Der Tag roch nach Eisen, Salz und warmem Tang. Das Meer lag ruhig, doch die Luft zitterte.
Korar stand im seichten Wasser, barfuß, das Gewand halb durchsichtig vom Licht.
Unter der Oberfläche schimmerten die Schleime — kleine, atmende Körper aus Gel und Erinnerung.
Die Schleimkönigin hob sich zuerst. Ihr Körper glitt aus dem Wasser, formte langsam Arme, Schultern, einen Kopf. Die Bewegung war flüssig, jede Welle ein Atemzug.
Ihre Augen öffneten sich wie zwei Linsen aus Licht.
Sie hob die rechte Hand, drehte sie leicht, die Finger zogen Linien in die Luft, rund und weit.
Das war die erste Frage: Warum erzittert das Meer?
Kein Laut, nur Bewegung, Ausdruck, eine Vibration im Wasser.
Korar antwortete still. Sie hob beide Hände, ließ sie sinken, dann ein harter Schnitt in der Luft — ein uraltes Zeichen.
Die Gebärde sprach: Etwas kommt.
Laut. Scharf. Menschlich.
Die Kinder der Königin hielten inne. Ihre Körper veränderten Farbe — von klar zu milchig, dann bläulich.
Ein kleiner Schleim formte kurz einen Arm, eine Hand, versuchte, menschliche Geste nachzuahmen, unbeholfen, kindlich.
Er bebte, zeigte auf das offene Meer, Bewegung schnell, abgerissen.
Jagen sie wieder? fragte er mit einem Zittern durch den ganzen Körper.
Korar legte die Hand über ihr Herz, ließ sie über ihre Brust gleiten, dann öffnete sie sie, als würde sie etwas freigeben.
Ja. Die Bewegung war weich, aber schwer. Sie kommen. Sie nehmen.
Die Königin antwortete — die Oberfläche ihres Körpers wogte, eine Geste, die an Atmen erinnerte, dann brach sie plötzlich auf, ein Stoß, eine Welle: Kampf?
Korar schüttelte langsam den Kopf.
Ihre Gebärden wurden stiller, runder. Eine Hand auf den Boden, die andere nach oben, Finger leicht gespreizt: Erinnern. Nicht
zerstören.
Die Kinder glitten näher. Einer schmiegte sich an ihre Wade, ein anderer krabbelte wie ein Kind in ihren Schatten.
Sie sahen sie an — viele Augen, viele Gesichter, alle halbgebildet, halb Licht.
Da begann Korar zu erzählen. Nicht in Worten, sondern in Bewegung.
Sie setzte sich, die Hände auf dem Wasser, der Atem ruhig.
Sie erzählte vom Kind im roten Tuch, das in den Wald ging.
Ihre Hände zeichneten die Bäume — Finger wie Äste, die sich verflechten.
Dann kam der Wolf: ein Ruck durch den Körper, ein Ausbruch, die Gebärde ein Zähnefletschen aus Fingern.
Das Kind verlor den Weg; der Wolf verschlang es.
Aber die Geschichte blieb nicht dort stehen.
Korar legte die Hand auf ihren Bauch, ließ sie nach außen gleiten — das Zeichen für „Leben im Dunkeln“.
Ihre Augen schlossen sich. Manchmal muss man verschlungen
werden, um zu wissen, wer man ist.
Die Kinder bewegten sich sacht, ihre Körper schwangen im gleichen Rhythmus.
Ein leises Summen vibrierte durch das Wasser — keine Worte, nur Zustimmung.
Korar öffnete die Augen, blickte in den Horizont.
Ihre Hände hoben sich ein letztes Mal, Geste weit, schwebend, dann geschlossen zu einer Faust.
Wenn der Wind nach Rauch riecht, sprach ihr Körper, dann wisst, dass es begonnen hat.
Die Königin neigte den Kopf. Ihre Kinder lösten sich, wurden zu Wasser, zu Licht, zu Stille.
Korar blieb allein.
Der Himmel färbte sich grau. Über der Ferne sah sie etwas aufsteigen — Rauch, noch klein, aber wachsend.
Sie wusste, dass sie diesmal nicht nur erzählen konnte.
Sie würde handeln müssen.
Der Geruch von Öl, Leder und Metall hing schwer in der Luft. Die Klinik war kein heller Ort mit weißen Laken, sondern ein Schacht aus Eisen, Lärm und schwitzenden Frauen in Schürzen. Zahnräder mahlten, ein dampfendes Rohr zischte in der Ecke. Überall standen Käfige – darin Wesen aus Nehásh, Ahnamara, selbst halb verbrannte Engel, die für die Ärzte nichts anderes waren als Versuchsobjekte.
Talee lag auf einer Liege aus kaltem Stahl, die Fesseln aus Leder
schnitten ihr in die Haut. Sie zitterte. Ihr Körper war ausgezehrt, das Brandzeichen auf ihrem Oberschenkel geschwollen, von Eiter überzogen. Ein süßlich-fauliger Geruch breitete sich aus.
Die Ärztin – eine Frau mit harten Augen und rußgeschwärzten Händen – warf Azrael einen Blick zu.
„Du hättest sie früher bringen müssen.“ Ihre Stimme war scharf, voller Vorwurf. „Das Öl, das ihr in Velramis nutzt… es hat die Wunde nur schlimmer gemacht. Jetzt fault das Fleisch.“
Azrael wollte widersprechen, doch ihre Kehle war trocken. Sie stand am Rand des Raumes, zwischen den Käfigen, die klirrten, wenn sich ein anderes Wesen bewegte. Für die Frauen hier war Talee nicht mehr als ein Tier, und Azrael musste es ertragen.
Die Ärztin legte ein Werkzeug an – eine scharfe Klinge, heiß gemacht am Feuer. Talee zuckte, wollte schreien, doch der Knebel aus grobem Stoff hielt ihre Stimme zurück. Ihre Augen weiteten sich, Tränen liefen über ihre Wangen.
„Fixieren!“ rief die Ärztin. Zwei Helferinnen – beide jung, beide mit verbissenen Gesichtern – drückten Talees Beine nieder. Leder schloss sich enger um ihre Knöchel und Handgelenke. Die Klinge schnitt in die Wunde, Eiter spritzte, ein ätzender Geruch stieg auf. Talee wand sich, schrie stumm, der ganze Körper verkrampfte.
Azrael schloss die Augen. Doch das half nichts – sie hörte jeden Laut, jedes Zischen der Wunde, jedes Keuchen Talees. Sie hörte den Schlag der Kette, wenn die
Helferinnen sie fester zogen.
„Sie wird überleben,“ murmelte die Ärztin schließlich. „Wenn sie es will. Aber Narben bleiben. Immer.“
Die Wunde wurde mit einer zähen Paste bestrichen, dann legten sie einen Verband aus Stoff, der nach Kräutern roch. Talee atmete flach, ihre Augen rollten nach hinten, als ob sie die Welt verlassen wollte.
„Sie ist kein Mädchen,“ fuhr die Ärztin Azrael an, „sondern ein Tier. Und wenn du weiter so nachlässig bist, wirst du noch mehr Vieh
verlieren.“
Azrael öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch sie wusste: Sie durfte nicht widersprechen. Nicht hier. Nicht vor all den Frauen, die sie musterten wie eine Verräterin, weil sie das „Tier“ an ihrer Seite verteidigte.
Sie nickte nur, während in ihr Schuld und Hass brannten. Schuld, weil sie Talee nicht früher befreit hatte. Hass, weil selbst hier, in der „freien Welt“, das Kind aus Nehásh nur ein Tier blieb.
Talee lag still. Ihre Brust hob und senkte sich kaum. Azrael sah sie an – die dünnen Arme, die vom Leder gezeichnete Haut, die verbrannte Stelle, die jetzt wieder blutete. Und sie schwor sich: Sie würde nicht zulassen, dass sie nur ein Tier blieb. Nicht für Luzifer. Nicht für Gott. Nicht für irgendjemanden.
Die Klinik roch nach Metall, Dampf und Alkohol. Die Frauen in grauen Kitteln gingen wortlos zwischen den Liegen hin und her. Jedes Geräusch – das Klirren von Werkzeug, das Schaben von Schritten – klang wie ein Urteil.
Talee lag noch immer an Riemen befestigt, doch die Spannung war gelockert. Man ließ ihr gerade so viel Bewegung, dass sie atmen, trinken, zucken konnte. Die Ärztin nannte sie nicht beim Namen. Auf den Formularen stand nur:
Feldexemplar 17 – Nehásh, weiblich, Element Erde.
„Sie reagiert weiter auf Reizimpulse,“ sagte eine der Ärztinnen. „Aber die Koordination ist minimal. Sprache unbekannt.“
Ihre Stimme war sachlich, fast desinteressiert. Sie notierte Werte, ohne aufzusehen.
Azrael stand daneben, die Hände verschränkt, den Blick auf Talees Gesicht gerichtet.
„She understands more than you think,“ (Sie versteht mehr, als Sie glauben,) sagte sie leise.
Die Ärztin sah kurz auf. „Verstehen ist kein Kriterium. Wir messen nur Reaktion.“
Dann wandte sie sich wieder dem Messgerät zu.
Talee versuchte, die Finger zu bewegen. Es war kein richtiger Griff, nur ein unvollständiges Zittern, das kaum über das Handgelenk hinausreichte. Ihr Atem war flach, die Schultern angespannt, als müsse sie sich gegen etwas Unsichtbares stemmen.
Azrael machte unwillkürlich einen
Schritt näher.
„Don’t push her,“ (Belasten Sie sie nicht,) rief die Ärztin. „The joints are still unstable.“ (Die Gelenke sind noch instabil.)
Talee hörte die Stimmen, verstand die Worte nicht, nur den Ton: Befehle, Kontrolle, Fremdheit. In ihr zog sich alles zusammen. Sie schloss die Augen, suchte Halt in der Bewegung, die sie kannte – Sha-nú, doch die Muskeln versagten. Nur ein Zucken blieb, eine Erinnerung an Sprache, an Freiheit.
Die Ärztin schrieb weiter.
„Primitive reflexes are intact.“ (Primitive Reflexe sind erhalten.)
Für sie war Talee keine Person, sondern eine Funktion: Puls, Reaktion, Heilungsquote.
Azrael sah ihr zu. Die Worte der Ärztin prallten an ihr ab, wurden zu Rauschen. Sie spürte, dass das, was auf der Liege lag, weder Tier noch Patient war – sondern ein Wesen, das sie nicht retten konnte, solange alle anderen es „Exemplar“ nannten.
Sie griff nach der Wasserkanne, füllte einen Becher.
„Here,“ (Hier,) sagte sie, leise, fast bittend. Sie hielt den Becher an Talees Lippen.
Talee öffnete den Mund ein Stück, trank, verschluckte sich. Dann hob sie mühsam die Hand – so weit, wie der Riemen es zuließ – und strich, zittrig und unvollständig, ein Zeichen über die eigene Brust. Eine Bewegung, gebrochen, doch erkennbar: Erinnerung an Sha-nú.
Azrael verstand nicht, aber sie sah hin. Sie hielt die Geste im Gedächtnis, so wie man ein Wort lernt, das man noch nicht aussprechen kann.
Die Ärztin machte eine letzte Notiz.
„Specimen seems calmer. Keep monitoring.“ (Exemplar scheint ruhiger. Beobachten Sie es weiter.)
Dann drehte sie sich um und ging.
Azrael blieb, starrte auf Talees Hände – die versuchten, zu reden, obwohl niemand zuhören wollte.Das Licht flackerte wie eine gequälte Lunge.
Die Klinik roch nach Metall, Desinfektion und Angst. Draußen klirrten Schienen, Tragen quietschten über den Boden.
Drinnen: nur Atem, Maschinen, und das leise Tropfen eines Infusionsschlauchs.
Talee lag auf einer schmalen Liege. Die Riemen hielten sie noch fest, doch nicht mehr ganz so eng. An den Gelenken lag der Verband, darunter pochte es.
Sie blinzelte, tastete die Luft mit müden Augen.
Azrael saß daneben, die Hände um einen Becher geschlossen. Der Dampf stieg auf, formte kurz ein Gesicht, dann verging es wieder.
Die Ärztin notierte Werte, prüfte
die Linien der magischen Siegel, deren Schimmer sich blass über Talees Haut legte.
„Heart rate stable,“ (Herzschlag stabil,) murmelte sie. „Still no full response.“ (Noch keine vollständige Reaktion.)
Azrael nickte nur, den Blick auf Talee gerichtet.
Ein Laut unterbrach die Stille – rau, brüchig, zu tief für die schmale Kehle.
Talee versuchte zu sprechen.
„Hásho… naéwa… yiré…“
(Die Worte klangen weich, wie Wasser, das gegen Stein schlägt. Eine Bitte. Ein Erinnern.)
Azrael beugte sich vor. „What?“ (Was?)
Talee blinzelte langsam, ihre Lippen zitterten. Wieder kamen Laute, undeutlich, wie durch Schmerz gebrochen:
„Yanéwa… hásho… hánel…“
(„Mutter… hilf… bleib…“)
Azrael verstand nichts – nur die Angst im Ton. Sie streckte eine Hand aus, stoppte kurz, wagte es dann, die Schulter zu berühren.
Talee zuckte. Reflex, instinktiv. Dann blieb sie still.
„It’s okay,“ (Schon gut,) sagte Azrael, leise. „You’re safe now.“ (Du bist jetzt sicher.)
