Kurzgeschichte
Martha

0
"Martha"
Veröffentlicht am 20. Oktober 2025, 40 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Elena Okhremenko - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht: Der Winter ist ein Bösewicht, die Bäume tragen Schneegewicht, die Stämme sind kahl und so schwarz wie ein Pfahl, die Felder sind weiß und auf dem See liegt Eis. In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.
Martha

Martha

Der Weg durch die Nacht Finster war’s, der Mond schien helle. Martha lächelte über diesen Widerspruch, der ihr plötzlich einfiel. Ein Lächeln, das kaum über ihre schmalen Lippen huschte, wie ein Lichtschein über die Oberfläche eines längst versteinerten Sees. Die Stadt lag still, als hielte sie den Atem an. Nur der Wind bewegte sich, blätterte in alten Postern, ließ einen losen Rollladen gegen die Hauswand schlagen. Zwischen den schwarzen Schaufenstern, deren Auslagen vom Staub vergangener Jahre überzogen waren, zog Martha ihren kleinen Karren. Die Räder quietschten im Takt ihrer

Schritte. In der Decke, die über den Karren geworfen war, ruhten ein paar Habseligkeiten – das alte Kofferradio, ein Schal, ein zerfledderter Regenschirm. Und ein Bündel Hefte, eng beschrieben mit ihrer Schrift: ihre Geschichten, ihre Kinder aus Worten. »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust«, murmelte sie, und das Echo ging im Pflaster verloren. Eine Seele, die lebte, um zu erinnern, und eine, die schrieb, um zu vergessen. Ein Fenster über ihr schlug auf, eine Stimme rief hinaus, dann wieder Stille. Die Stadt schlief, doch sie wachte über ihre Schatten.

Martha liebte die Nacht. Sie war ihr vertrauter als die Sonne. Sie kannte ihre Geräusche, ihre Gerüche, die Art, wie sie alles milderte und zugleich deutlicher machte. Ihr Blick blieb an der alten Kirchturmuhr hängen. Der Zeiger schob sich zäh über das Zifferblatt – wie jemand, der nicht weiß, ob er weitergehen soll. Mit jedem Schlag der Glocke erzitterte die Luft, und Martha zählte lautlos mit: Eins, zwei, drei … »Wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt?«, summte sie leise. »Eins, zwei, drei, vier, fünf …« Da bewegte sich etwas in der Ferne – ein Schatten, der nicht zum Wind gehörte.

Sie blieb stehen. Ein Mann, groß, etwas steif in der Haltung, schritt die Straße entlang. Ein Mantel wehte um seine Beine, die Schuhe glänzten selbst im fahlen Laternenlicht. Er sah nicht aus, als gehöre er hierher. Martha spürte ein eigenartiges Ziehen in der Brust, eine Mischung aus Neugier und Wiedererkennen. „Woher kenne ich diesen Gang?“, dachte sie. Vielleicht aus einer alten Geschichte. Vielleicht aus einem Traum. Sie schob den Karren weiter, langsam, bedächtig. Ihre Schritte hallten auf dem Pflaster, mischten sich mit den seinen. Die Nacht schien sich zu verdichten, als

wolle sie beide umschließen, damit nichts verloren gehe. Ein schwaches Leuchten überzog den Platz vor dem ehemaligen Hotel. Das Portal war halb geöffnet, als wartete es auf jemanden. Martha sah hinüber – und glaubte, einen Schatten durch die Tür gleiten zu sehen. Dann war alles wieder still. »Ein Faktotum,« murmelte sie, »immer in Bewegung, auch wenn alles steht.« Sie lächelte, und der Mond glitt über ihr Gesicht wie eine Hand, die zärtlich sagt: Schreib weiter. Der Wind drehte. Eine Zeitung löste sich aus einer Ecke und flatterte an ihr vorbei.

