, nachdem er seine Kleider und sein Badetuch vom Boden aufgehoben hat.
Die anderen Jugendlichen laufen ihm in Panik nach. Silke und Andre stehen allein
da.
„ Scheiße... verdammte Scheiße.... was machen wir jetzt?“ schreit Andre hilflos auf.
„ Ich such das Messer, lauf du ins Dorf und hol Hilfe “ taucht Silke an den Schlingpflanzen runter, tastet den Grund ab. Sie hat sich gemerkt, an welcher Stelle Oskar aufgetaucht ist.
´´ Irgendwo hier muss das Messer sein..´´ sucht sie den Grund ab, sieht Rick zwischen den langen Stängeln treiben. Mühsam kämpft sie die Panik nieder, holt wie zuvor Rick tief Luft, schneidet einen Stängel nach dem Anderen durch.
Rick kämpft mit einer Ohnmacht. Um nicht von Oskars strampelnden Beinen
getroffen zu werden, musste er tiefer tauchen, ist dadurch weiter in die Schlingpflanzen geraten.
´´ Scheiße, jetzt bin ich wieder drin..´´
Verzweifelt schneidet er zwei harte Stängel durch, kommt aber nicht vollständig frei. Um noch Luft zu haben, bewegt er sich langsamer, will sich an die Oberfläche abstoßen. Durch den grünen Schleim sieht er erst nicht, wo es nach oben geht, gerät wieder in den Pflanzenteppich.
Unwillkürlich muss er an das junge Mädchen denken, das hier vor vielen Jahren ertrunken sein soll, spürt, wie ihm die Luft und dadurch auch die Kraft
ausgeht.
Blitze zucken durch seinen Kopf, es wird ihm immer wieder schwarz vor Augen.
´´ So ist es also, wenn man ertrinkt...´´ geht es ihm durch den Kopf... ´´ aber nicht mit mir...´´
versucht er noch einmal, sich los zu schneiden.
Dann wird es endgültig schwarz.
´´... Mädchen, wo immer du bist... du bekommst Gesellschaft...´´denkt er noch....
„ Ich bin da... komm zu mir....“ ist eine Frauenstimme zu hören, „ komm...“
„ Hei, wer bist du?“ wundert Rick sich, dass er unter Wasser reden kann, „ bist du das Mädchen, das hier ertrunken
ist?“
„... komm..... ich bin da.... komm zu mir....“
„ Ja ja, ich komme ja schon...“ wundert Rick sich wieder. Da treibt sein Körper im Wasser und er kann reden.... „ hei, was ist das... ich fühl mich gut.... so gut... es ist schön hier... sind da noch mehr....ahhhhhh....“
Ein stechender Schmerz zieht durch seine Brust, in den Ohren summt und brummt es, sein Kopf hämmert, als müsste er ein dickes Eisen schmieden, es wird ihm elendig schlecht, ein starker Würgereiz nimmt ihn gefangen. Irgendwas hebt ihn hoch, schüttelt seinen Körper.
Eine bestialisch stinkende Flüssigkeit
schiebt sich in seine Speiseröhre, will raus.
Hustend spuckt er immer wieder einen Schwall von der Flüssigkeit aus, schnaubt wie ein Pferd, um einiges davon aus der Nase zu pressen.
„ Ja, so ist es gut, spuck es aus,“ kann Rick nach einigen Minuten Silkes Gesicht erkennen, „ ich hatte schon Angst, du schmierst mir vollends ab,“ küsst sie ihn auf den Mund, lächelt ihn strahlend an.
„ Das wär aber nicht nett von dir gewesen, ich mag dich.“
„ Ähm... wies aussieht, hast du mir das Leben gerettet, mich aus der Schlonze da
geholt?“ blinzelt Rick sie an.
„ Es sieht ganz danach aus...“ lächelt Silke wieder.
„ Au Mann,“ reibt Rick sich den Kopf, „ ich dachte schon, ich muss dem Mädchen Gesellschaft leisten, das hier angeblich ertrunken ist. Mir war schon schwarz vor den Augen, hatte keine Luft mehr.. au Mann... was mach ich jetzt...“
„ Au Mann...“ lächelt Silke, küsst Rick noch mal„ vielleicht sagst du: danke, dass du mir das Leben gerettet hast.“
„ Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.“ Ihre Lippen schmecken nach den schleimigen Pflanzen, aber es ist ein Kuss, der Rick sagt, die Lady liebt
mich.