Doch das klang hohl in der Luft.
Talee schüttelte den Kopf, so schwach, dass es kaum sichtbar war. Ihre Lippen formten wieder Worte, die nicht hierher gehörten.
„Shaalí… korarí… neshí…“
(„Wasser… Mutter… Zuhause…“)
Die Ärztin trat näher, runzelte die Stirn. „Stop that. She’ll choke.“ (Hör
auf damit. Sie könnte sich verschlucken.)
Azrael wich nicht zurück.
„She’s trying to speak.“ (Sie versucht zu sprechen.)
„She’s a field animal, not a patient.“ (Sie ist ein Wildtier, keine Patientin.)
Die Ärztin notierte etwas auf ihrem Klemmbrett, die Stimme nüchtern wie Metall.
„Keep her hydrated. No solids.“ (Flüssigkeit, keine feste Nahrung.)
Als die Tür hinter ihr zufiel, war es wieder still.
Talee starrte an die Decke, ihre Lippen bewegten sich stumm. Ein Rest Laut, dann nichts mehr.
Azrael hörte zu, auch wenn sie nichts verstand. Es war, als würde das fremde Sprechen den Raum verändern – als würde jedes Wort etwas zurückrufen, das älter war als Schmerz.
„Naéwa…“ flüsterte Talee ein letztes Mal, kaum hörbar. (Der Laut klang wie Wind durch Blätter.)
Dann schloss sie die Augen.
Azrael saß da, lange.
Sie wusste nicht, ob sie betete oder nur lauschte.
Aber sie schwor sich: sie würde
diese Sprache lernen – egal, wie lange es dauerte.Drei Tage nach der Operation war der Raum kälter geworden.
Die Ventile zischten seltener; der Dampf legte sich wie feiner Staub auf das Metall.
Talee lebte.
Nicht gut, nicht ruhig – aber sie atmete, und das war in dieser Klinik schon ein Wunder.
Azrael kam jeden Morgen. Sie trug
jetzt die graue Schürze der Pflegerinnen, um nicht aufzufallen. In der Hand eine Schale mit Brühe, aus Algen und Kräutern gekocht. Der Geruch war bitter, medizinisch.
Die Ärztin hatte sie gewarnt: Nur flüssig, keine Bewegung, keine Emotion.
Talee lag halb auf der Seite. Der Verband am Oberschenkel glänzte vom Siegellicht, die Gelenke an Händen und Füßen blieben geschwollen. Wenn sie sich bewegte, war es nur ein Zittern.
Ihre Lippen waren trocken.
Azrael hob vorsichtig ihren Kopf, legte den Löffel an.
„Easy,“ (Langsam,) flüsterte sie. „Just a little.“ (Nur ein bisschen.)
Talee nahm den ersten Schluck. Dann den zweiten.
Ihre Finger zuckten – Reflexe, Erinnerungen an Gebärden, die ihr Körper noch kannte.
Da war kein Schmerzschrei mehr, nur ein leises Summen aus der Kehle, rau wie Sand auf Metall.
„Hásho… nehwá…“
(Der Klang trug eine Bitte, fast ein Lied – Wärme… bleib….)
Azrael verstand es nicht, aber sie hörte den Rhythmus.
Sie stellte den Becher ab, legte eine Hand über Talees Finger.
„You can rest.“ (Du kannst dich ausruhen.)
Doch Talee sah sie an, starr, fast trotzig.
Die Pupillen weiteten sich, als würden sie etwas sehen, das nicht hier war – Wasser, Licht, etwas, das sie verlor.
Dann hob sie langsam zwei Finger, zitternd, schwach.
Die Bewegung war unvollständig,
aber klar genug, dass Azrael sie wahrnahm: eine Linie über die Brust, ein Kreis über das Herz – Sha-nú, der Versuch eines Zeichens.
„Naí… nehesh…“
(Wortfetzen – Ich… Heimat…)
Azrael erkannte das Muster, nicht die Bedeutung.
Sie wiederholte die Bewegung unbeholfen.
„Like this?“ (So?)
Talee blinzelte, und in dem müden Gesicht huschte für einen Atemzug etwas wie Zustimmung.
Dann sank sie zurück in das Kissen, das Atmen wieder flach, gleichmäßig.
Azrael saß da, die Finger noch erhoben, als könne sie die Geste in der Luft festhalten.
Der Raum war still, nur das ferne Klopfen der Maschinen.
Sie begriff langsam, dass dies kein Tier war – dass sie vor einer Sprache saß, die Körper war, Erinnerung, Überleben.
Später, als die Ärztin kam, fragte sie sachlich:
„Does it respond to stimuli?“
(Reagiert es auf Reize?)
Azrael antwortete:
„Yes. But not the way you think.“ (Ja. Aber nicht so, wie Sie denken.)
Die Ärztin notierte etwas, dann: „Keep observing. Record reflexes.“ (Beobachten. Reaktionen protokollieren.)
Als sie ging, blieb Azrael allein zurück.
Sie nahm Talees Hand in ihre, spürte die Wärme.
Ein unwillkürlicher Gedanke kam ihr:
Vielleicht war Heilung hier kein medizinischer Vorgang, sondern etwas anderes – Zuhören, Sehen, Begreifen.
Talee schlief.
Die Finger zuckten noch im Traum, formten Bewegungen, die niemand deuten konnte.
Und Azrael – die Tochter Luzifers, Forscherin, Ärztin, Erbin einer kalten Welt – begann, still mit den Fingern nachzuahmen, was sie gesehen hatte.
Nicht, m es zu verstehen.
Sondern, um nicht mehr so hilflos
zu sein.
Der Raum war still, fast zu still. Nur das leise Surren der Filterpumpen und das rhythmische Klicken der Sensoren brachen die Luft.
Ein rechteckiger Glaskubus füllte die Mitte des Raumes. Darin: Licht, Wärme, ein Bett aus glattem Material, zu sauber, zu hell.
Über den Böden liefen dünne Schläuche, die in Metallanschlüsse mündeten – Versorgung, Kontrolle, Sicherung.
Talee lag in der Mitte. Ihre Haut
war noch immer gerötet, das Siegel über der Wunde pulsierte matt.
An den Gelenken trug sie leichte Stützen aus biegsamem Stahl, um Bewegung zu verhindern.
Wenn sie sich regte, knirschte es leise.
Hinter der Glaswand standen zwei Frauen: die Ärztin und Azrael.
„Vitals stable,“ sagte die Ärztin tonlos. „But language response remains chaotic.“
(„Vitalfunktionen stabil. Aber Sprachreaktion bleibt chaotisch.“)
Azrael blickte durch das Glas. „She’s trying to communicate,“ sagte sie. „You can’t call it chaos just because you don’t understand.“
(„Sie versucht zu kommunizieren. Das ist kein Chaos, nur weil Sie sie nicht verstehen.“)
Die Ärztin hob eine Braue. „Understanding isn’t part of the study. Observation is.“
(„Verstehen gehört nicht zur Studie. Beobachtung schon.“)
Azrael antwortete nicht. Sie drückte auf das Zugangsterminal, ließ die Schleuse öffnen. Ein
warmer, schwerer Luftzug schlug ihr entgegen, als sie den Raum betrat.
Talee sah auf. Ihre Augen waren glasig, aber wach. Sie bewegte die Lippen, atmete flach.
Dann kam Sprache – roh, rhythmisch, ein Singen, das über die Wunde ihres Halses kratzte.
„Na’tho... ne’sha... ha’sho... blue...“
(„Wasser… Meer… blau…“)
Azrael blieb stehen, neigte den Kopf.
„You remember the sea?“ (Du
erinnerst dich an das Meer?)
Talee blinzelte.
„Sea... sea ha’sho... no cage… no glass…“
(„Meer… Meer Wasser… kein Käfig… kein Glas…“)
Ihre Stimme war dünn, brüchig, fast tonlos.
Dann flackerte etwas in ihr – ein unruhiges Zittern der Finger, eine Bewegung, als wolle sie greifen.
„No beast... no...“ Sie sprach wieder in ihrer Sprache: „Ta’lee… ne’nah... not beast…“
(„Nicht Tier… Talee… kein Tier…“)
Azrael ging in die Knie, vorsichtig, ohne näherzukommen.
„No one said you are,“ flüsterte sie. „You’re safe now.“ (Niemand hat das gesagt. Du bist sicher.)
Talee runzelte die Stirn, als hätte sie das Wort nicht verstanden.
„Safe?“
Dann lachte sie, kurz, rau. „Safe... same... cage... ha’sho cold…“
(„Sicher... gleich... Käfig... Wasser kalt…“)
Hinter der Glaswand seufzte die
Ärztin.
„She’s forming nonsense parallels. There’s no meaning in this.“
(„Sie bildet sinnlose Parallelen. Das hat keine Bedeutung.“)
Azrael drehte sich halb zu ihr um.
„Meaning isn’t yours to decide.“ (Bedeutung liegt nicht in Ihrer Entscheidung.)
Die Ärztin blieb regungslos. „We are scientists, not poets.“
(„Wir sind Wissenschaftlerinnen, keine Dichterinnen.“)
Talee beobachtete das Gespräch.
Ihre Augen wanderten von einer Frau zur anderen, unsicher, lauernd. Dann kam ein Laut, ein tiefes, kehliges Wort aus ihrer Sprache, das die Luft schnitt:
„Ha’tena... ta’lee no cold... home... home blue...“
(„Wärme… Talee… nicht kalt… Heimat… Heimat blau…“)
Azrael presste die Lippen zusammen. Sie verstand kaum etwas – nur, dass das Wort home mehr bedeutete als Ort. Es war Zustand. Erinnerung. Versprechen.
„You miss it,“ sagte sie leise. „Your
home.“ (Du vermisst es. Dein Zuhause.)
Talee sah sie an, der Blick klarer als zuvor.
„Miss... home... no come back...“
(„Vermissen… Zuhause… nicht zurückkommen…“)
Dann sprach sie wieder in ihrer Sprache, die Worte flossen, zu schnell, um sie zu deuten – ein Strom, wie Wellen, gebrochen, unaufhaltsam.
Azrael hörte zu.
Sie verstand kein Wort, und doch alles.
Die Ärztin beendete die Sitzung.
„Enough. She’s exhausted.“
(„Genug. Sie ist erschöpft.“)
Das Licht wurde gedimmt, die Maschinen senkten den Ton.
Talee sank zurück auf die Liege, flüsterte noch einmal, kaum hörbar:
„Ha’sho... blue... ta’lee... free...“
(„Wasser… blau… Talee… frei…“)
Azrael blieb am Glas stehen, die Stirn dagegen gelehnt.
Draußen im Labor zählte jemand Daten.
Drinnen, im Gehege, blieb nur der Atem eines Wesens, das l
angsam wieder lernte, zu sprechen – in einer Sprache, die niemand außer ihm verstand.
Der Saal war kühl und still.
Zwölf Frauen saßen an einem runden Tisch aus schwarzem Metall. Über ihnen summten Projektionslichter, die die Wände in blasses Blau tauchten.
Auf jedem Platz lag ein Tablet, ein Glas Wasser, ein Siegel des Forschungskollegiums.
Azrael stand in der Mitte, Hände gefaltet, der Blick geradeaus. Ihre Uniform war schlicht, die Ärmel hochgekrempelt.
Nur an den Fingern sah man noch
feine Spuren der Salbe, mit der sie Talees Haut gepflegt hatte.
Die Vorsitzende sprach zuerst – eine ältere Frau mit scharfen Augen und einer Stimme, die wie Glas klang.
„You violated research protocol number 12,“ sagte sie. „You engaged in emotional communication with a specimen under observation.“
(„Sie haben Forschungsprotokoll 12 verletzt. Sie sind eine emotionale Verbindung mit einem Untersuchungsobjekt eingegangen.“)
Azrael atmete tief. „I spoke to her,“ sagte sie. „She responded. That’s not emotion, that’s language.“
(„Ich habe mit ihr gesprochen. Sie hat geantwortet. Das ist keine Emotion, das ist Sprache.“)
Ein Murmeln ging durch den Raum.
Eine jüngere Wissenschaftlerin beugte sich vor.
„Language requires structure,“ sagte sie. „Grammar, syntax, repetition. What you describe are random noises.“
(„Sprache setzt Struktur voraus – Grammatik, Syntax, Wiederholung. Was Sie beschreiben, sind zufällige
Geräusche.“)
Azrael sah sie an, fest. „And yet you understand each other only because you choose to.“
(„Und doch verstehen Sie sich nur, weil Sie sich dafür entscheiden.“)
Kurzes Schweigen.
Ein anderer Ratspunkt schaltete eine Aufnahme auf den Bildschirm.
Die Aufzeichnung zeigte Talee im Gehege: abgemagert, die Augen halb geschlossen, die Lippen bewegten sich.
„Ha’sho… blue… home… no beast…“
Die Stimmen im Raum blieben still.
Die Vorsitzende sah zu Azrael.
„You call this language?“
(„Das nennen Sie Sprache?“)
„I call it survival,“ sagte Azrael. „She builds bridges out of what she remembers. Even if the words are broken, the meaning is clear.“
(„Ich nenne es Überleben. Sie baut Brücken aus dem, was sie erinnert. Auch wenn die Worte zerbrochen sind, ist die Bedeutung deutlich.“)
„Meaning,“ wiederholte jemand trocken, „is not measurable.“
(„Bedeutung ist nicht messbar.“)
Azrael hob den Kopf.