Martha hob sie auf. Die Schlagzeile war unleserlich, nur ein Wort blieb: Feuer. Sie faltete das Papier ordentlich zusammen, legte es in ihren Karren und ging weiter, hinein in die Dunkelheit, die so still war, dass sie fast klang. Da, aus der Richtung des Hotels, ertönte ein leises Quietschen – das Geräusch einer Tür, die sich öffnet, und eines Atems, der zögert. Martha blieb stehen, hob den Kopf, als lausche sie einer Stimme, die nur sie hören konnte. Ein schwacher Lichtschein fiel über das Pflaster, streifte ihre Schuhe, dann erlosch er wieder. Sie lächelte. »Na also,« flüsterte sie, »da

ist er ja wieder.« Und irgendwo, tief im Innern des alten Hotels, begann jemand seine Schritte zu zählen. Das Hotel und das Faktotum Ein Zittern ging durch die Luft, als die Tür ins Schloss fiel. Der Laut hallte lange nach, wie ein fernes Donnern in vergessenen Bergen. Andras blieb stehen. Seine Finger ruhten noch auf dem kalten Messinggriff, als müsse er sich vergewissern, dass er wirklich dort war – wieder einmal. Wie jede Nacht.

Das Hotel roch nach abgestandenem

Wasser und nach Parfum, das längst keinen Namen mehr hatte. In der Halle stand die Rezeption im Halbdunkel, als warte sie noch auf Gäste, die nicht mehr kommen würden. Über den Teppichen lag Staub, der wie Schnee wirkte, vom Atem der Jahre verweht. Andras richtete seine Uniform. Der Kragen war steif, die Manschetten makellos. Niemand sollte sehen, dass er nicht mehr ganz von dieser Welt war. Er schob das Kinn leicht vor und lächelte, ein Dienerlächeln – höflich, unerschütterlich, so wie er es gelernt hatte, als Lächeln noch eine Pflicht war. „Die Honeymoonsuite,“ murmelte er, „immer zuerst die Honeymoonsuite.“

Er ging den Flur entlang, und seine Schritte klangen, als führten sie durch Wasser. Die Lampen an den Wänden flackerten nicht, sie atmeten – ein mattes, gleichmäßiges Pulsieren, das kam und ging. Vor der Suite blieb er stehen. Das goldene Schild war blind geworden. Andras nahm sein Tuch und polierte die Buchstaben, bis sie wieder glommen: Suite 7 – Für die Nacht der Ewigkeit. Er lächelte. „So stand es schon immer da,“ sagte er leise, als müsse er es sich selbst erklären. Dann öffnete er die Tür.

Innen war alles unverändert: Das Bett

aufgeschlagen, der Champagner geöffnet, zwei Gläser nebeneinander, halb voll. Die Luft roch nach Rosen und nach etwas Metallischem, fast wie Blut. Er nahm das vergoldete Toilettenpapier, rollte ein Stück ab, sorgfältig, andächtig fast, und legte es zusammen. Es war sein kleines Ritual, sein Beweis, dass er noch handeln konnte. Dass noch etwas geschah. „Immer dasselbe,“ murmelte er, und seine Stimme klang, als käme sie aus einer fernen Röhre. Er trat ans Fenster. Draußen lag die Stadt, blass und still unter dem Mond. Da war die alte Frau mit dem Karren. Er hatte sie schon oft gesehen.

Ihr Gesicht war freundlich, alt, ein wenig zerbrechlich – und doch war da etwas in ihrem Blick, das ihn jedes Mal auf seltsame Weise erschütterte. Er wusste nicht, warum. Nur, dass sie ihn zu kennen schien. „Sie lächelt wieder,“ flüsterte er. Er lächelte zurück – ein kurzes, unsicheres Lächeln, das niemand sah. Dann trat er zurück ins Halbdunkel, schloss die Tür und begann den Rückweg. In den Fluren hing ein Bild – groß, von dunklem Holz gerahmt. Es zeigte die Stadt, wie sie einst war, in Flammen. Menschen, die erstarrten, als die Zeit stehen blieb.

Er blieb davor stehen, wie jede Nacht. Das Feuer im Bild flackerte für einen Moment auf, als habe es ihn erkannt. Andras hob die Hand und strich über den Rahmen. Sein Spiegelbild sah ihn an, doch die Augen darin gehörten nicht mehr ganz ihm. „Feuer,“ flüsterte er. „So war es also.“ Er wusste nicht mehr, ob er damals gelebt oder nur gedient hatte. Draußen hörte er Schritte. Ein leises, schleppendes Geräusch auf dem Pflaster, das ihm seltsam vertraut war. Er lächelte. „Na, da ist sie ja wieder.“

Dann ging er, den vergoldeten

Papierstreifen in der Hand, hinaus in die Nacht – geradewegs in die Richtung, aus der Martha kam. Die Begegnung Die Nacht hielt den Atem an. Das Licht der Straßenlaterne zitterte über den nassen Pflastersteinen, als wolle es das Kommende selbst nicht zu grell ausleuchten. Martha blieb stehen. Ihr Karren schwieg. Vor ihr, kaum zehn Schritte entfernt, stand der Mann, den sie schon oft gesehen hatte – immer in Bewegung, immer an diesem Ort, als gehöre er zu den Schatten der Häuser.