„Neither is pain. And yet you treat it.“
(„Schmerz ist auch nicht messbar. Und doch behandeln Sie ihn.“)
Ein Raunen, ein Blickwechsel.
Die Vorsitzende tippte mit dem Finger auf das Pult.
„Enough rhetoric. You are not a philosopher. You are a biologist. Your duty is to classify, not to empathize.“
(„Genug Rhetorik. Sie sind keine Philosophin. Sie sind Biologin. Ihre
Aufgabe ist es zu klassifizieren, nicht zu empfinden.“)
Azrael spürte, wie ihr Puls in den Schläfen pochte.
„If classification demands blindness, then we’re no better than God’s priests,“ sagte sie, leise aber deutlich.
(„Wenn Klassifikation Blindheit verlangt, sind wir keinen Deut besser als Gottes Priester.“)
Das Wort God fiel schwer in den Raum.
Eine der Wissenschaftlerinnen rutschte unruhig auf dem Stuhl.
Die Vorsitzende beugte sich vor.
„Watch your words. Blasphemy doesn’t suit our kind.“
(„Achten Sie auf Ihre Worte. Blasphemie steht uns nicht.“)
Azrael nickte, ohne die Augen zu senken.
„Then strike it from the record. Keep only the truth.“
(„Dann streichen Sie es aus dem Protokoll. Lassen Sie nur die Wahrheit stehen.“)
Die Sitzung endete in Stille.
Als Azrael hinausging, sah sie noch
einmal auf die Projektion, die Talee zeigte – wie sie am Glas saß, den Kopf geneigt, murmelnd, unbeirrt:
„Blue... home... not cage... ha’neta...“
(„Blau… Heimat… kein Käfig… Wärme…“)
Und Azrael wusste:
Vielleicht war das, was die Wissenschaf
tler „Noise“ nannten, das Einzige, was in dieser Welt noch wahr klang.
Der Saal war von Gold überzogen, doch das Licht fühlte sich kalt an.
Zwischen den Säulen standen Engel mit weißen Flügeln, die nicht mehr flatterten. Ihre Gesichter waren maskenhaft.
Der Boden glänzte wie Glas. Man sah das Spiegelbild derer, die über ihn schritten – und vielleicht war es das, was Jehova gefiel: dass niemand wagte, ihn direkt anzusehen.
Metatron las vom Pult, seine Stimme klar und hohl zugleich.
„In nomine Domini, fiat Lex Hammer Maleficarum.“
(Im Namen des Herrn – das Gesetz des Hexenhammers soll geschehen.)
Er sprach nicht laut, doch jedes Wort schnitt wie Metall.
Maria stand am unteren Ende der Treppe, das goldene Buch in den Händen.
Sie hielt es, als wäre es ein Kind, das sie nicht mehr schützen konnte.
Neben ihr Eva, barfuß, der Schleier halb gelöst, das Haar blond wie Asche.
Jesus stand etwas hinter ihnen.
Er sprach nicht; seine Augen folgten jedem Wort, das über Metatrons Lippen kam, als wollte er sie einzeln zerstören.
Adam trat aus der Reihe der Männer.
Sein Gesicht war stolz, seine Hände rein, makellos.
„Sic est voluntas Domini,“ sagte er. (So ist der Wille des Herrn.)
„Mulier est porta peccati.“ (Die Frau ist das Tor der Sünde.)
Maria zuckte, als hätte ihn jemand geschlagen.
Sie sah zu Jehova hinauf.
Er antwortete ihr mit einem Blick, der nichts fühlte.
Metatron sprach weiter:
„Omnis femina quae sapientiam quaerit, sit sub iudicio Domini.“
(Jede Frau, die Wissen sucht, stehe unter dem Gericht des Herrn.)
Ein murmelndes Amen ging durch die Reihen.
Maria flüsterte leise:
„Domine, ista lex comburet innocentes…“
(Herr, dieses Gesetz wird Unschuldige verbrennen…)
Jehova erhob sich.
„Ignis probabit puritatem.“ (Das Feuer wird Reinheit beweisen.)
Seine Stimme war ruhig, beinahe mild.
Eva trat einen Schritt vor, den Blick fest.
„Et quid de vita?“ (Und was ist mit dem Leben?)
„Quis servabit filias nostras?“ (Wer wird unsere Töchter bewahren?)
Metatron antwortete, ohne sie anzusehen:
„Dominus custodiet.“ (Der Herr
wird wachen.)
„Per ignem?“ (Durch Feuer?) fragte Eva.
Ein Raunen, dann Schweigen.
Jesus trat vor, langsam.
Seine Stimme war leise, aber sie hallte nach.
„Pater, haec lex non sanabit, sed vulnerabit.“
(Vater, dieses Gesetz wird nicht heilen, sondern verwunden.)
Jehova sah ihn lange an, als prüfe er, ob der Satz eine Prüfung war.
Dann sprach er schlicht:
„Vulnera purificant.“ (Wunden reinigen.)
Adam nickte, als hätte er etwas Heiliges gehört.
Maria senkte den Blick.
In ihren Händen bebte das Buch, als wüsste es selbst, was es anrichten würde.
Eva flüsterte, kaum hörbar:
„Bar Nash, ne ishtok.“ (Menschensohn, schweig nicht.)
Doch Jesus schwieg.
Sein Blick wanderte über die
Männer, über Metatron, über den Thron.
Dann senkte er den Kopf – nicht aus Gehorsam, sondern aus Ohnmacht.
Maria öffnete das Buch.
Ihre Lippen bewegten sich kaum, als sie die Formel sprach:
„Lex Hammer Maleficarum confirmata est.“
(Das Gesetz des Hexenhammers ist bestätigt.)
Ein Chor von Stimmen wiederholte es.
Kalt. Sauber. Wie Metall.
Das Echo blieb im Saal hängen, lange nachdem die Feuer verloschen.
Und dort, im flackernden Schatten, stand Eva noch immer.
Sie legte eine Hand auf Marias Schulter.
Zart. Vergeblich.
„Wir werden nicht schreien,“ sa
gte sie leise. „Aber wir werden uns erinnern.“ erwitung bitte da zu dann ist es gut
Maria antwortete nicht.
Sie sah in das Gold des Bodens, wo
sich ihre Gestalt spiegelte – klein, verzerrt, fremd.
Neben ihr stand Eva, ihre Hand noch auf der Schulter, warm wie Erinnerung.
Über ihnen schloss sich die Kuppel des Saales, die Engel löschten das Licht.
Die Männer wandten sich ab, zufrieden mit ihrem Werk, die Stimmen leise, das Wort „Gesetz“ wie ein Gebet auf den Lippen.
Jesus blieb zurück.
Er sah Maria an, dann Jehova, dann das Buch.
„Wenn Reinheit so klingt,“ sagte er leise, „dann hat der Himmel vergessen, was Leben ist.“
Keiner antwortete.
Nur Metatron schrieb, jede Silbe in die goldene Tafel ein, bis die Worte zu brennen begannen.
Adam kniete noch, das Gesicht voller Glanz.
Eva flüsterte:
„Sie nennen es Reinigung. Wir nennen es Beginn.“
Maria hob langsam das Haupt.
Ihre Augen waren trocken.
„Dann sollen sie beginnen,“ sagte sie. „Aber wir werden bleiben.“
Und sie wandte sich ab – eine Bewegung, kaum merklich, aber sie brach den Kreis des Gehorsams.
Im selben Moment, weit draußen über der Stadt, begann die erste Glocke zu schlagen.
Nicht zur Feier – sondern zur Prüfung.
Die Zeit des Glaubens war vorbei.
Die Zeit der Angst begann.
Das erste Läuten kam, bevor das Licht den Himmel erreichte.
Tief, dumpf, wie das Schlagen eines Herzens, das aus Stein bestand.
Liora erwachte davon. Der Schlafsack war klamm, ihre Finger kalt.
Neben ihr atmete ihre Mutter flach, die Augen offen, ohne zu sehen.
Seit drei Tagen waren sie in der Stadt.
Davor: Wald, Regen, Angst.
Davor: der Vater, die Flasche, der Schrei.
Er hatte sie „Sünderinnen“ genannt, wenn er betrunken war.
Und wenn er schlug, murmelte er Gebete.
Manchmal hatte Liora das Gefühl, Gott und ihr Vater teilten dieselbe Stimme.
Die Glocken rissen sie zurück in die Gegenwart.
„Bleib dicht bei mir,“ sagte die Mutter. „Sie fangen heute an.“
„Was?“ fragte Liora.
„Das neue Gesetz.“
Draußen war der Platz voller
Menschen.
Männer mit Kreuzen. Frauen mit gesenkten Köpfen. Kinder, die nicht wussten, wohin sie sehen sollten.
Über allem hing das Banner mit dem Auge – Jehovas Blick, gemalt aus Gold und Asche.
Ein Priester las vor, in Latein, die Stimme tonlos.
„Lex Hammer Maleficarum.“
Das neue Gebet. Das neue Urteil.
Eine Frau wurde herbeigeführt.
Ihre Schritte klangen, als gingen sie nicht über Holz, sondern über Glas.
Keiner rief. Keiner widersprach.
Liora drückte sich an ihre Mutter.
Die Hand ihrer Mutter war schwielig, riechte nach Arbeit und Wachs.
„Nicht hinschauen,“ sagte sie.
Aber Liora sah.
Sie sah den Rauch.
Sie sah die Männer, die sich bekreuzigten, während das Feuer wuchs.
Sie sah, wie der Priester die Hand hob, um das Zeichen zu geben, und wie niemand es wagte, zu atmen.
Der Wind brachte den Geruch bis
zu ihnen.
Nicht süß. Nur trocken, scharf, endgültig.
Ihre Mutter flüsterte:
„Wenn sie fragen, woher wir kommen, sag: Nirgendwo. Sag: Wir gehören niemandem.“
Liora nickte.
In ihrem Kopf hallte der Satz ihres Vaters nach:
„Eine Frau ist ein Gefäß. Kein Mensch.“
Sie wusste nicht, ob er noch lebte.
Aber sie wusste, dass die Stadt sich
anfühlte wie sein Haus:
schön, laut, gefährlich.
Am Abend saßen sie am Fluss.
Die Mutter sprach kein Wort.
Liora sah das Wasser, das Licht der Glocken spiegelte sich darin wie brennende Münzen.
„Wenn das Gott ist,“ flüsterte sie, „dann will ich ihn nie treffen.“
Niemand antwortete.
Nur der Wind, der nach Rauch roch, und
das ferne Läuten, das klang, als
würde es ewig weitergehen.
Wind heulte.
Regen schlug gegen die Helme wie Steine.
Der Boden war weich von Fleisch und Schlamm.
Viktoria lief.
Ihr Atem kam stoßweise, ihre Augen voll Asche.
„Halda múrinn!“ (brich die Reihe nicht!) schrie jemand hinter ihr.
Sie hörte es, doch der Klang war fern wie ein Traum.
Vor ihr Menschen, keine Gesichter
mehr.
Nur Rüstungen, Lärm, Atem.
Ein Speer flog an ihr vorbei, riss ihr den Ärmel auf.
Sie stürzte in den Schlamm, griff nach Erde und Blut, rappelte sich auf.
Ein Krieger aus Velramis stürmte auf sie zu, das Auge weiß vom Wahn.
„Dominus vincit!“ (Der Herr siegt!)
„Ek sé það!“ (Ich will das sehen!) zischte sie und stieß zu.
Der Speer durchdrang sein Maul, der Schrei erstickte.
Blut spritzte auf ihre Wange, warm, schwer, echt.
Ein Pfeil traf neben ihr auf, splitterte im Matsch.
Sie roch den Brandgeruch von Pulver und Magie.
Die Erde zitterte vom Aufschlag der Kanonen.
„Hvar er systir mín?“ (Wo ist meine Schwester?) flüsterte sie,
doch niemand antwortete.
Neben ihr lag eine Walküre, der Schild zerbrochen, die Hände noch verkrampft.
Viktoria kauerte sich zu ihr, legte die Finger auf die Wange.
„Sofðu, blóðsystir.“ (Schlaf, Blutschwester.)
Dann stieg sie auf, blind vor Rauch und Lärm.
Ein Pferd riss sich los, rannte brennend durch die Reihen.
Die Frauen sprangen beiseite, ein Schrei ging unter im Donner.
Viktoria hob den Speer und rannte.
Nicht für Götter.
Nicht für Ehre.
Nur damit es aufhört.
Sie spürte die Schläge in den Knien, die Vibration im Kiefer, den Gestank von verbranntem Fett.
Eine Welle von Lärm brach über sie – Granaten, Ruf, Tod.
Dann Stille.
Sie lag auf dem Rücken.
Der Himmel drehte sich, grau über rot.
Sie hob die Hand, sah das Blut in ihren Fingerfalten.
„Ef þetta er sigr,“ sagte sie leise (wenn das Sieg ist),
„vil ek ekki vakna.“ (dann will ich nicht mehr aufwachen.)
Über dem Feld läuteten die Glocken von Velramis.
Langsam, gleichmäßig, unbarmherzig.
Der Dampf hing tief über den Dächern.
Der Markt roch nach Eisen, Brot und Angst vor Regen.
Svala zog ihren Karren über das Kopfsteinpflaster, das Rad klapperte bei jedem Schritt.
Ihre Hände waren wund vom Salz der Überfahrt, aber sie lächelte trotzdem.
Heute würde sie verkaufen. Heute vielleicht.
„Kom, kom!“ (Komm, komm!) rief sie in die Menge. „Fine wares! Good
metal! From north sea!“ (Feine Waren! Gutes Metall! Vom Nordmeer!)
Die Leute sahen sie an, kurz, dann gingen sie weiter.
Sie stellte ihren Stand auf – eine wacklige Holzkiste mit einem Tuch drüber.
Darauf legte sie ihre Waren: Schmuck aus Kupfer, Runenanhänger, ein paar Waffenreste, die sie auf See gefunden hatte.
Die Runen glänzten stumpf.
„Magic touch,“ (Magische Berührung,) murmelte sie stolz und
blies auf eine Münze, die nichts tat.
Ein Mädchen blieb stehen.
„Does it work?“ (Funktioniert das?)
Svala nickte sofort. „Of course, ja, work for love, luck, no drown.“ (Natürlich, ja, wirkt für Liebe, Glück, kein Ertrinken.)
Das Mädchen lachte, schüttelte den Kopf.
„You’re funny.“ (Du bist lustig.)
„Not funny,“ (Nicht lustig,) sagte Svala ernst. „Businesswoman.“ (Geschäftsfrau.)
Sie hatte das Wort geübt. Es schmeckte nach Zähnen.
Der Wind blies stärker. Eine ihrer Ketten flog in den Dreck.
Sie hob sie auf, blies den Staub ab, legte sie wieder hin, als wäre nichts gewesen.
„See? Still shine.“ (Siehst du? Glänzt noch immer.)
Eine Ärztin aus der Klinik blieb stehen.
Ruß unter den Nägeln, graue Schürze, müde Augen.
„You again,“ (Du schon wieder,) seufzte sie. „What are you selling this time?“ (Was verkaufst du diesmal?)
Svala grinste schief. „Luck. Half price.“ (Glück. Halber Preis.)
„You need it more than I do.“ (Du brauchst es dringender als ich.)
„Maybe,“ (Vielleicht,) gab Svala zurück, „but I make it work.“ (Aber ich bring’s zum Laufen.)
Ein kleiner Schleim krabbelte auf den Tisch, sah sie an, gluckerte.
Svala beugte sich hinunter.
„Want charm?“ (Willst du einen Talisman?)
Der Schleim vibrierte leicht, als nickte er.
Sie band ihm eine winzige Rune um den Körper.
„Now you rich,“ (Jetzt bist du reich,) sagte sie.
Der Schleim gluckerte, verschwand – und ließ eine Münze zurück.
Svala grinste.
„First customer. Good omen.“ (Erster Kunde. Gutes Zeichen.)
Dann fiel der Karren um.
Alle Flaschen zerbrachen.
Der Duft von Essig, Öl und altem Fisch breitete sich aus.
Menschen hielten sich die Nasen zu.
Svala stand da, sah das Chaos,
seufzte tief.
Dann lachte sie. Laut. Frei.
„Lítil veðr, stórr stormr.“ (Kleiner Wind, großer Sturm.)
Sie hob eine kaputte Flasche, trank einen Schluck.
„It still works.“ (Geht noch.)
Die Ärztin schüttelte den Kopf, ging weiter.
Svala blieb allein zurück, zwischen Rauch und zerbrochenen Dingen.
Aber in ihrem Blick lag keine Scham – nur Trotz.
Sie setzte sich auf ihren Karren,
den Mantel über die Schultern gezogen.
„Tomorrow better.“ (Morgen besser.)
Dann grinste sie.
„Maybe worse. But funny.“ (Vielleicht schlimmer. Aber lustig.)
Und irgendwo zwischen Dampf und Lärm,
zwischen Zahnrädern und Stimmen,
sah sie kurz hinauf zum Himmel.
Er war grau.
Aber ein Stück weit – lachte er mit ihr.
Das Licht in der Klinik war weich und warm geworden.
Zwischen den Glaswänden hing Dampf, die Luft trug den Geruch von Metall, Kräutern und Maschinenöl.
Jedes Tropfen klang wie ein Atemzug.
Talee saß auf dem Boden des Geheges.
Ihr Körper war geheilt, die Haut glatt, fast durchsichtig.
Nur um Hand- und Fußgelenke blieben die Stellen dunkel – nicht
verwundet, nicht geschwollen, sondern wie Schatten unter der Haut.
Wenn das Licht darauf fiel, schimmerte es schwarzblau, als läge darin etwas, das nicht vergessen werden wollte.
Die Ärztin stand außerhalb des Geheges, sprach in ihr Aufnahmegerät.
„Regeneration stable. Old discolorations unchanged.“ (Regeneration stabil. Alte Verfärbungen unverändert.)
Dann ging sie fort.
Azrael trat ein.
In den Händen eine Holzkiste, die sie gegen die Hüfte drückte.
„Good morning,“ (Guten Morgen,) sagte sie leise.
Talee hob den Kopf, die Augen ruhig, wach.
Sie antwortete nicht mit Laut, sondern mit Bewegung:
Die rechte Hand hob sich, kreiste kurz vor der Brust, die Finger öffneten sich nach außen, als würde sie den Raum spüren.
(Begrüßung. Wachsamkeit. Ich höre dich.)
Azrael lächelte vorsichtig und öffnete die Kiste.
Ein helles Kleid lag darin, leicht wie Staub, daneben zwei flache Schuhe aus Leder.
„For you,“ (Für dich,) sagte sie.
Talee neigte den Kopf, berührte den Stoff, roch daran.
Ihr Atem wurde langsamer.
Dann bewegte sie die Hände: die rechte zog einen weiten Bogen über die Brust, die linke schnitt in der Mitte hindurch.
(Kalt. Kein Geruch von Heimat.)
Azrael verstand den Sinn, nicht die
Worte.
„It’s soft,“ (Er ist weich,) sagte sie, ein bisschen unsicher.
Talee legte das Kleid auf die Knie, strich mit den Fingern darüber.
Sie hob die Hand, ließ den Daumen leicht zittern – ein Zeichen für Danke, aber zurückhaltend.
(Danke. Ein bisschen.)
Azrael ahmte die Bewegung nach, unbeholfen, doch ehrlich.
Dann hob sie die Schuhe.
„For walking,“ (Zum Laufen,) sagte sie.
Talee zog die Füße an, berührte die dunklen Stellen an den Gelenken mit vorsichtigen Fingern.
Sie machte eine schnelle, abbrechende Bewegung mit der linken Hand.
(Nicht. Fremd. Später vielleicht.)
„No shoes then,“ (Dann keine Schuhe,) flüsterte Azrael und stellte sie beiseite.
Talee richtete sich auf, streckte die Arme, ihre Haut spann über den Narben.
Dann zeichneten ihre Finger eine sanfte Linie über die Brust und
ließen sie sich öffnen.
(Vertrauen. Langsam. Bleib.)
Draußen stand Luzifer, still, die Hände auf dem Rücken.
Der Dampf zog um seine Schultern, wie ein Mantel.
Die Ärztin kam neben ihn.
„She’s stable,“ (Sie ist stabil,) sagte sie. „But the discolorations won’t fade.“ (Aber die Verdunkelungen werden nicht verschwinden.)
„Let them be,“ (Lass sie sein,) antwortete Luzifer. „Scars are memory.“ (Narben sind Erinnerung.)
Als die Ärztin ging, blieb er allein vor dem Glas.
„You believe she’s healed?“ (Du glaubst, sie ist geheilt?) fragte er ruhig.
Azrael sah nicht auf.
„Healing takes time,“ (Heilung braucht Zeit,) sagte sie.
„Time teaches nothing to those who refuse pain,“ (Zeit lehrt nichts denen, die Schmerz ablehnen,) antwortete er.
Er sah Talee an, die jetzt das Kleid an sich drückte und ihre Finger
über die dunklen Stellen führte.
„You see a girl. I see instinct.“ (Du siehst ein Mädchen. Ich sehe Instinkt.)
Azrael hob endlich den Blick.
„Maybe instinct is what saves us,“ (Vielleicht ist Instinkt das, was uns rettet,) sagte sie leise.
Luzifer schwieg, wandte sich ab und ging.
Sein Schatten verschwand im Dampf.
Talee blieb zurück, saß im flimmernden Licht, das über ihre
Haut wanderte.
Ihre Finger bewegten sich noch einmal – eine runde, offene Gebärde, wie eine Muschel, die sich schließt.
(Bleiben. Nicht allein.)
Das Licht flackerte, das Wasser tropfte, und Azrael sah zu, bis die Bewegung verebbte und nur noch Stille blieb.
Der Himmel über Velramis war wie eine Wunde aus Licht.
Alles glänzte — zu hell, zu rein.
Die Stadt hatte sich versammelt vor dem Palast Jehovas.
Männer in Rüstungen, Schulter an Schulter, die Gesichter erhoben, als wollten sie den Himmel essen.
Frauen dahinter, still, die Hände gefaltet, die Lippen blutleer.
Die Glocken läuteten.
Dann Stille.
Metatron trat vor das goldene Pult.
Seine Stimme war glatt wie Metall, jedes Wort ein Schnitt.
„In nomine Domini, bellum sanctum declaratur.“
(Im Namen des Herrn wird der heilige Krieg erklärt.)
Ein Aufschrei ging durch die Menge — Jubel, kein Entsetzen.
Rüstungen klirrten, Fahnen bebten.
Staub stieg auf, als hätte selbst die Erde Angst.
Maria stand am unteren Ende der Stufen.
Das Buch in ihren Händen zitterte.
Sie hielt es zu fest, so fest, dass
ihre Finger weiß wurden.
Ihr Herz schlug laut in ihrer Brust — nicht vor Ehrfurcht, sondern vor Scham.
Neben ihr stand Eva.
Sie hatte keine Krone, keinen Schleier — nur Haut, Staub und Atem.
Ihr Blick ging nicht nach oben, sondern in die Menge.
Auf die Frauen.
Auf die Kinder, die sich an ihre Mütter klammerten, weil sie fühlten, dass etwas in der Luft starb.
Metatron las weiter:
„Mulier est porta peccati, et portam claudet gladius.“
(Die Frau ist das Tor der Sünde, und das Schwert soll dieses Tor schließen.)
Die Männer jubelten.
Eva senkte den Kopf.
„Lo teshkach ha adam,“ flüsterte sie in Aramäisch.
(Vergiss den Menschen nicht.)
Maria antwortete kaum hörbar:
„Elohim yistok.“ (Gott schweigt.)
Oben auf den Stufen erschien
Jehova.
Das Licht folgte ihm, als sei es an ihn gebunden.
Seine Schritte hallten wie Trommeln.
„Dominus loquitur,“ (Der Herr spricht,) sagte er.
„Femina sub virum. Terra sub coelum. Sanguis sub verbo.“
(Die Frau unter den Mann. Die Erde unter den Himmel. Das Blut unter das Wort.)
Maria atmete flach.
Sie wollte schreien, wollte sagen, dass kein Wort Blut rechtfertigt.
Doch ihr Hals war trocken, ihr Mund brannte.
Sie spürte, wie jedes „Amen“ aus der Menge ihr etwas wegnahm — ein Stück Haut, ein Stück Atem.
Eva trat einen Schritt vor.
„Adonai,“ sagte sie, die Stimme rau, aber klar.
„Ha-neshima hi matanah.“ (Der Atem ist ein Geschenk.)
„Lama tikach oto m-ha nashim?“ (Warum nimmst du ihn den Frauen?)
Jehova sah sie an — kein Zorn, kein Mitleid. Nur das unbewegte Gesicht
einer Macht, die sich für gerecht hielt.
„Puritas per sacrificium,“ (Reinheit durch Opfer,) sagte er.
Maria flüsterte:
„Ha-esh tokhal et ha-levot.“ (Das Feuer wird die Herzen fressen.)
Ihre Knie zitterten.
Sie hielt das Buch fest, bis ihre Finger bluteten.
Blut auf Gold.
Das Rot verschwand sofort — das Metall nahm es auf, als hätte es Hunger danach.
Metatron beugte sich zu Jehova.
„Lex Hammer Maleficarum parata est,“ (Das Gesetz des Hexenhammers ist bereit,) sagte er.
„Fiat lex,“ (So sei das Gesetz,) antwortete Jehova.
Adam hob das Schwert.
Die Sonne traf auf Stahl.
Das Licht blendete — niemand konnte mehr sehen, was Recht war und was Schuld.
Maria spürte, wie Eva ihre Hand ergriff.
Nur eine Bewegung, klein,
menschlich, widerständig.
Ihre Finger verschränkten sich, unsicher, zitternd.
Zwischen ihnen tropfte Schweiß, oder Tränen, oder beides.
„Non tacebimus,“ flüsterte Maria. (Wir werden nicht schweigen.)
Eva antwortete:
„Sed plorabimus donec terra audiat.“
(Aber wir werden weinen, bis die Erde uns hört.)
Die Glocken läuteten wieder, diesmal tiefer.
Ein Chor setzte ein — Engel, Männer, Kinder — alle im gleichen Ton.
Maria hörte, wie ihre Stimme erlosch zwisc
hen ihnen,
bis nichts mehr blieb als das Wort des Herrn, das hallte,
kalt, vollkommen, leer.
Die Nächte in Velramis waren zu hell.
Licht floss von den Türmen, von den Engeln, von Gott selbst.
Es gab keine Dunkelheit mehr, in der man sich verstecken konnte.
Liora konnte nicht schlafen.
Ihre Mutter hatte die Tür mit einem Stuhl blockiert und Stoff vor das Fenster gehängt.