Er wirkte groß in seiner altmodischen Uniform, der Kragen so akkurat, dass selbst der Wind ihn nicht zu rühren wagte. Doch sein Gesicht … es war müde, in einem ungreifbaren Sinn. Er lächelte, aber das Lächeln kam von weit her, wie aus einer anderen Zeit. Martha zog ihre Strickjacke enger um die Schultern. »Verzeihen Sie,« sagte sie, und ihre Stimme war leiser als der Wind, »dürfte ich Sie etwas fragen?« Er blinzelte, überrascht. »Gnädige Frau, was kann ich für Sie tun?« Das war kein gewöhnlicher Ton. Es klang nach Diener, nach Zeremonie, nach etwas, das längst nicht mehr gebraucht

wurde. »Ich sehe Sie oft, hier, beim Hotel, jede Nacht. Was tun Sie da? Es ist doch geschlossen, seit … ach, seit Ewigkeiten.« Er sah sie an. Etwas in seinen Zügen verriet Unsicherheit, als müsse er sich selbst erst fragen, bevor er antwortete. »Darauf,« sagte er gedehnt, »habe ich keine Antwort. Jede Nacht zieht es mich dorthin, und jede Nacht bringe ich etwas hinaus. Ein Rest. Ein Zeichen. Vielleicht ein Gruß.« »Ein Gruß?« »Für jemand, den ich nicht kenne. Oder nicht mehr erkenne.«

Martha lächelte milde. »Dann sind wir uns ähnlicher, als ich dachte.« Er neigte den Kopf, und in seinen Augen flackerte etwas – Erkennen oder bloße Verwirrung, sie wusste es nicht. Der Wind wehte eine Papierseite aus Marthas Karren. Sie flog davon, drehte sich in der Luft und landete vor seinen Füßen. Er hob sie auf, glättete sie sorgsam. »Das ist Ihre Schrift, nicht wahr?« »Ja. Eine alte Geschichte. Ich schreibe, damit die Dinge bleiben. Oder damit sie endlich gehen können.« Er betrachtete die Zeilen. »‚Das Faktotum,‘« las er laut.

Dann schwieg er. Ihre Blicke begegneten sich. In diesem Augenblick war etwas in der Luft – ein kaum wahrnehmbares Knistern, wie das erste Atemholen nach langem Schlaf. »Ich kenne diesen Namen,« sagte er schließlich. »Aber ich weiß nicht, woher.« »Vielleicht,« flüsterte Martha, »aus meinen Geschichten.« Er lächelte, doch diesmal zitterte sein Mund. »Dann wäre ich also … Ihr Werk?« »Vielleicht mehr,« antwortete sie. »Vielleicht bist du das, was bleibt, wenn ich nicht mehr schreibe.«

Er nickte langsam. »Dann geben Sie mir bitte einen Namen. Ich glaube, ich habe ihn verloren.« Martha legte die Hand an die Stirn, dachte kurz nach. »Andras,« sagte sie schließlich. »Kurz, klar, ein bisschen fremd. Er klingt, als könne er Feuer tragen, ohne zu verbrennen.« Er schloss die Augen, als koste er den Klang. »Andras. Ja. Das bin ich.« Ein lautloses Bellen ließ beide aufhorchen. Aus dem Schatten eines Hauseingangs trat Strupp, wedelnd, mit funkelnden Augen.

Er lief zu Martha, legte den Kopf auf ihr Knie, dann sah er Andras prüfend an. »Mein kleiner Freund,« sagte Martha, »das ist Andras. Wir werden wohl noch viel voneinander hören.« Strupp knurrte leise, als müsse er darüber nachdenken, und dann war er still. Ein Moment völliger Ruhe. Nur das Tropfen der Dachrinne, das ferne Läuten einer Glocke. Andras trat einen Schritt näher. »Was machen Sie hier draußen, Martha?« fragte er. »Ich warte auf das Ende einer Geschichte,« sagte sie schlicht. »Und Sie?«

Er sah zu Boden. »Ich fürchte, ich warte auf den Anfang.« Da lächelte sie. »Dann sind wir wohl richtig, mein Freund. Denn manchmal beginnt alles genau dort, wo man glaubt, es sei vorbei.« Und irgendwo über ihnen brach eine Wolke auf. Ein schwacher Lichtstrahl fiel auf das Hotel – und die beiden Gestalten, die davor standen, wie zwei Namen, die sich nach Jahren wiederfinden.