Draußen hallten Schritte, das Kratzen von Metall, dann Stille.
Manchmal ein Schrei – kurz, wie ein Schnitt in die Luft – und dann
wieder nichts.
Am Morgen fehlte wieder jemand.
Eine Frau aus der Straße, eine Nachbarin, die Lehrerin von letzter Woche.
Niemand sprach.
Nur gesenkte Blicke, wenn Männer in weißen Gewändern vorbeigingen.
Liora sah sie.
Goldene Platten an den Schultern, Gesichter ohne Regung,
die Hände bewegten sich mechanisch – wie Werkzeuge, nicht wie Körper.
Sie rochen nach Weihrauch und Eisen.
Wenn sie kamen, hielten die Mütter ihre Kinder fester.
Eines Abends, als Liora Wasser holen wollte, sah sie es selbst.
Drei Männer führten eine Frau die Straße hinunter.
Ihr Kleid war grau, das Haar offen, der Blick leer.
Sie stolperte, einer zog sie grob wieder hoch.
Keiner sprach.
Das Licht der Lampen warf ihre Schatten lang an die Wände,
zerschnitten und flackernd.
Liora stand still.
Ihr Herz schlug laut, zu laut.
Die Frau sah sie an – nur einen Moment,
mit einem Blick, der flehte, erinnert zu werden.
Dann war sie fort.
Zuhause stellte Liora die Schale mit dem Wasser auf den Boden.
„Where do they go, Mama?“ (Wohin gehen sie, Mama?)
Ihre Mutter stand am Waschbecken.
Der Geruch von Seife lag schwer in der Luft,
ein stechender, sauberer Geruch, der nichts mehr mit Leben zu tun hatte.
Sie hielt inne.
„They go to the Lord,“ (Sie gehen zum Herrn,) sagte sie leise.
„Do they come back?“ (Kommen sie zurück?)
„No.“ (Nein.)
Danach sprachen sie nicht mehr darüber.
Aber in der Nacht hörte Liora das leise Zittern ihrer Mutter – kein Schluchzen,
sondern ein Atmen, das irgendwo zwischen Schmerz und Müdigkeit hing.
Ein Zittern, das durch die Wand kroch und in Lioras Brust blieb.
Sie begann, alles zu zählen, was verschwand:
Frauen, Stimmen, Farben.
Die Stadt wurde grau.
Selbst die Luft veränderte sich –
roch nach Metall, nach Gebet, nach verbrannter Hoffnung.
Am Tag stand Liora auf dem Platz.
Metatron predigte, die Stimme scharf wie Glas.
„Dominus custodit animas puras.“ (Der Herr bewahrt die reinen Seelen.)
Die Menge antwortete mit einem einzigen Atemzug, ein tonloses Amen.
Liora verstand die Worte nicht,
aber sie spürte, was sie bedeuteten:
dass Reinheit Schmerz war,
dass Gehorsam Leben hieß,
und dass sie eines Tages selbst verschwinden würde,
wenn sie fragte, warum.
In der Nacht nahm sie die Hand ihrer Mutter.
„I don’t want the light,“ (Ich will das Licht nicht,) flüsterte sie.
Ihre Mutter drückte ihre Finger fest.
„Then keep the darkness, my child,“ (Dann behalte die Dunkelheit, mein Kind,) sagte sie.
„Only there you can think.“ (Nur dort kannst du denken.)
Liora verstand die Worte nicht ganz,
aber sie fühlte, wie
etwas in ihr atmete – leise, warm, zäh.
Etwas, das später Feuer heißen würde.
Der Markt von Aurum brüllte.
Nicht im übertragenen Sinn – er brüllte wirklich.
Maschinenrufe, Stimmen, Dampf, Glocken, irgendwo ein krähender Hahn, der nicht wusste, dass er aus Metall war.
Frauen in Overalls, bunte Tücher, rauchende Rohre – das war das Herz des Luziferreichs,
ein Platz, der gleichzeitig Werkstatt, Basar und Irrenhaus war.
Svala stand mittendrin.
Ihr Karren quietschte, als hätte er beschlossen, heute zu sterben.
Darauf lagen: drei Runensteine, ein Sack Kräuter, ein Haufen Metallteile, ein Topf, der nach verbranntem Fisch roch,
und eine Flasche mit etwas, das verdächtig nach Blut aussah.
„Góðr dagr! Buy rune, make you lucky!“ (Guten Tag! Kaufe Rune, macht dich glücklich!)
Sie grinste breit, hob einen Stein hoch, der verdächtig nach gewöhnlichem Kies aussah.
Eine Frau mit Schutzbrille blieb
stehen, sah sie an.
„What’s that supposed to do?“ (Was soll das bringen?)
„It… eh… stops… bad ghosts!“ (Es… äh… stoppt böse Geister!)
Svala wedelte mit den Armen, die Runen funkelten matt.
„You put under bed. No nightmares! Maybe less husband.“ (Man legt es unters Bett. Keine Albträume! Vielleicht weniger Ehemann.)
Die Frau lachte trocken. „Maybe I’ll take two.“ (Vielleicht nehme ich zwei.)
Sie zahlte mit einem glänzenden
Chip.
Svala grinste, nickte, und der Chip fiel sofort in eine Ritze im Pflaster.
Sie kniete fluchend hinunter.
„Helvíti járn!“ (Verdammtes Eisen!)
Während sie suchte, rollte ihr Karren los – langsam, gemächlich, aber zielstrebig.
Er schob sich durch die Menge, traf einen Stand mit Glaswaren, ein Klirren wie ein kurzer Sturm –
dann still.
Svala blickte auf, als ein Dutzend Frauen sie anstarrten.
„I pay! I pay! Maybe!“ (Ich zahl! Ich
zahl! Vielleicht!)
Sie rannte hinterher, stolperte über ein Kabel, riss sich das Kleid an einem Haken auf.
Eine Frau mit Werkzeugkasten schüttelte den Kopf.
„You again.“ (Du schon wieder.)
Svala richtete sich halb auf, grinste gequält.
„Trade? I have fish oil, magic and smell!“ (Tausch? Ich hab Fischöl, Magie und Geruch!)
Die andere seufzte.
„That’s not a selling point.“ (Das ist kein Verkaufsargument.)
Svala schnappte sich den Karren, der jetzt nur noch drei Räder hatte.
Ein Rad rollte davon, kippte gegen eine Mauer.
„It’s fine! It always do this.“ (Alles gut! Das macht er immer so.)
Dann stieg Rauch auf.
Irgendwas brannte. Vielleicht ihr Öl, vielleicht ihr Stolz.
Svala pustete, hustete, und zwei Kinder zeigten lachend auf sie.
„See, Mama! The fire witch!“ (Sieh, Mama! Die Feuerhexe!)
Svala drehte sich zu ihnen, hob drohend den Finger.
„Don’t call witch! Witch pay taxes!“ (Sag nicht Hexe! Hexen zahlen Steuern!)
Das brachte ihr Applaus ein.
Echte, warme, ehrliche Heiterkeit.
Für einen Moment grinste sie – rußverschmiert, das Kleid halb verrissen, die Haare elektrisch geladen –
und sie fühlte sich fast wie zu Hause.
Dann fiel der Topf vom Karren und verteilte glitzernde Runen auf dem
Boden.
Ein kleines Mädchen hob eine auf, lächelte.
Svala beugte sich hinunter, sprach leise, fast zärtlich:
„Keep that one. For dreams, ja?“ (Behalte den. Für Träume, ja?)
Das Kind nickte, rannte weg.
Svala sah ihr nach, dann atmete tief durch.
„Maybe not all lost,“ murmelte sie. (Vielleicht ist nicht alles verloren.)
Dann kippte der Karren ganz um.
Das Wasser im Gehege stand ruhig.
Die Luft roch nach Metall, nach feuchtem Stein und fernem Salz.
Kein Fieber, keine Verbände mehr – nur die dunklen Ringe an Händen und Füßen,
wie Zeichen, die die Haut behalten hatte, als Erinnerung an Fesseln.
Talee ging langsam über den Boden,
barfuß, jede Bewegung kontrolliert,
nicht schwach, sondern wachsam.
Sie trug das einfache graue Kleid, das Azrael gebracht hatte.
Es hing lose, wie etwas, das nicht
zu ihr gehörte.
Azrael beobachtete sie von außen.
In den letzten Tagen hatte sie geschlafen, gesprochen, gegessen –
alles, was Menschen tun.
Und doch war sie kein Mensch.
Sie war zu ruhig. Zu bewusst.
Etwas in ihr zählte jeden Schritt.
„She’s healed,“ sagte die Ärztin, ohne aufzusehen.
(Sie ist geheilt.)
Azrael nickte. „Yes.“ (Ja.)
Dann leise: „But not free.“ (Aber nicht frei.)
Die Ärztin lachte leise.
„Freedom isn’t part of the treatment.“ (Freiheit ist kein Teil der Behandlung.)
Drinnen blieb Talee stehen.
Sie sah ihre Hände an – die Finger bewegten sich langsam,
öffneten und schlossen sich wie Blätter, die Wind prüfen.
Dann hob sie den Blick zu Azrael.
Eine Gebärde: beide Hände gegen die Brust, dann auseinander,
als würde sie etwas in die Luft legen.
Ich bin hier.
Azrael antwortete nicht.
Sie wusste, Talee verstand jedes Zucken ihrer Schultern,
jedes unruhige Atmen.
Talee trat näher ans Glas.
Ihre dunklen Gelenke schimmerten im Licht,
nicht wund, sondern fest, als wäre dort fremdes Metall unter der Haut.
Sie legte eine Hand auf das Glas.
„Let me go,“ sagte sie. (Lass mich gehen.)
Azrael trat vor. „Not yet.“ (Noch nicht.)
Talee wiederholte es, leiser, aber härter.
„Let me go.“ (Lass mich gehen.)
Ihre Stimme war kein Bitten.
Sie sprach das Englisch brüchig, mit langen Pausen zwischen den Worten,
als koste jedes den Atem eines anderen Wesens.
Azrael schüttelte den Kopf.
„Outside, you’ll die. You don’t understand this world.“
(Draußen stirbst du. Du verstehst diese Welt nicht.)
Talee lächelte.
Kein menschliches Lächeln – ein kurzes Aufblitzen, wie Licht auf Wasser.
Sie hob beide Hände, formte eine Gebärde,
langsam, präzise:
Ein Kreis um den Kopf, dann ein Schlag nach unten.
Ich erinnere mich.
Das Licht flackerte.
Ein dünner Windzug lief durch den Raum,
und das Wasser im Becken stieg leicht an, ohne dass jemand es berührte.
Die Ärztin trat näher.
„She’s not supposed to use elemental energy here,“ (Sie soll hier keine Elementarmagie nutzen,)
sagte sie streng.
Azrael sah sie nur an.
„You can’t stop her.“ (Du kannst sie nicht aufhalten.)
Talee senkte die Hände,
ließ das Wasser zurückfallen,
und die Bewegung erstarb.
Dann drehte sie sich um,
setzte sich auf den Boden,
die Beine angezogen,
die Hände auf die dunklen Stellen an den Gelenken gelegt,
als wollte sie sie beschützen.
„I remember,“ sagte sie leise. (Ich erinnere mich.)
„And I won’t be a thing again.“ (Und ich werde kein Ding mehr sein.)
Azrael schloss die Augen.
Sie wollte sie trösten.
Aber jedes Wort hätte gelogen.
Das Licht über dem Gehege wechselte in den Nachtmodus.
Schwarzblaues Dämmerlicht füllte den Raum.
Azrael blieb noch lange am Glas stehen,
bis selbst der Atem der Stadt leiser wurde.
Draußen begann es zu regnen.
Drinnen hob Talee die Hand,
ließ einen Tropfen an der Scheibe entlanggleiten,
folgte ihm mit dem Finger –
und lächelte wieder.
Diesmal war es menschlich.
Aber es gehörte nur ihr.
Das Meer lag schwarz und still, als hätte jemand den Atem der Welt angehalten.
Kein Wind. Kein Horizont. Nur Wasser und Dunkel.
Dann begann der Himmel zu glühen – zuerst silbern, dann weiß, dann gold.
Ein Licht formte sich daraus, zu grell, um gesehen zu werden,
doch es nahm Gestalt an:
ein Mann, groß, schön, in goldener Rüstung.
Seine Augen leuchteten, als trügen
sie die Sonne selbst.
Er trat auf das Meer, und jeder Schritt ließ das Wasser zurückweichen.
Korar stand schon da.
Barfuß, ruhig, das Gewand nass vom Regen,
die Hände locker vor dem Körper,
ihre Haut schimmerte blass, wie der Mond.
Sie lächelte nicht.
Sie wartete.
„Korar,“ sagte der Gott,
„tu audes iterum loqui ad Deum?“
(Du wagst es, erneut zu Gott zu
sprechen?)
Korar hob den Blick.
Ihre Stimme war leise, fast freundlich.
„Non iterum, Jehova. Numquam desii.“
(Nicht erneut, Jehova. Ich habe nie aufgehört.)
Er runzelte die Stirn, ein Schatten glitt über das Licht in seinem Gesicht.
„Noli me sic nominare.“ (Nenne mich nicht so.)
„Cur non?“ (Warum nicht?)
Sie machte einen Schritt auf ihn zu, das Meer blieb still unter ihren Füßen.
„Hoc est nomen quod tibi dedimus antequam tibi placuit esse Deus.“
(Das ist der Name, den wir dir gaben, bevor es dir gefiel, ein Gott zu sein.)
Er schwieg, das Licht um ihn flackerte.
Dann sprach er, die Stimme tief, metallisch:
„Tu destruxisti ordinem, mulier aquarum. Gentes tuae docent rebellare. Noli credere quod misericordia salvet mundum.“
(Du hast die Ordnung zerstört, Frau des Wassers. Deine Völker lehren Aufruhr. Glaube nicht, dass Mitleid die Welt rettet.)
Korar neigte den Kopf leicht, als würde sie ihm zustimmen,
doch ihre Augen ruhten unbewegt auf ihm.
„Et tamen tu vis mundum servire, non vivere.“
(Und doch willst du, dass die Welt dient, nicht lebt.)
Er trat näher, bis sie fast Stirn an Stirn standen.
Zwischen ihnen stieg Dampf auf, wo
Licht auf Wasser traf.
„Ego creavi lucem ex tenebris.“ (Ich erschuf das Licht aus der Finsternis.)
„Et ego te vidi nasci,“ antwortete Korar leise. (Und ich sah dich geboren werden.)
Sein Atem war heiß, schwer, voller Glut.
Ihrer war kühl, gleichmäßig, salzig wie das Meer.
Beide wussten: keiner würde weichen.
„Tu putas te superiorem esse?“ (Du glaubst, du seist mir überlegen?)
„Non. Antiquiorem.“ (Nein. Nur älter.)
Das Meer spannte sich, als könnte es zerreißen.
Blitze zuckten über die Oberfläche, trafen das Wasser –
und erloschen, sobald sie Korar berührten.
Jehova hob die Hand.
In seiner Faust formte sich Licht, brennend wie eine Sonne.
Doch Korar sah ihn nur an,
legte ruhig die Hand an ihre Brust,
atmete tief ein –
und das Meer stieg.
Die Wellen rollten hoch,
nicht gegen ihn, sondern um ihn,
wie eine Erinnerung, die sich nicht töten ließ.
„Audi me, Jehova.“ (Hör mich, Jehova.)
Ihre Stimme war sanft, aber sie schnitt durch den Sturm.
„Tu times quod non potes regere. Et quod non regis, odisti.“
(Du fürchtest, was du nicht kontrollieren kannst. Und was du nicht kontrollierst, das hasst du.)
Er senkte die Hand.
Das Licht flackerte, kleiner, schwächer.
Ein Augenblick von Menschlichkeit,
zu kurz, um sich zu halten.
„Et tu?“ fragte er, fast flüsternd. (Und du?)
„Quid amas?“ (Was liebst du?)
Korar blickte auf das Meer.
Wellen spiegelten Sterne, die gar nicht da waren.
„Mundum, sicut est.“ (Die Welt – so wie sie ist.)
Dann verneigte sie sich leicht,
nicht als Geste der Unterwerfung,
sondern als Gruß.
„Vale, Jehova.“ (Leb wohl, Jehova.)
Sie drehte sich um, ging davon,
und das Meer schloss sich
hinter ihr.
Kein Fußabdruck blieb.
Nur die Wellen flüsterten weiter –
alt, geduldig,
und frei.
Der Himmel über der Stadt war grau wie glühende Asche.
Zwischen den Türmen zogen Dämpfe, und jedes Licht spiegelte sich in den metallenen Wänden wie in Wasser.
Der Abend war still, doch die Maschinen summten unter der Erde wie ein Atem, der nie ruhte.
Azrael stand an der Brüstung des oberen Gartens.
Unter ihr lag das Meer, unruhig, schwarz, voller Bewegung.
Dort unten, hinter Glas und Magie,
lag Talee – ruhig, gefangen, fremd.
„You still watch her,“ (Du beobachtest sie immer noch,) sagte Luzifer, als er aus dem Schatten trat.
Seine Schritte waren kaum hörbar.
Er trug keinen Mantel, nur einfache schwarze Kleidung.
Sein Gesicht wirkte müde, nicht alt, aber von Zeit gezeichnet.
„I have to,“ (Ich muss,) antwortete Azrael.
„She needs to see someone who isn’t afraid of her.“ (Sie muss jemanden sehen, der keine Angst
vor ihr hat.)
Luzifer blieb neben ihr stehen, die Hände auf dem Geländer.
„Fear keeps the world alive,“ (Angst hält die Welt am Leben,) sagte er ruhig.
„Without fear, people forget the weight of choice.“ (Ohne Angst vergessen Menschen das Gewicht der Entscheidung.)
Azrael blickte hinab, in das trübe Licht des Geheges.
„She doesn’t choose to be feared.“ (Sie wählt nicht, gefürchtet zu werden.)
„No creature does,“ (Kein Wesen tut das,) entgegnete er.
„Even God didn’t choose to be feared – He became it when He stopped listening.“
(Selbst Gott hat nicht gewählt, gefürchtet zu werden – er wurde es, als er aufhörte zuzuhören.)
Sie schwieg.
Die Worte hingen in der Luft, warm und schneidend zugleich.
„You think I don’t understand what you feel,“ sagte er leise.
(Du glaubst, ich verstehe nicht, was
du fühlst.)
„But I built this world so feelings could exist without destroying it.“
(Aber ich habe diese Welt gebaut, damit Gefühle existieren können, ohne sie zu zerstören.)
Azrael sah ihn an.
„And yet we destroy to protect it.“ (Und doch zerstören wir, um sie zu schützen.)
Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Protection and destruction are twins, Azrael. The hand that builds must also know how to break.“
(Schutz und Zerstörung sind Zwillinge, Azrael. Die Hand, die erschafft, muss auch wissen, wie man bricht.)
Sie trat näher.
„And what about mercy?“ (Und was ist mit Gnade?)
„Mercy is understanding with limits.“ (Gnade ist Verstehen mit Grenzen.)
Er sah hinaus über das Meer.
„If you give it to everything, it loses meaning – like light in endless day.“
(Wenn du sie allem schenkst, verliert sie Bedeutung – wie Licht
in endlosem Tag.)
Azrael runzelte die Stirn.
„You speak as if love must be measured.“ (Du sprichst, als müsste man Liebe abmessen.)
„Everything must be measured,“ (Alles muss gemessen werden,) sagte Luzifer.
„Even chaos. Especially love. Unbounded love consumes the giver first.“
(Sogar das Chaos. Besonders die Liebe. Grenzenlose Liebe verschlingt zuerst den, der sie gibt.)
Sie wandte sich halb ab, die Hände zu Fäusten geballt.
„Then maybe being consumed is the only way to understand what she is.“
(Dann ist Verzehrtwerden vielleicht der einzige Weg, zu verstehen, was sie ist.)
Er sah sie lange an.
„Do you know what wisdom is?“ (Weißt du, was Weisheit ist?)
„It’s not knowledge. It’s the acceptance that understanding will never be complete.“
(Sie ist kein Wissen. Sie ist das
Eingeständnis, dass Verstehen niemals vollständig sein wird.)
„And yet you speak as if yours is,“ (Und doch sprichst du, als wäre deine vollständig,) entgegnete sie.
Ein leises, fast menschliches Lachen.
„Because I learned to live with what I can’t control. That’s the only freedom there is.“
(Weil ich gelernt habe, mit dem zu leben, was ich nicht kontrollieren kann. Das ist die einzige Freiheit, die es gibt.)
Azrael schüttelte den Kopf.
„You call that freedom. I call it surrender.“ (Du nennst das Freiheit. Ich nenne es Aufgeben.)
„Then we will both be wrong,“ sagte Luzifer. (Dann werden wir beide Unrecht haben.)
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter – warm, schwer, nicht herrisch, sondern echt.
„When you see her move, when you hear her broken sounds – remember, she doesn’t know you. And you don’t know her. But both of you believe you do. That’s the beginning of all tragedy.“
(Wenn du siehst, wie sie sich bewegt, wenn du ihre gebrochenen Laute hörst – denk daran: Sie kennt dich nicht. Und du kennst sie nicht. Doch ihr glaubt es beide. Das ist der Anfang aller Tragödien.)
Azrael sah ihn an, verwirrt, wütend, traurig zugleich.
„Then what should I do?“ (Was soll ich dann tun?)
„Listen. Not with your ears. With your silence.“
(Hör zu. Nicht mit deinen Ohren. Mit deiner Stille.)
Er ging, ohne ein weiteres Wort.
Azrael blieb allein am Geländer stehen.
Unter ihr rauschte das Meer, und irgendwo tief unten schlief Talee – ein Rätsel aus Körper und Erinnerung.
Sie verstand Luzifers Worte nicht, nicht wirklich – aber sie fühlte ihr Gewicht.
Vielleicht, dachte sie, war Weisheit einfach nur das:
zu wissen, dass man nie genug versteht,
und trotzdem weiter zuzuhören.
Das Glas über dem Gehege spiegelte den Himmel aus Metall.
Dampf hing in der Luft, träge und süßlich.
Zwischen Wasserbecken und Sand lag Talee.
Ihre Haut glänzte im Licht, glatt, bis auf die dunklen Ringe an Hand- und Fußgelenken – Spuren, die kein Arzt löschen konnte.
Die Tür zischte auf.
Eine Schnee-Elbin trat ein, groß, ruhig, in einem einfachen Kleid.
An ihren Füßen Stiefel, an den
Händen dünnes Leder – die Fingerspitzen schimmerten darunter silbern, wie aus Wind gesponnen.
Sie bewegte sich leise, doch nicht wie jemand aus der Erde – eher wie jemand, der gelernt hatte, nicht zu fallen.
Talee richtete sich halb auf, blinzelte.
Ihre Stimme war heiser, tief, Alt-Apache:
„Díí béésh doo nihí kéyah da’.”
(Dieses Metall gehört nicht zur Erde.)
Die Schnee-Elbin blieb stehen, nickte langsam.
„Béésh shí yá. Áádóó shí kéyah yá’át’ééh.”
(Das Metall ist jetzt ich. Und ich liebe immer noch die Erde.)
Talee verzog den Mund, fast ein Knurren.
„Díí kéyah nisin. Nihí dóó nihí yá.”
(Diese Erde ist Leben. Nicht Tod.)
Die Schnee-Elbin trat näher.
Ihre Stimme blieb sanft, aber fest.
„Díí kéyah doo shí nisin da’. Áko shí nihí yá.”
(Diese Erde nimmt mich nicht
mehr. Also trage ich sie in mir.)
Oben hinter der Glaswand standen Azrael und die Ärztin.
Der Dampf verschleierte die Sicht, das Gespräch war nur Ton, kein Verstehen.
Die Ärztin runzelte die Stirn.
„What are they saying?“ (Was sagen sie?)
Azrael beobachtete die Gesten.
„It’s… about home.” (Über Heimat.)
Talee sprach wieder, laut, fast bebend:
„Nihí kéyah nisin. Áádóó shí nisin
doo nihí da’.”
(Unsere Erde ruft. Und ich will zurück.)
Die Schnee-Elbin blickte zu ihr, dann zum Beobachtungsraum.
„She wants to go outside,“ sagte sie auf Englisch, ruhig, klar.
(Sie will nach draußen.)
Die Ärztin verschränkte die Arme.
„Outside? Impossible. She’s unstable.“ (Nach draußen? Unmöglich. Sie ist instabil.)
Die Schnee-Elbin atmete tief.
Der Wind in ihren Lungen schien
sich zu bewegen.
Sie hob beide Hände – das Leder spannte, Magie flackerte an den Nähten.
Ein Luftzug ging durch das Gehege. Erst sanft, dann kräftiger.
Sand wirbelte, Wasser kräuselte sich, ein metallener Becher fiel um.
„She’s not dangerous,“ sagte die Elbin leise.
„She’s breathing again.“ (Sie atmet wieder.)
Die Ärztin wich zurück.
„That’s not medicine. That’s chaos.“ (Das ist keine Medizin. Das ist
Chaos.)
Die Elbin drehte sich zu ihr, das Haar im Wind.
„No,“ sagte sie. „That’s life.“ (Nein. Das ist Leben.)
Talee verstand kein Wort,
aber sie sah, wie sich Luft und Wasser wieder bewegten,
wie die Erde unter ihren Fingern vibrierte.
Sie schloss die Augen, atmete ein,
und ein Laut löste sich aus ihrer Kehle — kein Wort,
sondern ein Klang, weich und fremd,
ein Ruf nach Nehásh.
Oben sah Azrael zu,
und Luzifers Stimme war wieder da, dumpf, leise,
> „Du willst sie retten, aber sie gehört dem Wind. Nicht dir.“
Die Ärztin schrieb etwas auf ihr Pad,
nüchtern, sachlich: „Patient shows uncontrolled elemental response.”
(Patientin zeigt unkontrollierte elementare Reaktion.)
Azrael sah nicht hin.
Sie folgte mit den Augen der Schnee-Elbin,
die langsam aus dem Gehege trat,
den Wind hinter sich schließend,
wie eine Tür, die sich von selbst erinnerte.
Der Raum roch nach Harz und Feuer.
Azrael saß zusammengesunken auf dem Teppich vor dem Kamin,
die Knie angezogen, die Hände noch staubig vom Sand des Geheges.
Draußen atmete die Stadt – Dampf, Stahl, das entfernte Rufen von Maschinen.
Drinnen war es still.
Lilith kam ohne Geräusch.
Sie trug kein Schwarz heute, sondern weiches Grau,
und ihre Füße machten kaum ein Laut auf dem Steinboden.
Sie setzte sich nicht auf einen Stuhl.