Der Vorschlag Der Morgen war noch fern, doch der Himmel hatte sich aufgehellt. Ein fahles Licht lag über den Dächern, das nicht kam und nicht ging – ein Zwischenlicht, wie geschaffen für jene, die nirgendwo ganz hingehören. Martha saß auf der Bank unter den Bäumen am Rand des Platzes. Neben ihr schnaufte Strupp leise, zusammengerollt, der Kopf auf den Pfoten. Andras stand einen Schritt entfernt, als traue er sich nicht, ganz in ihr Bild zu treten.

»Setzen Sie sich, Andras,« sagte Martha.

»Man denkt besser, wenn man sitzt.« Er folgte ihrer Aufforderung zögernd, die steifen Hände auf den Knien. Für einen Moment schwieg die Stadt. »Ich habe nachgedacht,« begann er schließlich, »über das, was Sie sagten. Dass ich vielleicht aus Ihren Geschichten komme.« »Vielleicht,« sagte sie. »Aber selbst das ist schon eine Geschichte wert.« Er nickte langsam, dann sah er sie an, mit einem Blick, der ernst war und flehend zugleich. »Wenn ich also wirklich aus Ihrer Feder stamme – dann könnten Sie mir doch … helfen.«

»Wobei?« »Bei meinem Ende.« Sie hob die Brauen. »Dein Ende? Du lebst doch noch.« »Ja. Aber nur, weil es niemand zu Ende geschrieben hat. Ich laufe hier herum, Nacht für Nacht, wie eine Figur, die vergessen wurde, nachdem die letzte Seite umblätterte. Ich erinnere mich an Handgriffe, an Worte, an Räume – aber nicht mehr an Sinn. Ich bin geblieben, weil niemand beschlossen hat, dass ich gehen darf.« Martha schwieg. Etwas in seinen Worten schnitt ihr ins Herz. Sie sah die Hefte in ihrem Karren, das Bündel aus Geschichten, die sie einst mit

glühender Hand geschrieben hatte. Manche waren nie beendet worden. Manche hatte sie verworfen. »Du meinst, ich habe dich erschaffen – und dann vergessen?« Er senkte den Kopf. »Ich werfe es Ihnen nicht vor. Nur – vielleicht könnten Sie das jetzt ändern.« Ein Windstoß wehte über den Platz, und ein paar Blätter taumelten zwischen ihnen hindurch. Martha nahm eines auf, betrachtete die feinen Adern darin. »Alles lebt, solange jemand hinsieht,« murmelte sie. »Selbst ein Blatt. Selbst du, Andras.« Er lächelte schwach. »Aber ich will nicht nur leben. Ich will

vollenden. Ich will wissen, wofür ich war.« Martha legte die Hand auf das Heft in ihrem Schoß. »Und was, wenn ich es schreibe – und du verschwindest, sobald die Geschichte endet?« »Dann war ich wenigstens ganz.« Die Antwort traf sie mit sanfter Wucht. Sie betrachtete sein Gesicht, die Linien, den Schatten in seinen Augen – ein Gesicht, das ihr vertraut war, als hätte sie es einst gezeichnet, in einem Anflug von Sehnsucht. »Du bist ein seltsamer Mann, Andras.« »Nein. Nur einer, der zu spät bemerkt, dass Worte stärker sind als das Leben.«

Martha lächelte matt. »Da sind wir uns ähnlich.« Sie zog ihren Stift hervor, blätterte in einem Heft. Das Papier war weich und brüchig vom vielen Anfassen. »Gut, mein Freund. Wenn du willst, schreibe ich dich weiter. Aber du musst mir eines versprechen.« »Was immer Sie wünschen.« »Du darfst mir nicht böse sein, wenn ich dich verliere. Geschichten tun das manchmal – sie nehmen, was sie lieben, und lassen es im Dunkel zurück.« »Ich verspreche es,« sagte Andras. Seine Stimme war kaum hörbar, aber sie trug Gewicht, wie ein Eid.

Dann sah sie ihm direkt in die Augen.