Sie kniete sich einfach zu ihr.
Azrael blickte nicht auf.
„I don’t understand her,“ flüsterte sie. (Ich verstehe sie nicht.)
„Talee… she looks at me like I’m the one who caged her.“ (Sie sieht mich an, als wäre ich die, die sie eingesperrt hat.)
Lilith schwieg, nur das Feuer antwortete.
Dann legte sie eine Hand in Azraels
Haar, fuhr langsam hindurch,
als prüfe sie, ob es wirklich echt war.
„You carry too much for someone who hasn’t even lived yet,“
(sagte sie leise, Du trägst zu viel, für jemanden, der noch kaum gelebt hat,)
„and still you think you can heal the world.“
Azrael hob den Blick, suchte ihre Augen.
„Someone has to.“ (Jemand muss es tun.)
Lilith lächelte schwach.
Nicht spöttisch, nicht überlegen – müde.
„That’s what your father said once.“ (Das hat dein Vater auch einmal gesagt.)
Sie seufzte. „And before him, his father.“ (Und vor ihm, sein Vater.)
Azrael runzelte die Stirn.
„You mean—Jehovah?“ (Du meinst—Jehova?)
Lilith nickte, sah ins Feuer.
„He made me before Adam. From clay, not from rib. I was his first mistake.“
(Er machte mich vor Adam. Aus Lehm, nicht aus einer Rippe. Ich war sein erster Fehler.)
Ihre Stimme war ruhig, aber der Atem bebte.
Azrael rückte näher, legte vorsichtig die Hand auf ihre.
Lilith ließ sie liegen.
Das war selten.
„He didn’t make you wrong,“ (Er hat dich nicht falsch gemacht,) flüsterte Azrael.
Lilith lächelte.
„He thought so. When I asked him
to listen, he called it defiance.“
(Er dachte das. Als ich ihn bat zuzuhören, nannte er es Auflehnung.)
Eine Pause.
Nur das Knistern.
Dann:
„He is your grandfather, Azrael.“ (Er ist dein Großvater, Azrael.)
Das Feuer knackte, als wäre etwas darin zerbrochen.
Azrael zog scharf die Luft ein.
„That means… I’m—“
Lilith legte zwei Finger auf ihre Lippen.
„Don’t finish it.“ (Sag es nicht zu Ende.)
„You’re not him. And you’re not me either.“ (Du bist nicht er. Und du bist auch nicht ich.)
Sie zog Azrael sanft an sich,
legte die Arme um sie,
nicht streng, sondern so, wie jemand umarmt, der vergessen hat, dass er das kann.
Azrael lehnte sich an ihre Schulter,
hörte den langsamen Rhythmus von Liliths Atem.
Kein göttlicher Klang.
Nur Leben.
Eins, das sich weigerte, aufzuhören.
Lilith sprach weiter, ganz leise:
„He shaped me out of clay because he couldn’t bear to touch what bleeds.“
(Er formte mich aus Lehm, weil er nicht ertragen konnte, etwas zu berühren, das blutet.)
„But your father… he wasn’t afraid of the dirt. That’s why he fell.“
(Aber dein Vater … er hatte keine Angst vor dem Schmutz. Darum fiel er.)
Azrael hob den Kopf, sah sie an.
Tränen glänzten in den Augen, aber sie fielen nicht.
„Then what am I?“ (Was bin ich dann?)
Lilith streichelte ihre Wange.
„You’re the breath between light and earth.“ (Du bist der Atem zwischen Licht und Erde.)
„And you will hurt, because both sides pull at you.“ (Und du wirst leiden, weil beide Seiten an dir ziehen.)
Azrael flüsterte:
„I don’t want to be like him.“ (Ich
will nicht wie er sein.)
Lilith lächelte traurig.
„Then be like me,“ (Dann sei wie ich,) sagte sie,
„but don’t forget— I still burn.“ (aber vergiss nicht – ich brenne immer noch.)
Azrael senkte den Blick, legte den Kopf in Liliths Schoß.
Liliths Finger fuhren ihr durch das Haar,
langsamer, wärmer, tiefer.
Kein Gebet, keine Macht – nur das, was bleibt, wenn alle Lügen aufgebraucht sind.
Und in dieser Stille –
hörte Azrael zum ersten Mal ihre Mutter atmen,
nicht als Göttin, nicht als Schöpfung,
sondern als Frau, die müde war vom Ewigen.
Lilith beugte sich hinunter, flüsterte in ihr Haar:
„You are loved, even by broken hands.“
(Du wirst geliebt, selbs
t von gebrochenen Händen.)
Das Feuer brannte weiter.
Kein Flammenmeer. Nur Wärme.
Echte, menschliche Wärme.
Das Dock roch nach Salz, Metall und Regen.
Zwischen den eisernen Schienen dampfte Wasser aus den Ritzen, tropfte von den Luftschiffen herab.
Überall liefen Frauen in grauen Mänteln, trugen Kisten, Glasgefäße, Messinstrumente – kaltes Licht spiegelte sich in Stahl und Schweiß.
Das Meer war ruhig, schwarz, voller Versprechen.
Azrael stand am Kai.
Neben ihr lag das Schiff: ein Koloss aus schwarzem Eisen, mit
schmalen, blechernen Schornsteinen.
Auf dem Deck reihte sich Käfig an Käfig – keine Strafen, sondern Probenbehälter.
Darin: Wesen aus Nehásh.
Elben mit vernarbter Haut, Tiermenschen mit stumpfem Fell, Feen, deren Flügel nur noch Schatten waren.
Sie alle sahen in die Ferne, dorthin, wo sie einst frei gewesen waren.
Hinter ihr trat Luzifer aus dem Nebel.
Sein Mantel flatterte leise, der Geruch von Feuerstein und Rauch
folgte ihm.
Er blieb einen Schritt hinter ihr stehen.
„So this is your expedition,“ (Das ist also deine Expedition,) sagte er ruhig.
„My research,“ antwortete Azrael. (Meine Forschung.)
„And their return.“ (Und ihre Rückkehr.)
Er nickte.
„You always wanted to see what lies beyond the forest’s breath.“ (Du wolltest immer sehen, was jenseits des Atems des Waldes liegt.)
Azrael schwieg. Ihr Blick glitt über das Deck.
Talee stand in einem der Gehege an der Reling.
Sie hielt sich fest, das Gesicht zum Wind gewandt.
Ihre Haut war geheilt, nur an den Gelenken lagen dunkle Schatten, wo einst die Fesseln gesessen hatten.
Neben ihr arbeitete eine Schnee-Elbin, hellhäutig, still, mit metallenen Prothesen, die sich im Wind leicht bewegten.
Der Luftzug spielte mit den blassen Haaren, und für einen Moment
schien es, als würde der Wind selbst ihre Gliedmaßen lenken.
„They’ll be studied, not harmed,“ sagte Azrael leise. (Sie werden untersucht, nicht verletzt.)
Luzifer sah sie an, das Gesicht ohne Spott.
„Intentions are pure until they meet power.“ (Absichten sind rein, bis sie Macht begegnen.)
Er legte eine Hand auf ihre Schulter.
„But I know how much this means to you.“ (Aber ich weiß, wie viel dir das bedeutet.)
Azrael atmete tief.
„It’s not obedience,“ sagte sie. (Es ist kein Gehorsam.)
„It’s understanding. If I can prove they feel, think, build—“
(Es ist Verständnis. Wenn ich beweisen kann, dass sie fühlen, denken, erschaffen –)
„then maybe Father will stop calling them beasts.“ (dann hört Vater vielleicht auf, sie Bestien zu nennen.)
Luzifer nickte, kaum merklich.
„You forget, I am Father.“ (Du vergisst, dass ich dieser Vater bin.)
Er lächelte, ein seltener Ausdruck, warm und schwer zugleich.
„And still … I hope you’re right.“ (Und doch … hoffe ich, dass du recht hast.)
Der Wind wurde stärker, peitschte Gischt gegen die Reling.
Aus den Lautsprechern ertönten Kommandos.
Frauen spannten Seile, prüften Ventile, schoben metallene Riegel über die Gehege.
„Do you love them?“ fragte er. (Liebst du sie?)
Azrael blickte auf das Meer.
„I don’t know what that word means anymore.“ (Ich weiß nicht mehr, was dieses Wort bedeutet.)
„Then learn it.“ (Dann lern es.)
Er beugte sich vor. „Take them home. Not as a savior. As a witness.“ (Nimm sie nach Hause. Nicht als Retterin. Als Zeugin.)
Sie nickte, langsam, fast ehrfürchtig.
Hinter ihr summten die Motoren auf.
Rauch, Dampf, Funken.
Ketten lösten sich, die Planken vibrierten.
Auf dem Deck hob Talee den Kopf, roch den Wind, das Salz, die Freiheit.
Ihre Finger schlossen sich um das Gitter; die dunklen Stellen an ihren Gelenken glänzten im Licht.
Ein kurzer, unbewusster Laut entwich ihr – nicht Sprache, eher Erinnerung.
Luzifer trat zurück, der Wind zerrte an seinem Mantel.
„Bring me something true,“ sagte er. (Bring mir etwas Wahres
zurück.)
„Not a theory. A truth.“ (Keine Theorie. Eine Wahrheit.)
Am Ende des Kais stand Lilith.
Barfuß, das Haar frei, der Blick weich.
Sie hob die Hand, langsam, fast unscheinbar – kein Abschied, ein Segen.
Das Schiff setzte sich in Bewegung.
Wasser kochte unter den Schrauben, Dampf und Nebel legten sich über das Dock.
Azrael stand an der Reling, Talee und die anderen hinter Stahl und
Schatten.
Die Stadt des Luziferreichs brannte hinter ihnen wie ein Herz aus Metall.
Vor ihnen lag das Meer.
Still. Unendlich. Unwissend.
Und tief in Azraels Brust atmete etwas a
uf – ein leiser Schmerz, ein Hauch von Leben.
Kein Engel. Kein Tier.
Etwas dazwischen.
Das Meer roch nach Metall und Blut.
Der Himmel hing tief, schwarz, schwer wie Öl.
Das Schiff ächzte. Holz splitterte, Taue rissen, Stimmen schrien gegen den Wind an, aber der Wind fraß alles.
Azrael rannte. Ihre Hände brannten vom Salz, vom Metall der Reling.
„Get below deck!“ (Runter unter Deck!)
Doch niemand hörte sie mehr.
Das Wasser kam seitwärts, in Wänden, nicht in Wellen.
Der Sturm hatte keine Richtung – er kam aus allem.
Ein Schlag. Etwas explodierte. Feuer riss über das Deck.
Talee warf sich an die Gitterstäbe ihres Geheges, Wasser bis zu den Knien.
Ihre Augen waren weit offen, nicht panisch, sondern wach – zu wach.
Azrael stolperte zu ihr.
„I’ll open it—“ (Ich öffne es–)
Ihre Finger glitten ab, zu nass, zu kalt.
Das Schiff rollte, der Mast brach.
Eine Frau schrie, fiel ins Meer.
Talee schloss die Augen.
Ihr Atem wurde ruhig, unnatürlich ruhig.
Sie hob die Hände, langsam, als spürte sie jeden Tropfen Luft.
„Nihásh… shí… nihíni'ááh.“
(Nehásh… ich… höre dich.)
Azrael sah, wie sich die Luft änderte.
Nicht sichtbar – fühlbar.
Der Wind drehte, bog sich, als
würde jemand von unten daran ziehen.
„Talee! Don’t—!“ (Talee! Tu das nicht–!)
Aber sie tat es schon.
Das Meer hob sich.
Kein Donner, kein Blitz – nur Druck.
Der Sturm faltete sich um sie wie eine Faust.
Azrael wurde vom Boden gerissen, das Wasser riss ihr die Luft aus der Brust.
Talee stand mitten in der Welle, die
Haare klatschnass, die Arme ausgebreitet.
Sie rief noch einmal, lauter, fester:
„Shí… Nihásh… shí dóó nił hólǫ́.“
(Ich bin… Nehásh… ich bleibe hier.)
Das Meer gehorchte.
Nicht, weil sie es befahl – weil es sie erkannte.
Die Wellen brachen, drehten sich, trugen Azrael fort, weg vom sinkenden Schiff.
Holz zerbarst, Feuer erlosch, Schreie wurden zu Wasser.
Nur zwei Körper blieben an der
Oberfläche.
—
Stille.
Nur Atem. Nur Meer.
Azrael kam hustend zu sich. Das Wasser schmeckte nach Salz und Rauch.
Neben ihr – Talee, erschöpft, das Gesicht halb im Wasser.
Azrael zog sie hoch.
„You saved us…“ (Du hast uns gerettet…) flüsterte sie.
Talee öffnete die Augen, schwach, aber klar.
„Nehásh yá’át’ééh.“
(Nehásh ist gütig.)
Hinter ihnen verschwand das Schiff.
Nur Trümmer, Rauch, und der Geschmack von Eisen blieb.
Vor ihnen, weit entfernt, erschien Land – grün, still, lebendig.
Der Sturm brach.
Azrael legte den Arm um Talee, zog sie durch die letzten Wellen.
Sie stolperten an den Strand, fielen
in den Sand.
Kein Wort mehr. Nur Herzschlag, nur Wind.
Talee legte die Hand auf den Boden, spürte, wie der Sand atmete.
„Shí nihí Nehásh.“
(Ich bin wieder in Nehásh.)
Azrael verstand nicht. Aber sie lächelte.
Denn zum ersten Mal war der Wind still.
Das Meer schloss sich hinter ihnen.
Die Welt hielt den Atem an.
U
nd der Krieg der Götter begann sich zu bewegen – weit über ihnen, leise, unausweichlich.
Der Palast Gottes war keine Kathedrale mehr.
Er war eine Maschine aus Marmor und Stahl.
Über den Höfen zogen schwarze Kabel,
die Funken schlugen, wenn der Wind vom Süden kam.
In der Ferne arbeiteten Fabriken –
Räder, Dampf, Kanonen, alle unter dem Zeichen der Sonne.
Drinnen roch es nach Öl und Weihrauch.
Metatron – oder wie die Soldaten
ihn nannten, Marathon –
stand vor dem Thron, die Stimme Gottes.
Sein Gesicht war glatt, hell wie Papier.
Wenn er sprach, bewegte sich der Mund kaum.
„In nomine Dei,“ sagte er. (Im Namen Gottes.)
„Fiat purgatio mundana.“ (Die weltliche Reinigung soll geschehen.)
Hinter ihm standen die Generäle –
Männer in goldenen Uniformen,
ihre Augen auf die Karte gerichtet,
wo Ahnamara nur ein grauer Fleck war.
Metatron hob die Hand.
„Deus locutus est.“ (Gott hat gesprochen.)
Und Gott – auf seinem Thron –
bewegte sich nicht.
Er brauchte es nicht.
Seine Stimme kam durch Metatron,
klar, kalt, wie aus einem Telegraphen.
> „Bellum sacrum erit.“
(Es wird ein heiliger Krieg sein.)
„Ferrum et fides unientur.“
(Eisen und Glaube werden sich vereinen.)
„Lux contra mare, ordo contra chaos.“
(Licht gegen das Meer, Ordnung gegen das Chaos.)
Jedes Wort traf den Raum wie ein Hammerschlag.
Maria zuckte, als der Klang durch die Halle lief.
Eva sah nicht auf – sie starrte auf den Boden,
auf die Linien aus Messing,
die Strom führten zu den Lampen über ihnen.
Maria flüsterte:
„Domine, hoc non est purgatio… sed belli machina.“
(Herr, das ist keine Reinigung… das ist eine Kriegsmaschine.)
Metatron sah sie nicht an.
Er hatte keine Augen, nur Licht.
„Silentium est fides.“ (Schweigen ist Glaube.)
Jesus stand hinter ihnen, im Schatten der Säulen.
Sein Gesicht war ruhig,
aber seine Hände bebten.
Er wusste, was kommen würde.
Er kannte die Fabriken, die jetzt Waffen spuckten,
die Züge, die Soldaten trugen wie Opfergaben.
Gott erhob sich.
Das Geräusch war kein Schritt –
eher ein elektrisches Zischen,
als würde die Luft selbst gehorchen.
„Lux vincit,“ sagte Metatron für ihn. (Das Licht siegt.)
„Mare tacebit.“ (Das Meer wird
schweigen.)
„Femina conticescet.“ (Die Frau wird verstummen.)
Maria sank auf die Knie.
Nicht aus Glauben – aus Scham.
Eva kniete neben ihr,
legte die Hand auf ihre Schulter.
Jesus rührte sich nicht.
Sein Blick ging durch den Raum,
durch die Mauern, hinaus,
wo Rauch aufstieg über den Fabriken.
Der Klang der Trommeln kam näher –
nicht aus Fleisch, sondern aus
Stahl.
Die ersten Züge fuhren Richtung Westen.
Maschinen stampften.
Die Sonne spiegelte sich auf Bajonetten.
Metatron wandte sich an die Generäle.
„Incipite expeditionem sacram.“ (Beginnt den heiligen Feldzug.)
Ein Mann salutierte.
Ein anderer notierte im Protokoll.
Die Stifte kratzten.
Der Krieg begann mit Papier, nicht mit Blut.
Maria flüsterte:
„Et cum ferrum veniet oblivio…“
(Und mit dem Eisen wird das Vergessen kommen…)
Gott hörte es nicht.
Oder wollte es nicht hören.
Der Palast vibriert
e leise,
als die Maschinen der Welt anliefen.
Und irgendwo tief unter der Erde
begann das Meer zu atmen.
Der Himmel über dem Meer war grau wie verbranntes Metall.
Adams Flotte lag dicht unter den Küsten Ahnamaras –
Eisen gegen Fels, Feuer gegen Wind.
Die Schiffe dampften,
die Maschinen atmeten wie Tiere aus Stahl.
Über allem flatterte das Banner:
Dominus Vincet.
„Der Herr siegt.“
Adam stand an Deck,
die Finger am Griff seines Schwertes,
das längst mehr Symbol als Waffe war.
„Fiat ignis,“ (Es werde Feuer,) befahl er.
Kanonen donnerten,
und der Himmel riss auf.
---
Am Ufer stand Viktoria,
die Haare verfilzt vom Salz,
die Haut mit Runen bedeckt,
die in der Sonne glühten wie Brandmale.
„Þeir koma með járn,“ („Sie kommen mit Eisen,“)
flüsterte sie.
Hinter ihr Frauen in Lumpen,
die Hände voller Asche,
die Lippen blutig vom Singen alter Lieder.
Sie zogen Kreise in den Boden,
gossen Wasser hinein,
riefen die alten Worte:
„Við eigum jörðina,“ („Wir gehören der Erde,“)
„og hún mun svara.“ („Und sie wird antworten.“)
Der Boden bebte.
Das Meer erhob sich.
---
Die Granaten schlugen in die Klippen.
Splitter rissen Haut,
Rauch brannte in Lungen.
Aber die Erde brach auf.
Flüsse kehrten sich um,
Steine zersprangen,
Wurzeln stiegen auf wie Schlangen.
„Per Dominum!“ (Im Namen des Herrn!)
Adams Stimme hallte.
„Adversus daemonas!“ (Gegen die Dämonen!)
Doch da war kein Dämon.
Nur das Land selbst,
das sich nicht beugen wollte.
Die Schiffe kippten,
Eisen stöhnte,
Wasser presste Luft aus den Lungen der Männer.
Die Runen fraßen das Feuer,
die Magie verschlang den Rauch.
Viktoria sah, wie die Flotte zerbrach,
eine nach der anderen.
Kein Jubel.
Kein Sieg.
Nur Leichen im Wasser,
die langsam untergingen,
ohne je gebetet zu haben.
---
Später –
der Palast Jehovas.
Kälte, Gold, Licht.
Adam trat ein,
die Rüstung schwarz vom Ruß.
Metatron stand am Rand des Saales,
Feder in der Hand,
bereit, jedes Wort zu verewigen.
„Domine,“ begann Adam,
„perdidimus.“ (Herr, wir haben verloren.)
Jehova sah ihn lange an.
„Cur?“ (Warum?)
„Feminae,“ sagte Adam,
„elementa, terra, mare…
non gladio, sed anima.
Perdiderunt nos.“
(Frauen.
Die Elemente.
Erde. Meer.
Nicht durch das Schwert, sondern durch den Geist.
Sie haben uns besiegt.)
Ein Laut wie Wind ging durch den Saal.
Jehova erhob sich,
seine Gestalt wurde größer im Licht.
Er trat näher.
„Viri ceciderunt contra feminas.“
(Die Männer sind gefallen gegen Frauen.)
Er sprach ruhig,
doch die Luft bebte unter seiner Stimme:
„Si aqua defendit eas,
mare ardebit.
Si terra fovet eas,
terra frangetur.“
(Wenn das Wasser sie schützt,
wird das Meer brennen.
Wenn die Erde sie birgt,
wird sie zerbrochen.)
Er ging weiter,
der Blick wie geschliffenes Glas.
„Et si libertas docet eas…
ignis consumet.“
(Und wenn Freiheit sie lehrt,
wird das Feuer sie verzehren.)
Metatron hob den Kopf.
„Domine, quae terra?“ (Herr, welches Land?)
Jehova drehte sich langsam zu ihm
um.
„Omnia.“ (Alle.)
Er hob die Hand,
das Licht brach durch das Glasfenster,
fiel auf die Karte der Welt.
Er tippte auf zwei Punkte –
den grünen Dschungel von Nehásh,
und die glühende Stadt Luzifers im Süden.
„Lux et natura.
Duae pestes.“
(Licht und Natur.
Zwei Seuchen.)
Adam schluckte.
„Et quid faciemus?“ (Und was sollen wir tun?)
Jehova lächelte.
„Mittetis ignem.“
(Ihr werdet Feuer senden.)
---
Draußen läuteten die Glocken.
In den Werkstätten Velramis’
wurden Flammenwerfer geweiht,
Maschinen gesegnet,
Soldaten geschoren.
Der Himmel selbst schien zu
zittern,
als di
e Priester riefen:
„Deus vult!“ (Gott will es!)
Und in der Ferne,
über den grauen Wellen,
begann das Meer sich zu regen –
nicht aus Angst,
sondern aus Zorn.
Der Himmel über der Insel war still wie Stein.
Wellen brachen träge an den schwarzen Klippen.
Zwischen den Bäumen hingen silberne Blätter,
und der Fluss Strix floss mitten hindurch –
schwarz, klar, flüsternd.
Korar saß am Ufer,
die Beine angezogen, die Hände auf dem Boden.
Der Sand vibrierte leise unter ihrer Haut.
Sie konnte die Stimmen der Welt hören –
die Rufe der Flüsse,
die Schreie der Sterbenden,
das Herz der Erde selbst.
Hinter ihr näherte sich jemand.
Schritte, kaum hörbar.
Ein tiefer, ruhiger Atem.
Sie drehte sich nicht um.
„Chaíre, Hades,“
(sie sagte es ohne Überraschung – Sei gegrüßt, Hades.)
Der Mann blieb stehen,
ein Schatten zwischen den
Olivenbäumen.
Seine Haut war blass,
die Augen wie das Licht tief unter der Erde.
Er lächelte kaum merklich.
„Korar…“
Er sprach langsam, als schmecke er das Wort.
„Éti máchē érchetai.“ (Ein weiterer Kampf kommt.)
Korar sah in das Wasser.
„Oú monon máchē,“ sagte sie leise. (Nicht nur ein Kampf.)
„Poiós pólemos ginetai anánthropos.“ (Ein Krieg wird
geboren, der nicht mehr menschlich ist.)
Hades nickte.
„Kai sý tha eisai ekeí.“ (Und du wirst dort sein.)
„Nai,“ (Ja,) antwortete sie.
Ihre Stimme zitterte nicht.
„Oú denomai theá. Allá ouden echó.“
(Ich bin keine Göttin. Aber ich gehöre keinem.)
Er trat näher.
„Den peíraseis ton Theón?“ (Willst du dich wieder mit Gott anlegen?)
Korar hob langsam den Blick.
„Eínai óchi theós.“ (Er ist kein Gott.)
„Eínai paídi.“ (Er ist ein Kind.)
„Kai ta paídia prepei na mathoún.“ (Und Kinder müssen lernen.)
Hades lachte leise, ohne Freude.
„Kai poiós didáskei ton Theo?“ (Und wer lehrt einen Gott?)
Korar stand auf.
Der Wind griff nach ihrem Haar,
und der Strix begann heller zu fließen,
als reagiere er auf ihren
Entschluss.
„To néró.“ (Das Wasser.)
„I mnémē.“ (Die Erinnerung.)
„Kai egó.“ (Und ich.)
Sie sah zu ihm.
„Sý men phylásse tous nekroús, Hades.
Egó phylásso tous zóntas.“
(Du bewahrst die Toten, Hades.
Ich bewahre die Lebenden.)
Er nickte, ernst.
„Kai ótan ton nikás…?“ (Und wenn du ihn besiegst…?)
Korar lächelte, traurig.
„Den nikás ton ánemo, monon mathaíneis na pneís.“
(Man besiegt den Wind nicht – man lernt nur, zu atmen.)
Sie beugte sich hinab,
tauchte ihre Hand in den Strix.
Das Wasser leuchtete auf,
zeigte Bilder – Talee, Azrael, das Meer,
Liora im Schatten einer Flamme,
Viktoria zwischen Stahl und Schnee.
„Pántes akóma zóntes,“ murmelte sie.
(Sie alle leben noch.)
Hades nickte langsam.
„Mékhri to télos.“ (Bis zum Ende.)
Sie richtete sich auf,
die Augen fest auf den Horizont.
Dort, wo das Meer dunkel wurde.
Dort, wo sie wusste,
dass Jehova wartete.
„Tha erthoúne na kápsoun ton kósmο,“ sagte sie.
(Sie werden kommen, um die Welt zu verbrennen.)
„Kai tha eimái ekei.“
(Und ich werde dort sein.)
Hades’ Blick war ruhig.
„Eísai éti ánthropos?“ (Bist du noch Mensch?)
Korar lächelte.
„Den ímoun poté.“ (Ich war es nie.)
Dann wandte sie sich ab,
schritt den Pfad entlang,
hinein in das Licht, das aus dem Fluss stieg.
Ihre Schritte hallten wie Herzschläge.
Hades sah ihr nach,
bis sie verschwand.
Dann sprach er, kaum hörbar:
„Eínai archí, ou télos.“ (Dies ist ein Anfang, kein Ende.)
Der Strix rauschte.
Das Meer antwortete.
Und
über der Insel der Alten
flackerte für einen Moment
ein schwaches, blaues Licht –
wie das Aufblitzen eines neuen Atems.