»Sag mir, was du willst. Nicht als Figur – als Mensch.« Er schwieg. Lange. Dann: »Frieden.« Das Wort hing zwischen ihnen, zart und wahr, wie ein Licht, das nicht aus dieser Welt war. Martha nickte. »Dann will ich dir Frieden schreiben, Andras.« Sie beugte sich über ihr Heft, und die Spitze des Stifts setzte an. Ein Ton erklang – kaum hörbar, wie das Kratzen eines Vogelschnabels über Glas. Doch als sie die ersten Zeilen schrieb, spürte sie, wie etwas in der Luft vibrierte. Der Boden unter ihren Füßen atmete. Das Licht der Laternen flackerte

– nicht im Wind, sondern im Rhythmus der Worte, die sie schrieb. Andras schloss die Augen. Für einen Moment glaubte er, Stimmen zu hören – alte, vertraute Laute, die aus der Tiefe seiner Erinnerung kamen. Dann – Stille. Martha legte den Stift beiseite. »So,« sagte sie leise. »Der Rest wird sich finden.« Strupp hob den Kopf, sah sie beide an, als wüsste er, dass etwas begonnen hatte, das nicht mehr aufzuhalten war. Und irgendwo, tief im Inneren der Stadt, flackerte wieder ein schwaches Feuer auf.


Strupps Weg Es war kurz vor dem Morgen, doch der Himmel blieb grau. Ein Wind zog über den Platz, kühl und sanft, wie ein Atemzug, der noch zögert. Martha hatte die letzten Worte geschrieben. Das Heft lag offen auf ihrem Schoß, die Tinte noch feucht, ein winziger Tropfen glitt über das Papier wie eine Träne. »Frieden«, stand dort. Nur dieses eine Wort, schlicht und rein. Andras sah auf die Zeile, und etwas in seinem Gesicht wurde weich. Er wirkte plötzlich jünger, als hätte das Schreiben ihn ein Stück von der Schwere

befreit, die er so lange getragen hatte. »Ich danke Ihnen, Martha«, sagte er. »Sag du. Wir haben die Schwelle schon überschritten.« Er nickte. »Dann danke ich dir.« In diesem Moment stand Strupp auf. Er schüttelte das Fell, gähnte kurz und blickte dann in die Ferne. Seine Ohren stellten sich auf. Er knurrte leise, nicht feindlich, sondern mahnend. Dann sah er sie beide an – eindringlich, als wolle er sagen: Folgt mir. Martha legte das Heft in den Karren, erhob sich mühsam. Andras griff wortlos nach dem Griff des Wagens und zog ihn an sich.

»Ich nehme das,« sagte er. »Du hast genug getragen.« Sie nickte dankbar. Strupp lief voraus, zielstrebig, durch ein Gewirr aus Gassen, vorbei an den dunklen Häusern, an Mauern, die sich im feuchten Licht zu bewegen schienen. Je weiter sie gingen, desto stiller wurde die Stadt. Selbst der Wind verstummte. »Wohin führt er uns?« fragte Andras. »Vielleicht dorthin, wo Geschichten enden,« antwortete Martha. Ein kaum merkliches Lächeln spielte um ihre Lippen, doch ihre Augen glänzten. Strupp blieb schließlich stehen. Vor ihnen lag ein schmaler Weg, gesäumt von blühenden Japankirschen.

Zwischen den Zweigen schimmerte ein Licht – kein kaltes Straßenlicht, sondern etwas Weiches, Lebendiges, das in allen Farben atmete. Eine Tür öffnete sich. Sie war einfach, aus Holz, doch der Schein, der daraus drang, war von einer Sanftheit, die das Herz erzittern ließ. Eine Gestalt trat hervor – nicht deutlich, nur Umrisse, warm und vertraut. Eine Stimme, ruhig und hell, sagte: »Kommt. Der Tee wird euch gut tun.« Martha blieb stehen. »Ich kenne diese Stimme,« flüsterte sie. »Ich glaube … sie hat mich einst begleitet.«

Strupp blickte zu ihr auf, stupste ihre

Hand, dann sah er zu Andras. Ein kurzer Laut, ein halbes Bellen, fast ein Lachen – und er lief davon, hinein in die Dunkelheit hinter ihnen. Martha sah ihm nach. »Er geht seinen Weg,« sagte sie leise. »So wie wir den unseren.« Andras nickte. »Vielleicht trifft er jemanden, der ihn weiterschreibt.« Martha lächelte, obwohl ihre Stimme bebte. »Vielleicht. Oder er wacht einfach über uns, bis das Licht ausgeht.« Sie legte die Hand auf Andras’ Arm. »Komm. Wir sollen gehen.« Er öffnete die Tür, und der warme Schein legte sich über ihre Gesichter.

Für einen Augenblick standen sie still, Seite an Seite. »Hast du Angst?« fragte sie. »Nein. Sterben kann ich ja nicht mehr.« Sie lachte leise. »Dann wirst du mich wohl beschützen müssen.« Er reichte ihr die Hand. Und als sie eintrat, fiel das Licht über sie beide – mild, fast irdisch. Hinter ihnen schloss sich die Tür ohne Laut. Und dort, wo sie gestanden hatten, begann die Sonne aufzugehen. Der Morgen Ein goldener Schimmer lag über allem. Nicht das grelle Licht des Tages, sondern

jenes frühe, noch tastende Leuchten, das zwischen Traum und Erwachen wohnt. Martha saß an einem Tisch aus hellem Holz. Vor ihr dampfte eine Tasse Tee. Der Duft erinnerte sie an längst vergangene Sommer – an Lindenblüten, an einen Garten, an Stimmen, die sie einmal geliebt hatte. Andras stand am Fenster. Er trug keine Uniform mehr. Nur ein schlichtes Hemd, die Ärmel hochgekrempelt. In seinem Gesicht lag Frieden, wie bei einem Menschen, der zum ersten Mal vergessen darf, was ihn einst gehalten hat.

»Wo sind wir?« fragte er, ohne sich umzudrehen. Martha blickte in den Dampf über ihrer Tasse. »Vielleicht sind wir im Zwischenraum«, sagte sie leise. »Zwischen Wort und Schweigen. Zwischen Herzschlag und Geschichte.« »Klingt poetisch.« »Ich bin Autorin, Andras. Ich kann nicht anders.« Er lachte, und der Klang war so menschlich, dass sie lächeln musste. Draußen lag eine Landschaft, zart und nebelhell. Die Stadt war verschwunden, ebenso die Schatten, das Pflaster, der Marktplatz.

Nur eine weite Ebene blieb, von Licht durchzogen. Ein Wind wehte, als blättere jemand in einer unsichtbaren Seite. »Ich erinnere mich an etwas,« sagte Martha. »An dein Heft?« »Ja … an die letzte Zeile. Sie lautete ›Frieden‹. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich sie geschrieben oder nur geträumt habe.« Andras trat zu ihr. »Vielleicht war es beides. Vielleicht war das Schreiben selbst der Traum, und der Traum das Erwachen.« Sie nickte, langsam, als begänne sie zu begreifen.

Dann sah sie auf ihre Hände – sie waren ruhig, faltenlos, durchsichtig wie Pergament im Gegenlicht. Kein Zittern mehr, kein Gewicht. Nur Klarheit. »Ich glaube, ich habe mein Ende gefunden,« sagte sie. »Nein, Martha. Du hast es geschrieben. Und das ist nicht dasselbe.« Ein warmer Luftzug strich über sie. Vom Fenster her fiel das Licht in langen Bahnen über den Boden, und darin tanzten winzige Staubkörner – wie Sterne in einem stillen Kosmos. Sie standen auf. Martha nahm Andras’ Hand. »Was jetzt?« fragte sie.

Er lächelte, leicht, fast schelmisch. »Jetzt schreiben wir weiter. Zusammen.« Im nächsten Augenblick flutete das Licht in den Raum. Kein Schmerz, kein Verlust – nur eine große, stille Helle. Und irgendwo, am Rand eines neuen Morgens, blätterte jemand eine Seite um. Ob es Martha war, oder eine andere Hand, blieb ungewiss. Doch auf dem Papier stand eine einzige Zeile, fein und leuchtend:

Manchmal erwacht die Geschichte, die wir schreiben – und schreibt uns heim.

0

Hörbuch

Über den Autor

KatharinaK
Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht:
Der Winter ist ein Bösewicht,
die Bäume tragen Schneegewicht,
die Stämme sind kahl
und so schwarz wie ein Pfahl,
die Felder sind weiß
und auf dem See liegt Eis.
In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.

Leser-Statistik
2

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Zeige mehr Kommentare
10
0
0
Senden

172806
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung