Das Feuer warf lange Schatten über den Sand. Kinder saßen im Kreis, eng aneinander, ihre Gesichter glänzten im Schein. Über ihnen hing der Mond, still wie eine Schale Wasser.
Korar stand barfuß, das Gewand lose über der Haut. Ihre Augen glänzten – das linke grün, das rechte blau. Sie hob beide Hände.
Die rechte Hand geöffnet, flach, wie ein Blatt. Die linke dagegengelegt, dann führte sie die Hände an die
Lippen und blies sie auseinander, als streue sie Samen in den Wind.
(„Geschichte.“)
Die Kinder beugten sich nach vorn.
„Hóka,“ flüsterte eines in der eigenen Sprache. (Fang an.)
Korar begann:
„Es war einmal ein Mädchen, das am Fluss lebte. Ihre Mutter nannte sie Matoaka. Die Fremden gaben ihr einen anderen Namen: Pocahontas.“
Ein Murmeln ging durch die Runde. Kleine Finger strichen über die
Knie, als hielten sie den Klang fest.
Korar hob wieder die Hände. Beide Hände zu einer Schale geformt, sie bewegte sie wie fließendes Wasser, das durch die Finger rinnt. Ihr Blick wurde weich, die Schultern sanken.
(„Sie sprach mit dem Fluss.“)
„Der Fluss erzählte ihr Geschichten. Er lehrte sie, dass Bäume fühlen, dass Steine erinnern, dass alles lebt. Und sie glaubte, dass selbst Menschenherzen hören können.“
Die Kinder nickten. Ein Junge
flüsterte in Indigen: „Náshte.“ (Ja.)
Doch Korars Gesicht veränderte sich. Ihre Stirn spannte sich, die Lippen wurden schmal.
„Dann kamen Männer von weit her. Sie sagten, sie bringen Licht. Aber sie brachten Hunger. Sie sahen sie nicht als Tochter des Flusses, sondern als Ware.“
Ein Mädchen zog den Kopf ein, presste die Arme um die Brust. Die Wahrheit brannte in den Worten.
Korar hob die Hände ein drittes
Mal. Rechte Faust geballt, nach unten gestoßen, die linke Hand flach darüber – wie ein Siegel, das bricht. Die Augen hart, der Körper angespannt.
(„Gefangen.“)
„Sie nahmen sie. Zogen ihr die Kleider fort, gaben ihr Worte, die nicht ihre waren. Sie raubten ihr den Atem. Und als sie starb, sagten sie: So war es gut.“
Stille. Nur das Knistern des Feuers.
„Und der Fluss?“, fragte ein Kind leise.
Korar drehte die Hände, ließ die Finger zittern wie Regen, dann schloss sie sie an die Brust.
(„Erinnerung.“)
„Der Fluss schwieg nicht. Er ruft noch immer ihren Namen: Matoaka. Hört ihr ihn, wenn das Wasser rauscht?“
Die Kinder lauschten, als würde der Wind ihren Namen tragen.
Korar sah sie an, lange, ernst.
„Merkt euch: Es gibt keine Helden. Nicht sie, nicht die Männer, nicht
die Könige. Es gibt nur Fäden. Jeder von euch ist einer. Wenn ihr reißt, reißt das Muster. Wenn ihr stark bleibt, trägt es weiter.“
Der Wind fuhr durch das F
euer, ließ Funken tanzen. Kein Kind sprach mehr.
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Das Meer atmete schwer. Dünung hob und senkte das Deck wie den Brustkorb eines schlafenden Ungeheuers. Seile knarrten, Holz ächzte.
Talee lag auf der Planke, die Haut aufgerissen von Striemen, die Fesseln grob und rau. Ihre Hände waren auf den Rücken gezwungen, der Hanf schnitt ins Fleisch. Jeder Zug des Schiffs riss sie weiter auf. Sie konnte die Finger kaum bewegen, nur ein Zittern, das wie abgebrochene Zeichen wirkte.
(Sha-nú, bruchstückhaft: „Lasst… mich…“)
Niemand verstand.
Ivar stand über ihr, breitbeinig, das Gesicht hart vom Wind, die Augen wie Eisstücke. Er sprach in seiner Sprache, schnell und kalt:
„Hún er ein.“ (Sie ist eine.)
Die Männer lachten.
Talee hob den Kopf, die Haare fielen ihr ins Gesicht, klebten an den salzigen Wangen. Sie rief, heiser, verzweifelt:
„Ya’sé Talee!“ (Ich heiße Talee!)
Die Worte zerrissen im Wind. Für die Männer klang es wie das Schreien einer Möwe.
Ivar kniete sich neben sie, packte ihr Kinn grob, zwang sie, ihn anzusehen. „Tyst.“ (Schweig.) Sein Atem roch nach altem Bier, seine Finger drückten schmerzhaft in ihre Haut.
Sie spürte die Kälte des Decks, den Blick der Männer. Scham schnürte ihr die Kehle enger als das Seil. Sie drehte den Kopf weg, doch das brachte nur Gelächter. Einer stieß mit dem Stiefel gegen ihre Hüfte,
nicht hart, nur demütigend, prüfend wie man ein Tier mustert.
Ihre Brust hob und senkte sich schnell. Sie schloss die Augen, versuchte die Natur zu spüren – den Rhythmus des Wassers, die Federn des Windes. Für einen Atemzug antwortete das Meer. Ein Zittern ging durch die Planken, ein Tropfen Salz spritzte an ihr Gesicht.
Doch dann griff Ivar nach den Fesseln, zog sie schärfer an. Der Schmerz fuhr ihr wie Feuer in die Schultern. Sie sog die Luft ein, ein
Schrei entkam ihr, hoch und kurz.
(Sha-nú mit bloßen Handgelenken, unvollständig: „Mutter… Inari…“) Ihre Bewegungen wirkten für die Männer wie sinnloses Winden.
„Fegtur,“ sagte einer. (Vieh.)
Talee rang nach Atem. Die Scham war brennend, der Schmerz bohrte sich tiefer. Doch unter allem, verborgen wie Glut im Dunkeln, spürte sie etwas anderes: Trotz. Ein Flüstern im Wind, das nur sie hörte.
(„Halte stand. Dein Weg ist nicht hier zu Ende.“)
Sie presste die Lippen zusammen, schmeckte Blut. Ivars Griff hielt sie nieder. Das Schiff rollte in die Nacht hinaus, fort von Nehásh,
fort von allem, was sie kannte.Das Schiff stank nach Salz, altem Fisch und Schweiß. Überall hörte sie das Klatschen der Wellen, das Zerren der Seile. Jeder Schlag des Wassers gegen den Rumpf war wie ein Herzschlag, der nicht ihrer war.
Talee lag nackt zwischen den
Ballen, die Haut klebte an den rauen Brettern. Jeder Splitter bohrte sich in sie, doch sie konnte sich nicht befreien. Die Fesseln hielten, die Männer hielten.
Sie spürte die Blicke. Schwere, prüfende Augen, die nicht auf ihr Gesicht fielen, sondern über ihren Körper glitten wie Messer. Für sie war sie keine Person, nur Ware.
Ivar trat näher, wies mit der Hand. Zwei Männer packten sie grob, zerrten sie hoch. Ihr Körper stolperte, die Fesseln schnitten. Sie versuchte, die Knie
zusammenzupressen, sich zu verbergen, doch der Griff an ihren Armen ließ ihr keinen Raum.
„Se på hende.“ (Sieh sie dir an.) Ivars Stimme klang zufrieden, als würde er ein Pferd begutachten.
Talee drehte den Kopf, die Haare fielen vor ihr Gesicht, Scham drückte wie ein Gewicht auf ihre Brust. Sie rief, fast trotzig, in ihrer Sprache:
„Tósha! Nani ya’sé Nehásh!“ (Nein! Ich gehöre Nehásh!)
Ihre Stimme brach, heiser, doch klar.
Die Männer sahen sich nur an, lachten. Einer ahmte ihre Laute nach, verzerrt, spöttisch.
Talee spürte, wie ihr Herz raste. Sie schloss die Augen, bewegte die Finger, so weit es die Fesseln zuließen. Ein Zittern, kaum sichtbar.
(Sha-nú, unvollständig: „Ich bin… nicht euer.“)
Keiner verstand. Für sie war es nur Winden.
Ivar trat hinter sie, riss sie herum.
Mit einem Ruck drückte er sie gegen das Geländer, die kalte Brüstung hart in ihrem Rücken. Unter ihr brandete das Meer schwarz und bodenlos.
„Hør,“ zischte er. (Hör.) „Hvis du gør oprør, kaster jeg dig til havet.“ (Wenn du dich auflehnst, werfe ich dich ins Meer.)
Sein Griff bohrte sich in ihre Schulter, hart, drohend.
Talee sog scharf Luft ein. Für einen Atemzug dachte sie daran, zu springen. Lieber das Meer, als
dieser Blick, diese Hände. Doch dann hörte sie es wieder, leise im Wind, kaum mehr als ein Hauch:
(„Halte stand…“)
Sie blinzelte, Tränen liefen über ihre Wangen. Ihr Körper zitterte, doch sie wich nicht zurück.
Ivar stieß sie los, sie fiel hart zu Boden, Haut riss auf. Er wandte sich ab, brummte etwas in seiner Sprache. Die Männer lachten erneut.
Sie blieb liegen, nackt, die Wangen nass vom Salz ihrer Tränen und des
Meeres. In der Brust brannte Scham, in der Kehle Angst, im Bauch ein leiser, sturer Funke: Sie lebte.
Und das
Meer rauschte, als lausche es ihr.Das Schiff knarrte, als es sich durch die Dünung schob. Stunden waren vergangen, seit Ivar sie hatte niederstrecken lassen. Talee lag gefesselt im Bauch des Schiffs, nackt, der Atem kurz, die Haut brennend von Schlägen und Seilen.
Die Männer weckten sie mit einem
Ruck an den Armen. Sie stolperte, der Boden unter ihr roch nach Salz und Teer. Licht fiel durch die Luken – der Hafen war nah.
„Hun må se ud som ny.“ (Sie muss wie neu aussehen.) Ivars Stimme schnitt durch den Raum.
Einer brachte eine Schale, gefüllt mit dickflüssigem Öl, dunkelgrün schimmernd. Es roch nach Oliven, doch darunter lag der metallische Beiklang von Magie. Der Runenpriester an Bord – ein alter Mann mit Tätowierungen bis zum Hals – murmelte Worte, die Talee
nicht verstand. Flackernde Symbole zeichneten sich kurz auf seiner Haut ab.
Das Öl begann zu leuchten, ein matter Glanz, als sei darin Licht eingefangen.
Die Männer packten sie, drückten sie mit dem Rücken gegen ein Fass. Ihre Arme wurden nach hinten gezerrt, die Fesseln schabten, bis das Blut aus kleinen Rissen trat.
Das erste Öl rann über ihre Schulter. Es brannte, als würde Feuer in die Haut dringen. Talee
schrie auf, der Laut wurde vom engen Raum verschluckt.
„Ya’sé Talee!“ (Ich bin Talee!) Ihre Stimme brach, voller Trotz und Verzweiflung.
Für Ivar war es nur fremdes Gekreisch. „Navn er intet,“ knurrte er. (Ein Name ist nichts.)
Die Männer rieben weiter, grob, mit rauen Händen. Über Arme, Rücken, Beine, bis ihr ganzer Körper glänzte wie frisch poliert. Wo die Haut offen gewesen war, schloss sich die Wunde, als hätte es sie nie
gegeben. Doch darunter blieb das Brennen, tiefer, heißer, wie eine unsichtbare Glut.
Talee versuchte, die Finger zu bewegen, kleinste Zeichen im Schoß, kaum sichtbar: (Sha-nú: „Schmerz… Hilfe.“) Doch die Fesseln ließen kaum Raum. Für die Männer war es nicht mehr als ein nervöses Zucken.
Der Runenpriester nickte zufrieden. „Sanata.“ (Geheilt.) Seine Stimme im Latein klang sachlich, als spräche er über ein Werkzeug.
Ivar musterte sie, trat näher, ließ seine Hand über ihren geölten Arm fahren. „Sådan.“ (So.) Sie glänzte im Licht, als wäre sie unversehrt. Niemand auf dem Markt sollte sehen, wie viel Gewalt in der Nacht nötig gewesen war, um sie hierher zu bringen.
Dann hallte das Krachen der Planken – das Schiff legte an. Stimmen drangen von draußen herein, Rufe, Befehle, das Bellen der Hunde.
Sie zogen Talee auf die Beine, führten sie hinaus. Die Sonne
blendete, heiß auf ihrer Haut, die noch von Öl und Zauber glänzte. Jeder Schritt über das Holz schmerzte, die Fesseln schnitten tief in die Haut ihrer Handgelenke.
Am Ende der Gangway stand der Hafenmeister. Ein dicker Mann, das Gesicht von Schweiß glänzend, die Augen wachsam. Er sprach in hartem Latein:
„Ad forum ducatur.“ (Führt sie zum Markt.)
Sein Blick glitt über Talee, nicht in ihr Gesicht, sondern über die
Linien ihres Körpers. Ein prüfendes Nicken, dann wandte er sich Ivar zu. „Tributum meministi.“ (Denk an die Steuer.)
Ivar lachte heiser, klopfte auf den Beutel an seinem Gürtel. „Jeg husker.“ (Ich erinnere mich.)
Talee stand da, nackt, glänzend vom Öl, das Brennen unter der Haut, die Scham in jeder Ader. Ihre Augen suchten Halt im Lärm des Hafens, doch niemand sah sie als Mensch. Für sie war sie Ware, ein Körper, ein Preis.
Und doch, tief in ihr, flackerte etwas. Ein Rest, der nicht gelöscht war.
Die Glocke schlug. Dumpf hallte der Klang über den Platz, während die Menge sich zusammendrängte. Der Hafenmeister, ein breitschultriger Mann mit goldbesticktem Umhang, trat vor. Sein Blick fiel streng auf Ivar, der Talee an den Armen vorführte.
„Incompositus,“ zischte er in Latein. (Unzureichend vorbereitet.)
Er griff in Talees Haar, das von Wind und Salz zerzaust war, und zog daran so hart, dass ihr Kopf zurückriss. „Hoc turpe est.“ (Das ist
Schande.)
Dann wandte er sich zu Ivar: „Multa solvenda.“ (Bußgeld zu zahlen.)
Ivar knurrte, griff in seinen Beutel und ließ schwere Münzen in die Schale fallen. Das Metall klimperte laut, die Menge lachte.
Nun befahl der Hafenmeister den Gehilfen: „Ornate eam.“ (Richtet sie her.)
Hände packten Talee grob. Einer zog einen Kamm aus Holz durch ihr Haar, riss Knoten auf, bis Tränen in
ihre Augen stiegen. Ein anderer teilte das Haar, flocht es streng, fixierte es am Hinterkopf. Dann wurde eine weiße Feder in die Strähne gesteckt – ein Spottzeichen, das den „Wert“ des Viehs anzeigte.
„Pulchra nunc,“ sagte der Hafenmeister kühl. (Nun schön.)
Die Menge johlte.
Talee zitterte, die Scham brannte in ihr. Ihre Lippen bebten, sie flüsterte in ihrer Sprache: „Ya’sé Talee… hásho…“ (Ich bin Talee… bitte…) – doch niemand verstand.
Für sie war es nur ein Klang.
Dann trat der Hafenmeister zurück, hob die Hand. „Incipiatur.“ (Es beginne.)
Die Auktion startete brutal. Käufer traten vor, drückten ihre Finger in Talees Fleisch, kniffen, schoben, tasteten. Einer zog ihr den Kopf zur Seite, um ihren Hals zu prüfen. Ein anderer packte ihren Oberschenkel, tastete grob.
„Decem!“ (Zehn!) rief einer.
„Viginti!“ (Zwanzig!) ein anderer.
Azrael trat vor, unscheinbar im dunklen Gewand. Ihre Stimme schnitt scharf durch den Lärm: „Triginta.“ (Dreißig.)
Ein Raunen ging durch die Menge. Eine Frau als Käuferin. Spott und Gelächter hallten. „Non licet! Femina non habet ius!“ (Unzulässig! Eine Frau hat kein Recht!) rief einer.
Der Hafenmeister sah streng auf das Kettchen, das unter Azraels Gewand hervorblitzte: das Zeichen der zugelassenen Käuferinnen. Sein Blick verengte sich. „Excepta est.“
(Sie ist zugelassen.)
Die Menge tobte. Höhere Rufe: „Quadraginta!“ – „Quinquaginta!“
Azrael blieb hart. „Centum.“ (Hundert.)
Schweigen. Ein gefährlicher Blickwechsel zwischen ihr und den Männern. Doch der Hafenmeister nickte. „Confirmatum.“ (Bestätigt.)
Nun kam der letzte Akt. Talee wurde gegen das Gestell gedrückt, das Eisen glühte. Ihr Oberschenkel wurde bloßgelegt. Sie wimmerte,
rief noch einmal, die Stimme verzweifelt: „Inari! Hásho!“ (Inari! Hilfe!)
Dann das Zischen. Der Geruch von Fleisch. Die Feder in ihrem Haar wippte, während sie sich wand, schrie, bis ihre Stimme brach.
Das Eisen blieb länger, tiefer, bis sie zusammensackte. Ohnmächtig.
„Signum factum,“ verkündete der Hafenmeister. (Zeichen gesetzt.)
Azrael trat vor. Ihr Blick war eiskalt. „Meum est.“ (Sie gehört
mir.)
Die Menge lachte, fluchte, jubelte. Doch der Handel war entschieden.Die Münzen wechselten den Besitzer. Ivar ließ sie laut in seine Hände zählen, jeder Schlag des Metalls gegen die Haut ein Beweis seines Gewinns. Sein Gesicht war kalt, berechnend. Er hatte Talee nicht mehr nötig – ihr Schrei, ihr Schmerz bedeuteten für ihn nur Kapital.
Der Hafenmeister notierte das Geschäft auf einer Wachstafel. „Venditio perfecta.“ (Verkauf
abgeschlossen.) Dann wies er zu den Käfigen, die am Rand des Marktes standen. Eisenstäbe, rostig, aber stabil. Drinnen hockten bereits andere: ein Miraner mit gebrochenem Arm, ein junges Fuchsmädchen mit gesträubtem Fell, ein alter Mann, der kaum noch atmete.
„In caveam,“ befahl er knapp. (In den Käfig.)
Azrael spürte die Blicke. Männer ringsum wollten sehen, ob sie zögerte. Eine Frau als Käuferin – schon ein Skandal. Sie durfte
keinen Fehler machen. Ihr Gesicht blieb unbewegt.
Sie griff Talee an den Armen, hob sie hoch wie eine Ware. Talees Körper war schlaff, ihr Atem flach, das Brandmal am Oberschenkel dunkelrot, glänzend vom Öl. Azrael trug sie zum Käfig, legte sie hinein. Eisen quietschte, als die Tür zuschlug.
Ein Gehilfe kam mit einer schweren Eisenkette, die am Boden des Käfigs befestigt war. Er packte Talees Fuß, riss ihn grob nach vorn und schloss die Kette um ihr Gelenk. Das
Schloss klickte, das Eisen schnitt sich in die Haut.
„Ut animal,“ murmelte einer. (Wie ein Tier.)
Die Menge lachte.
Azrael zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie durfte nicht protestieren. Ihre Hand griff nach der Eisenstange, sie nickte knapp. „Meum animal.“ (Mein Tier.)
Das Gelächter schwoll an. Einige Männer spien zu Boden, andere schüttelten den Kopf. Eine Frau, die Vieh kaufte – das war für sie eine
Schande. Doch der Hafenmeister nickte, zufrieden, weil alles nach Gesetz geschehen war.
Talee öffnete schwach die Augen. Sie sah die Eisenstäbe, die Kette an ihrem Fuß. Ihre Finger zuckten, versuchten, ein Zeichen zu formen, doch die Fesseln machten es unmöglich. Nur ein abgehacktes Zittern blieb. (Sha-nú: „Warum…?“)
Ihre Lippen bewegten sich, ein kaum hörbares Flüstern: „Ya’sé Talee… hásho…“ (Ich bin Talee… bitte…)
Doch niemand verstand. Nur Azrael sah das Zittern, die Schwäche – und in ihr regte sich etwas, das sie nicht zeigen durfte: Mitleid.
Sie wandte sich ab, nahm den Schlüssel zum Käfig an sich, wie es Brauch war. „Clavis emptoris.“ (Schlüssel der Käuferin.)
Die Menge zerstreute sich, das Geschäft war beendet. Ivar zählte seine Münzen erneut, steckte sie weg und verließ den Platz, ohne sich umzusehen. Für ihn war es abgeschlossen.
Für Azrael begann es erst.
Die Hitze des Brandzeichens lag noch in Talees Körper. Auch Wochen danach brannte ihr Oberschenkel, als sei das Eisen nie von der Haut genommen worden. Jede Bewegung an der Kette rieb das rohe Fleisch, ließ sie zusammenzucken. Wenn sie urinierte, rann der Schmerz bis in die Knochen.
Ivar hatte sein Geld. Azrael war die Käuferin. Doch in den Augen der Männer am Markt blieb Talee Vieh – und so musste Azrael sie auch
behandeln, wollte sie nicht selbst verdächtig werden.
Der Käfig war eng, kaum Platz, die Gitter drückten gegen ihre Haut. Ihre Haare hatte man streng gescheitelt, mit Öl zurückgestrichen, damit keine Strähne rebellisch wirkte. Eine Feder war hineingesteckt worden, ein Zeichen von Besitz, nicht von Stolz.
Azrael stand vor dem Käfig, Arme hinter dem Rücken, Gesicht kühl.
„Obedire,“ sagte sie in hartem Latein. (Gehorche.)
Talee hob mühsam die Hände, so weit die Fesseln es erlaubten. Die Finger zitterten, die Bewegungen abgehackt.
(Sha-nú: „Schmerz. Ich habe Angst.“)
Für Azrael war es nur ein Rudern im engen Käfig. Sie verstand nicht. Doch ihr Blick verriet einen winzigen Riss in der Maske – ein Moment, in dem sie nicht Käuferin, sondern Zeugin war.
Ein anderer Händler blieb stehen. „Cur tantum pretium?“ (Warum so
hoher Preis?) Er grinste, streckte die Hand durch die Gitter, strich über Talees nackte Schulter. „Vieh bleibt Vieh.“
Azrael schlug die Hand des Mannes fort. „Quia mea est,“ zischte sie. (Weil sie mir gehört.) Ihr Ton war hart, wie ein Messer.
Der Mann lachte. „Videbimus, domina.“ (Wir werden sehen, Herrin.) Dann ging er weiter.
Talee hatte jedes Wort gehört, ohne Bedeutung. Nur die Stimmen, tief, schneidend, wie das Kreischen von
Metall. Sie drückte die Stirn gegen das Eisen, die Finger zuckten.
(Sha-nú: „Bitte. Nicht allein.“)
Azrael kniete sich hin, so dass ihre Augen auf einer Höhe mit den Gitterstäben waren. Für alle anderen sah es aus wie Kontrolle. Für Talee war es der erste Blick, in dem sie nicht nur Besitzerin sah.
Die Wochen zogen sich. Öl wurde über die Brandwunde gegossen, das Fleisch glänzte, schmerzte, brannte jedes Mal aufs Neue. Azrael tat es selbst, mit unbewegtem Gesicht, und wusste doch, dass sie ihr damit
Qual und zugleich Heilung gab. In den Nächten schlich sie in den Stall, wo die Käfige standen. Sie legte die Hand gegen das Eisen, flüsterte Worte, die Talee nicht verstand.
Und manchmal, wenn sie sicher war, dass niemand sah, öffnete sie den Käfig, nur um den Knöchel anzufassen, die Kette zu prüfen, länger als nötig.
Talee verstand, dass es ein Spiel war. Doch sie fühlte auch den Unterschied zwischen den Händen der Männer und der Hand Azraels:
Kälte dort, ein Funke hier.
Doch noch lagen Monate vor ihnen, bevor das Reich Luzifers in Sicht kam. Monate, in denen Talee Vieh bleiben musste – in Ketten, mit Brandmal, mit Öl, mit Scham. Und Azrael musste die Rolle spielen, bis sie beide an der Grenze in Sicherheit wären.Glocke schlug den Morgen. Kein Sonnenaufgang war zu sehen – nur der dumpfe Schlag, der alle in den Käfigen aufschrecken ließ. Eisen quietschte, Riegel sprangen.
Die Frauen krochen hinaus, einer
nach der anderen, Ketten am Fuß. Der Wärter las Namen und Nummern von einer Tafel ab. Talee hatte keinen Namen – nur ein Zeichen, eingebrannt in ihre Haut. „Vieh“, so stand es dort.
Azrael stand daneben, Arme verschränkt, das Gesicht streng, wie es das Protokoll verlangte. Ihre Augen huschten kurz zu Talee, doch sie ließ keine Regung zu. Jeder Blick konnte gefährlich sein.
Das Ritual begann: Reinigung. Jede Frau wurde grob mit kaltem Wasser übergossen, dann mit Öl
eingerieben – nicht aus Fürsorge, sondern, weil verbrannte Haut frisch aussehen musste, wenn man sie weiterverkaufte. Talee biss die Zähne zusammen, als das Öl in die Wunde sickerte. Sie keuchte auf, ein Laut in ihrer Sprache:
„Áneya…“ (Es brennt…)
Ihre Finger zuckten schwach gegen die Ketten, versuchten ein Zeichen zu formen. (Sha-nú: „Hör mich.“) Doch niemand verstand, nur Azrael sah es – und zwang sich, reglos zu bleiben.
Nach der Reinigung kam die Mahlzeit. Ein Napf für jede,
Brotkrumen, wässrige Brühe. Doch Azrael hatte nur für Talee gezahlt. Sie nahm selbst nichts, stellte sich an die Seite, während Talee den Napf mit beiden Händen hob, hastig trank, als könnte er ihr entrissen werden. Die anderen Frauen warfen neidische Blicke, manche flüsterten. Azrael spürte es – jeder Blick bohrte sich wie ein Messer in ihren Rücken.
Am Mittag mussten die Frauen vorgeführt werden: nackte Körper, Haar mit groben Kämmen gespalten, Federn eingesteckt, als Schmuck für den Markt. Ein Wärter
lachte, als er Talee die Feder ins Haar schob – „seltene Ware“. Azrael notierte das wie eine Käuferin, eiskalt, damit niemand Verdacht schöpfte.
Der Nachmittag war Zählung und Gebet. Die Frauen wurden in Reihen gestellt, kniend, während ein Priester Latein murmelte. „Corpus servitium Dei“ (Körper dienen Gott). Talee verstand kein Wort. Sie beugte sich nicht tief genug, und ein Schlag mit dem Stock traf sie zwischen die Schulterblätter. Sie stöhnte, die Hände ruckten hoch, unvollständig:
(Sha-nú: „Warum…?“) Aber die Männer lachten nur.
Abends wurden sie wieder in die Käfige gedrängt. Eisen quietschte, Ketten klirrten. Azrael brachte Talee in „ihren“ Käfig – sie musste so tun, als würde sie Vieh behandeln. Die Kette wurde angelegt, das Schloss geprüft. Ein Wärter grinste: „Deine Ware, Frau. Hüte sie.“
Als die Schritte verklangen, kniete Azrael neben den Stäben. Flüsterte kaum hörbar: „Resiste…“ (Halte durch.) Talee hob den Kopf,
verstand das Wort nicht, aber sie sah den Blick. Ihre Finger zuckten ein letztes Mal, gehorchten kaum. (Sha-nú: „Nicht allein.“)
Dann fiel die Nacht, und das Protok
oll begann von vorn.Die Nächte waren das Schlimmste. Kein Feuer, kein Lied, kein Traum. Nur Eisen, Atem, Schweiß und das leise Tropfen von Wasser, das von den Balken rann.
Die Frauen lagen dicht nebeneinander in Käfigen aus Holz und Eisen, Ketten an den Füßen,
Halsringe, die klirrten, wenn sie sich bewegten. Jeder Husten, jeder Laut wurde sofort gehört. Ein Wärter ging mit Laterne durch die Reihen, prüfte Schlösser, notierte auf einer Tafel.
Talee hockte in der Ecke ihres Käfigs. Nackt, die Haut noch wund vom Brandzeichen, das Azrael offiziell als „ihre Käuferin“ ausgewiesen hatte. Öl glänzte auf den Narben, hielt die Wunden offen, damit das Mal nicht heilte.
Sie hob die Hände, so weit die Ketten es zuließen, Finger zuckten
fahrig. (Sha-nú: „Hunger…“) Es war kein vollständiges Zeichen, nur ein Bruch, ein Zittern. Die Frau im Käfig neben ihr starrte sie an, verstand nichts. Für sie war es bloß Gefuchtel.
Azrael saß wenige Schritte entfernt, in der Reihe der Käuferinnen. Sie durfte nicht eingreifen. Hätte sie Talee zu früh gefüttert oder beruhigt, wäre Verdacht gefallen. Also blieb ihr nur der Blick: starr, streng, wie eine Besitzerin. Doch in der Enge des Käfigs, wenn die Wächter weitergezogen waren, flüsterte sie heiser in Latein:
„Fortis esto.“ (Sei stark.)
Talee verstand kein Wort. Sie hörte nur den Klang, das Vibrieren einer fremden Kehle. Sie antwortete in ihrer Muttersprache, kaum mehr als ein Hauch:
„Ya’sé Talee…“ (Ich bin Talee…)
Ihre Stimme brach, und sie rollte sich ein, wie ein Kind.
Die Nacht verging in Atemzügen. Kein Schlaf, nur das Brennen der Haut, das Ziehen der Ketten, das Stechen der Kälte. Jede Bewegung riss alte Wunden wieder auf. Die
Frauen nebenan flüsterten, weinten, beteten. Einige gaben keinen Laut mehr von sich.
Wenn die Glocke des Morgens schlug, wurden die Käfige aufgestoßen, und alles begann von vorn: Wasser, Öl
, Zählung, Gebet.
Die Halle des Palastes war erfüllt vom Geruch verbrannten Fleisches. Draußen loderten Scheiterhaufen; Schreie hallten durch die steinernen Wände wie Gebete. Jehova saß nicht mehr regungslos auf seinem Thron, sondern hatte die Ärmel seines Gewandes hochgeschoben.
Metatron stand neben ihm, die Hände auf einem offenen Buch, die Augen eiskalt. Maria kniete in einiger Entfernung, den Schleier tief ins Gesicht gezogen, als könne
er sie schützen.
Zwei Wachen schleppten eine Frau herein. Sie war gezeichnet von Schlägen, ihr Körper voller Brandblasen. Ihr Kleid hing in Fetzen, die Haut darunter nackt und roh. Die Männer warfen sie vor Jehova zu Boden, wie eine Opfergabe.
Metatron sprach laut, seine Stimme hallte:
„Domine, inventa est. Femina malefica, se daemonibus dedidit.“
(Herr, sie wurde gefunden. Eine Hexenfrau, die sich den Dämonen
hingegeben hat.)
Jehova erhob sich. Kein Dolmetscher, kein Gebärden. Seine Stimme selbst füllte die Halle, dunkel und donnernd.
„Mulier est radix peccati.“ (Die Frau ist die Wurzel der Sünde.)
Er griff nach einer Eisenstange, die neben dem Thron stand – rotglühend aus der Kohle, vorbereitet. Die Hexe wimmerte, kroch zurück, doch die Wachen hielten sie fest. Jehova trat selbst zu ihr, ohne Hast, und presste das Eisen auf ihre Schulter. Das Zischen
hallte wie Musik durch die Halle. Ihr Schrei gellte, übertönte selbst das Knistern des Feuers draußen.
„Ignis purgat.“ (Das Feuer reinigt.)
Metatron las kalt weiter, als sei es ein Gebet:
„Ut docet Malleus Maleficarum, omnis femina est suspecta. Natura sua fragilis, pronior ad daemonum pacta.“
(Wie der Hexenhammer lehrt: Jede Frau ist verdächtig. Ihrer Natur nach schwach, geneigt, Pakte mit Dämonen zu schließen.)
Die Wachen hielten sie nieder, Jehova setzte das Eisen erneut an – diesmal an ihrem Bauch. Der Geruch verbrannten Fleisches breitete sich aus, schwer, unerträglich. Maria biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuweinen.
Jehova sprach weiter, diesmal zu allen:
„Legem novam damus. Omnis mulier examinanda. Omnis infirma punienda. Qui dubitat, peccat.“
(Wir geben ein neues Gesetz. Jede Frau ist zu prüfen. Jede Schwache ist zu bestrafen. Wer zweifelt,
sündigt.)
Die Hexe, halb bewusstlos, wurde hochgerissen, hinausgeschleift. Blut und verbrannte Haut tropften auf die Marmorplatten.
Maria sank tiefer auf die Knie, Tränen unter ihrem Schleier. Sie wusste, das war kein Einzelfall. Es war Gesetz geworden.
Metatron schloss das Buch mit hartem Schlag.
„Malleus Maleficarum — Lex Dei.“
(Der Hexenhammer — Gottes Gesetz.)
Und so begann in Velramis die große Hexenjagd, nicht als Gerücht, sondern als Dekret.Das erste Licht fiel durch die hohen Fenster des Palastes. Kalt, bleich, wie das Auge eines Wächters. Maria stand neben dem Thron, die Hände im Schoß gefaltet, die blauen Flecken von der Nacht sorgsam mit weißem Puder überdeckt.
Metatron trat vor, die große Rolle in den Händen. Er schlug sie auf, das Pergament knisterte. Mit klarer Stimme las er aus, was Jehova in der Nacht diktiert hatte:
„Articulus VII. Die Jungfrau ist Eigentum des Herrn. Wird sie der Hexerei verdächtigt, so ist ihr Leib zuerst zu prüfen, ob unberührt. Ist sie unberührt, so ist ihr Leib durch Feuer oder Vereinigung zu brechen.“
Maria spürte, wie die Worte im Saal schwer wurden. Niemand widersprach.
Zwei Wächter führten ein Mädchen herein, nicht älter als sechzehn. Sie hatte gefleht, doch man hatte ihr den Mund mit einem Strick
verknotet. Ihr Körper war bleich vor Angst, die Hände gefesselt.
Jehova hob die Hand. Metatron übersetzte: „Prüfung.“
Der Palastarzt, ein alter Mann mit kaltem Blick, trat vor. Ohne Zögern kniete er sich neben die Gefesselte, begann die Untersuchung. Das Mädchen wand sich, ein ersticktes Wimmern drang durch den Knebel. Maria senkte den Kopf, wagte nicht hinzusehen.
„Virgo intacta,“ sagte der Arzt schließlich. (Unberührt.)
Metatron blickte zu Jehova. Die weißen Augen blieben leer, dann hob er langsam die Finger: „Gebrochen.“
Metatron übersetzte: „Der Wille des Herrn: Sie soll gebrochen werden.“
Ein Zittern ging durch Maria. Sie wusste, was folgen würde – und sie wusste auch, dass sie nichts tun konnte. Ihre Stimme blieb in der Kehle stecken, während die Wachen das Mädchen wegzerrten, hinaus in die Dunkelheit der Gemächer Jehovas.
Metatron schrieb mit seiner goldenen Feder: „So ward das Gesetz vollzogen. Von diesem Morgen an wird keine Jungfrau in Velramis unberührt bleiben, wenn der Herr es befiehlt.“
Und draußen auf dem Platz wartete schon das Volk, um das neue Geset
z verkündet zu bekommen.
Die Halle stank nach Öl und Schweiß. Kein blanker Glanz, keine kalte Perfektion – sondern Funkenregen, das Quietschen von Zahnrädern, Stimmen, die durcheinander riefen. Dutzende Männer und Frauen arbeiteten nebeneinander, Schulter an Schulter, wie eine einzige Maschine aus Fleisch und Metall.
Keiner besaß das Werkstück, das er in den Händen hielt. Kaum war eine Schraube angezogen, wanderte das Bauteil weiter, von Tisch zu Tisch,
von Hand zu Hand. Wissen gehörte niemandem allein – jede Formel wurde sofort an die Tafel geschrieben, jeder Gedanke laut ins Kollektiv gerufen.
„Achtung, Stromstoß!“ rief einer. Ein Zischen, dann der beißende Geruch verbrannter Isolierung. Ein anderer griff wortlos nach, schob das Bauteil weiter. Niemand hielt an, niemand stellte sich über die anderen.
In einer Ecke stand der Käfig. Darin kauerten zwei Tiermenschen – ein junger Fuchs-Mensch, die Ohren
angelegt, das Fell verschwitzt; daneben eine Frau mit Katzenaugen, starrend, die Arme um die Knie geschlungen.
Die Forscher machten Notizen, stritten mit erhobenen Stimmen.
„Ihre Reflexe sind schneller als jede Maschine.“
„Aber nicht berechenbar.“
„Dann sind sie nutzlos.“
Die Katze knurrte tief. Der Fuchs schlug mit dem Schweif gegen die Gitterstäbe, Funken sprühten. Die Maschine daneben brach aus dem
Takt, als hätte der Rhythmus des Körpers den Stromfluss gestört.
„Seht ihr?“ schrie einer. „Das ist das Problem! Sie entziehen sich! Tiere, Tiermenschen, Vieh – sie passen nicht in die Logik.“
Ein anderer brüllte zurück: „Dann müssen wir sie brechen, so wie Gott es tut!“
Stille breitete sich aus. Der Satz war ein Frevel hier. Im Reich Luzifers diente niemand einem Gott.
Die Aufseherin trat vor – eine Frau mit tätowiertem Hals, Öl auf den Händen. Ihre Stimme war hart, aber ruhig:
„Nein. Wir sind keine Priester. Wir zwingen sie nicht in Form. Wir zerlegen sie, bis wir verstehen.“
Die Tiermenschen im Käfig zogen sich zurück, die Augen glänzten vor Furcht. Das Summen der Maschinen setzte wieder ein, lauter, schneller, als wollte das Kollektiv die Scham übertönen.
Und doch blieb das Problem bestehen: Das Kollektiv konnte
Atome spalten, Welten berechnen – aber nicht d
ie Instinkte eines Körpers.
Der Hafen von Ahnamara bebte. Fässer wurden gerollt, Schiffe entladen, Händler schrien ihre Waren hinaus. Über dem Ganzen lag der Geruch von Salz, Teer, Rauch und Fisch. Zwischen den massiven Ständen, wo Ochsenhälften hingen und Waffen feilgeboten wurden, stand eine kleine, windschiefe Bude. Ein Tuch diente als Dach, vom Wind halb zerrissen.
Davor: Svala. Ihre Stiefel steckten bis zu den Knöcheln im
Hafenschlamm, die Haare hatte sie mit einer Feder geschmückt, die längst vom Regen klebrig geworden war. Ihre Augen blitzten, doch jeder konnte sehen: sie war arm, zu arm, um etwas Besseres als falsche Wunder zu verkaufen.
„Kom nær! Kom nær!“ (Kommt näher!) schrie sie, als hätte sie den größten Schatz der Welt. Sie hob ein Paar Stiefel hoch, grob zusammengenäht, das Leder schon rissig. „Dei gjer deg lett som vinden! Du kan gå på vatn!“ (Die machen dich leicht wie den Wind! Du kannst über Wasser gehen!)
Die Menge lachte, doch ein breitschultriger Krieger legte Münzen hin, mehr aus Neugier als Vertrauen. Er zog die Stiefel an, stapfte zur Kaimauer, sprang – und verschwand mit einem lauten platschen in den Fluten. Die Zuschauer brüllten vor Gelächter. Nur sein Kopf tauchte wieder auf, fluchend, während er zum Ufer paddelte.
Svala aber hob den Finger, grinste breit. „Ser du? Føtene er tørre!“ (Seht ihr? Die Füße bleiben trocken!) Das Gelächter schwoll
noch lauter an.
Doch kaum hatte sie die Münzen eingesteckt, stolperte sie selbst im Schlamm, fiel rücklings, die Stiefel hoch in die Luft. Sie rappelte sich auf, beschmierte Wangen, Feder verbogen, doch das Grinsen wich nicht.
„Neste!“ (Der Nächste!)
Jetzt zog sie ein Schwert hervor, aus grünlichem Glas, das im Licht funkelte. „Uknuseleg trollglas!“ (Unzerstörbares Trollglas!) Ein junger Seemann griff danach,
schwang es gegen einen Holzpfosten – und das Schwert zerbrach in hunderte Splitter. Die Menge gröhlte, einige buhten.
„Du slo feil,“ (Du hast falsch geschwungen,) sagte Svala, als wäre das die einfachste Erklärung. Sie selbst aber blutete von einem Splitter am Arm, den sie hastig unter ihrem Mantel verbarg.
Doch die Katastrophe nahm kein Ende. Sie zog einen schwarzen Umhang hervor, warf ihn einem Käufer über die Schultern. „Forflyttar deg på augneblinken!“
(Teleportiert dich sofort!) rief sie. Der Mann verschwand nicht – nur der Mantel. Er stand splitterfasernackt vor der Menge, die in schallendes Gelächter ausbrach.
„Magien er lunefull.“ (Die Magie ist launisch.) Svala versuchte, ihre Stimme fest zu halten, während die Wachen sich bereits näherten.
Zu allem Überfluss verfing sich der Rest des Mantels, den sie in den Händen hielt, in der Eisenlaterne neben ihrem Stand. Ein Funke flog, ihr Tuch fing Feuer. Sie schrie,
schlug mit einem Eimer Wasser darauf – und übergoss sich selbst, klatschnass, die Feder im Haar klumpte zu einem schmierigen Knoten.
Die Menge tobte. Einige kauften aus Spott, andere warfen ihr Fischreste an den Kopf. Svala aber stand da, tropfend, verwirrt, stolz wie eine Königin über Scherben und Rauch.
„Kjøp meir! Kjøp meir!“ (Kauft mehr! Kauft mehr!) rief sie trotzig, als wäre alles Teil ihres Plans.
Das Meer lag schwarz und schwer wie Öl. Kein Wind, kein Wellenschlag. Männer flüsterten, sie hielten die Ruder still. Da stand sie.
Eine Frauengestalt, kaum größer als jede Bäuerin. Doch sie stand auf dem Wasser, barfuß, das Fußkettchen aus Perlen klingelte leise im Stillstand der See. Ihr Haar hing nass, schwarz mit weißen Strähnen, Augen kalt wie Glas. In der Hand ihr Stab, die Metallringe sangen in der Finsternis.
„Ivar,“ sprach sie in seiner Sprache, klar und scharf wie ein Schnitt. „Das Meer nimmt dich.“
Er fluchte, lachte, nannte sie Bare en kvinne. (Nur eine Frau.)
Da riss das Wasser auf. Ein Leib so groß wie eine Halle, Zähne wie Lanzen – Leviathan. Das Drachenboot knackte, brach wie Holzspielzeug. Männer schrien, tauchten, wurden verschluckt.
Ivar wurde gepackt, ins Wasser gerissen. Er schluckte Salz, brüllte,
kämpfte. Viermal nahm ihn das Meer, viermal starb er und erwachte wieder im Schmerz – erst ertrinkend, dann zerschmettert, dann blind vom Salz, dann wie Treibholz.
Sie stand die ganze Zeit über ihm, schweigend. Für ihn war sie ein Gesicht des Hasses. Für die Männer am Ufer später nur ein Schatten, der sie packte, zerbrach, verschlang.
Als der Strom ihn trug, Tage später, bis an die Küste seiner Heimat, war nichts mehr Mensch an ihm.
Aufgedunsen, Haut zernagt, Augen ausgefressen.
Die Männer, die ihn fanden, raunten nur ein Wort:
„Der Rachegeist.“
Seitdem erzählen sie sich: Wer ein Kind, eine Frau, ein Wesen des Meeres raubt, den treibt das Wasser heim – tot,
nackt, zerschlagen.
Die Nacht war kalt in der Wüste. Das Feuer knisterte schwach, mehr Glut als Flamme, kaum genug, um Wärme zu spenden. Talee saß am Rand, die Knie angezogen, die Ketten zwischen ihren Fesseln scheuerten bei jeder Bewegung. Eisen, Sand, Salz vom Schweiß – die Haut war wund. Das Brandmal am Oberschenkel zog sich rötlich über ihre Haut, jede Berührung brannte, als läge die Glut noch immer dort.
Azrael hatte geschwiegen, seit sie das Lager errichtet hatte. Sie
musste spielen – die Käuferin, die Herrin, streng genug, um keinen Verdacht zu erwecken. Selbst jetzt, ohne Wachen, konnte jedes falsche Wort, jede falsche Geste sie verraten.
Sie zog ein hartes Stück Brot aus dem Beutel, hielt es hoch, damit Talee es sah.
„Manda.“ (Iss.) Die Stimme war fest, kontrolliert.
Talee hob den Kopf, ihre Augen schimmerten im Feuerschein. Sie verstand den Laut nicht. Ihre Lippen bewegten sich, rau vom
Hunger. „Ya’sé Talee.“ (Ich heiße Talee.)
Der Klang fiel schwer in die Stille. Azrael runzelte die Stirn. „Talee?“ fragte sie, das Wort unsicher nachsprechend.
Ein Nicken. Ein winziger Triumph inmitten der Scham. Talee ballte die Hände, so weit es die Fesseln zuließen, und hob sie an die Brust, Finger gekreuzt, Bewegungen klein, zittrig.
(Sha-nú: „Ich bin ganz.“)
Für Azrael war es nur ein Zucken
der Hände, unverständlich. Doch sie sah den Ernst in den Augen des Mädchens. Sie verstand nichts – und doch alles.
Sie legte das Brot neben sie in den Sand, ohne ein weiteres Wort. Talee griff danach, vorsichtig, die Kette klirrte. Sie biss hinein, langsam, als könnte selbst dieser Bissen wieder genommen werden.
Schweigen senkte sich über das Lager. Der Wind sang durch die Schluchten, trug Sandkörner mit sich. Azrael starrte ins Feuer, die Kiefer angespannt. Talee sah sie
von der Seite an, den einzigen Menschen, der sie nicht geschlagen hatte – aber auch nicht befreit.
Noch war sie Vieh. Noch war sie sicher nirgends. Nur der Sand wusste, wie nah sie beide
der Wahrheit waren.Die Reise zog sich über Monate. Von Stadt zu Stadt, von Karawane zu Karawane. Immer wieder musste Azrael Talee im Käfig vorzeigen, das Protokoll einhalten. Käufer stellten Fragen, musterten, boten Gold – doch Azrael weigerte sich, mit kühlem Gesicht und harter Stimme, wie es
von einer Herrin erwartet wurde. Nur so konnte sie sie behalten.
Die Sonne brannte. Eisen scheuerte unablässig an Talees Gelenken. Schorf bildete sich, brach auf, nässte wieder. Das Brandmal am Oberschenkel heilte nie ganz – jedes Reiben ließ die Narbe röten. Azrael rieb Öl hinein, doch das Brennen linderte es nicht. Nur die Haut glänzte, als wäre sie zur Schau präpariert.
Talee sprach kaum noch. Wenn sie etwas sagte, dann in ihrer Muttersprache:
„Hásho… shiné.“ (Mutter… ich träume.)
Für Azrael war es nur Klang, rau, gebrochen. Manchmal formte Talee mit zittrigen Händen Zeichen, doch gefesselt waren sie kaum erkennbar.
Die Nächte waren still, außer wenn das Fieber kam. Dann wälzte sich Talee, Schweiß rann über ihren Körper, das Eisen der Fesseln schnitt in die Haut. Sie murmelte Worte, sang halbe Lieder, die wie Wind durch die Bäume klangen. Azrael wachte daneben, stumm, wachsam. In ihr wuchs die Angst,
die sie nicht zeigen durfte: dass Talee kein „Vieh“ war, sondern ein Mensch – sterblich, verletzlich.
Als sie endlich die Tore des Hafens von Luzifers Reich erreichten, war Talee kaum mehr als ein Schatten ihrer selbst. Ihr Körper war abgemagert, die Wangen eingefallen, die Lippen trocken. Ihre Augen aber – blass, fiebrig, trotzig – richteten sich auf das Meer, das vor ihnen lag.
Azrael spürte einen Kloß im Hals. Sie wusste: wenn Talee jetzt zusammenbrach, würde kein
Zauber, kein Gold sie retten. Sie musste sie lebend hineinbringen – hinein in eine Welt, die zwar chaotisch und gefährlich war, aber eine Chance auf Freiheit barg.
Die Wachen am Tor hielten sie auf. Einer zeigte auf den Käfig, runzelte die Stirn. „Vieh?“ fragte er.
Azrael nickte knapp, zog den Mantel enger, die Kette an Talees Hals straff. „Vieh.“ Ihre Stimme klang kalt, wie vorgeschrieben. Doch ihre Hände zitterten leicht, als sie die Papiere übergab.
Talee spürte es. Sie sah sie an, kurz, mit fiebrigem Blick, die Finger zuckten unruhig aneinander.
(Sha-nú, bruchstückhaft: „Du… bist… nicht… wie sie.“)
Azrael verstand kein Wort. Aber der Blick tra
f sie wie ein Schlag.
Die Nacht roch nach Rauch. Über den Dächern des kleinen Fischerdorfs stand eine Fahne aus schwarzem Qualm, der sich in den Himmel zog. Schreie mischten sich mit dem Tosen der Brandung, das Knacken von Holz, das Zischen brennender Netze.
Viktoria stapfte durch den Sand, das Schwert schwer in der Hand. Ihr Atem ging gleichmäßig, trotz des Lärms um sie. Sie war eine Walküre – eine der wenigen. Ihr Brustpanzer glänzte matt im
Feuerschein, der Flügelhelm saß fest.
Vor ihr taumelte ein Mann, Fischer, barfuß, das Hemd zerrissen. In den Händen hielt er nur ein Netz, das im Feuer aufloderte. Er stolperte zurück, als er sie sah. Viktoria zog das Schwert hoch, schlug zu – ein schneller Hieb, sauber. Der Körper brach zusammen, das Netz fiel in den Sand, glühte noch.
Hinter ihr drängten die Ahnamara-Krieger in das Dorf. Sie plünderten, stießen Türen auf, zerrten Frauen heraus, warfen Fässer um. Kinder
schrien, Hunde jaulten. Einer der Krieger packte eine Alte, zerrte sie aus der Hütte – Viktoria sah es, doch sie wandte sich ab. Ihre Pflicht war nicht, zu retten. Ihre Pflicht war, die Toten zu führen.
Ein Schrei zerriss die Nacht. Ein junger Kämpfer aus ihrem Trupp lag am Boden, der Bauch aufgeschlitzt. Sein Blut sickerte in den Sand. Viktoria kniete neben ihm, legte die Hand auf seine Stirn. Er keuchte, versuchte noch, etwas zu sagen, dann erlosch sein Blick.
Sie schloss die Augen, zog tief Luft.
In diesem Moment war sie keine Kämpferin mehr, sondern Führerin. Ihre Flügel, unsichtbar für die anderen, breiteten sich aus, weiß, gleißend. Der Geist des Gefallenen erhob sich, blass, zittrig. Viktoria nickte ihm zu. „Komm.“
Doch neben der Pflicht kam der Schmerz. Jedes Mal, wenn sie eine Seele führte, blieb etwas zurück in ihr: Schwere, Müdigkeit, der Geschmack von Eisen im Mund.
Sie erhob sich wieder, das Schwert in der Hand. Um sie brannte das Dorf weiter. Frauen wurden in
Ketten gelegt, Boote ins Meer gezogen, Vorräte aufgeschichtet. Viktoria blickte auf die brennenden Hütten, das Meer, das die Schreie verschluckte – und wusste: Das war kein Sieg. Es war Pflicht.
Die Nacht würde enden, doch der Geruch von Rauch und Blut würde bleiben.
Der Morgen begann mit dem Ruf der Vögel. Nebel hing über den Bäumen, und der Boden war noch feucht vom Tau. Kinder rannten barfuß durchs Gras, lachten, riefen nach den Alten.
„Hásha-yu!“ (Komm her!) – rief ein Mädchen, während sie ihre Hände ausstreckte. (Sha-nú: beide Hände vorwärts, Finger gespreizt, einladend).
Die Frauen bereiteten das Frühstück. Mais wurde auf flachen
Steinen zermahlen, die Hände weiß vom Staub. Der Geruch von gerösteten Bohnen mischte sich mit dem Rauch kleiner Feuerstellen.
Am Waldrand standen Jäger. Ihre Körper waren bemalt mit Linien aus roter Erde, die Bögen gespannt, die Pfeile bereit. Ein Hirsch trat aus dem Unterholz, die Ohren wachsam, das Fell glänzend im Morgenlicht. Ein leises Zischen, dann der Aufschlag: Blut färbte das Gras.
Die Kinder verstummten, sahen zu. Ein alter Mann legte ihnen die Hände auf die Schultern. „Seht. So
schenkt uns der Wald Leben.“
Die Frauen hoben die Arme, Sha-nú: (Kreisbewegung über dem Herzen, dann beide Hände nach oben geöffnet – „Danke“).
Am Fluss wuschen zwei Mädchen Kleider. Sie sangen dabei ein altes Lied:
„Yanéwa, sháli, sháli…“ (Mutter, Wasser, fließe, fließe…)
Die Stimmen waren hell, trugen weit über das Wasser.
Abends versammelte sich das Dorf um das Feuer. Geschichten wurden
erzählt – Wonapalei, die mit Delfinen sprach. Pocahontas, die die Flüsse öffnete. Die Kinder lauschten mit großen Augen, und jedes Mal, wenn der Wind durch die Bäume strich, glaubten sie, die Geister ihrer Ahnen antworten zu hören.
In der Mitte saß ein alter Mann, die Hände zitterten, als er sprach:
„Denkt daran, Kinder – alles, was lebt, spricht. Manchmal mit Worten, manchmal mit Händen, manchmal mit Blut. Vergesst das nicht.“
Und die Kinder nickten, ernst, als
hätten sie verstanden.
Der Palast war still, nur das Tropfen der Brunnen hallte durch die Gänge. In der großen Halle stand der Thron – hoch, aus schwarzem Stein, von Kerzen gesäumt.
Gott saß reglos, in weißes Gewand gehüllt. Neben ihm der Übersetzer, ein Priester mit eingefallenem Gesicht. Jede Bewegung Gottes war klein, kaum sichtbar. Ein Finger zuckte, die Hand neigte sich – der Übersetzer erhob die Stimme.
„Dominus vult.“ (Der Herr will es.)
Maria stand am Fuße der Stufen. Ihre Augen waren gesenkt, die Hände gefaltet. Sie wirkte wie eine Statue – schön, aber leer. Eva neben ihr, blass, das Haar schütter. Beide Frauen waren mehr Besitz als Menschen.
Gott richtete den Blick auf sie. Kein Wort fiel, nur die Handbewegung. Der Übersetzer sprach, seine Stimme tonlos:
„Ihr seid Staub. Ihr seid Werkzeuge. Wer nicht gehorcht, wird
gebrochen.“
Ein Diener trat vor, öffnete eine Schriftrolle. „Malleus Maleficarum.“ Der neue Erlass: die Hexen sollten vertrieben, gefoltert, verbrannt werden. Das Gesetz wurde verlesen wie ein Gebet.
Maria atmete flach, sie wagte nicht, den Blick zu heben. Doch ihre Hände zitterten, kaum sichtbar. Gott sah es. Er erhob sich, ein Schatten fiel über sie.
Ein Schlag – hart, abrupt, ohne ein Wort. Ihr Körper zuckte, die Stille
des Saals blieb ungebrochen.
Dann sprach der Übersetzer, während Gott unbeweglich dastand:
„Dies ist die Ordnung. Der Wille Gottes duldet kein Weib, das widerspricht.“
Ein Priester flüsterte: „Die Unruhe im Meer… das Zeichen… Korar.“
Gottes Kopf wandte sich, langsam, als lauschte er in die Ferne. Für einen Moment spannte sich der Raum, als läge das Gewicht einer fremden Macht auf den Mauern. Dann sackte es ab, und nur die Kerzen flackerten.
Maria hielt den Schmerz in sich, die Wange gerötet, doch sie sprach nicht. Sie wusste: Worte bedeuteten nur weitere Schläge.
Der Hexenhammer wurde zusammengerollt, das Siegel Jehovas darauf gedrückt. Das Gesetz war geboren.
Und draußen, im Dunkeln, flüsterte der Wind vom Meer her – als wollte er daran erinnern, dass eine andere M
acht ihn längst beobachtete.Die
Halle war leer, nur Fackeln brannten. Maria und Eva wurden zurück in ihre Kammer geführt – ein karger Raum, steinerne Wände, ein schmales Bett, kaum Licht. Beide setzten sich auf die Kante, ihre Körper still, als hätten sie verlernt, was es heißt, sich frei zu bewegen.
Eva zog das Tuch enger um ihre Schultern. Die roten Striemen auf ihrem Rücken glänzten im flackernden Licht. Maria legte die Finger darüber, sanft, wie eine Mutter, die ein Kind beruhigen will. Doch ihre Hand zitterte.
Die Tür knarrte. Adam trat ein. Kein Gruß, kein Blick. Nur der Geruch von Wein und Schweiß. Sein Schritt hallte laut auf dem Steinboden.
„Obedite,“ sagte er, seine Stimme hart. (Gehorcht.)
Maria schloss die Augen. Sie wusste, was kam. Widerstand war zwecklos.
Adam griff zuerst nach Eva, zog sie grob zu Boden. Ihr Gesicht schlug auf die Steine, ein dumpfer Laut,
dann nur ein heiseres Wimmern. Er beugte sich über sie, die Hände grob, die Bewegungen brutal. Es war kein Akt von Lust, sondern von Macht – ein Mann, der nichts anderes hatte, als den Körper derer, die er niedermachte.
Maria stand auf, wollte dazwischengehen, doch Adams Blick traf sie. Dunkel, kalt. Ein Schlag traf sie an der Schläfe, sie taumelte zurück aufs Bett. Der Schmerz brannte, doch sie blieb still. Ein Laut hätte nur Schlimmeres gebracht.
Stille. Nur Adams Atem, schwer und keuchend, füllte den Raum. Eva wimmerte, regte sich kaum. Maria starrte an die Decke, jede Faser ihres Körpers angespannt. Sie zählte innerlich, wie ein Kind, das darauf wartet, dass ein Sturm vorüberzieht.
Als Adam sich schließlich von ihnen löste, ließ er sie liegen wie weggeworfene Dinge. Ohne ein Wort verließ er den Raum, die Tür fiel ins Schloss.
Evas Hände tasteten suchend nach Maria. Maria zog sie an sich, hielt
sie fest, wie eine Schwester, wie eine Mutter. Beide zitterten, leise, in der Dunkelheit.
„Wir sind nichts,“ flüsterte Maria. „Nur Schatten.“
Doch tief in ihrem Inneren, verborgen selbst vor Eva, glimmte ein Rest Funke – nicht Hoffnung, sondern Wut. Sie wusste: Irgendwann würde auch Gott selbst nicht mehr sicher sein.
Der Markt von Ahnamara war laut, überfüllt, das Geschrei der Händler mischte sich mit dem Knarren der Schiffe im Hafen. Der Geruch von Salz, Fisch und verbranntem Fett hing schwer in der Luft.
Zwischen den Buden stand Svala, ihre Haare strähnig, das Kleid voller Flicken. Eine Feder steckte schief darin – ihr „Zeichen“ für Glück, das sie nie hatte. Vor ihr lag ein Tuch mit Waren, die auf den ersten Blick nach Schätzen aussahen, auf den zweiten wie
Schrott.
„Seht hier, seht hier!“, rief sie, die Stimme schrill, fast überschlagend. „Ein Mantel, gewebt von den Runenpriestern selbst! Er trägt euch durch jede Wand!“
Ein dicker Mann griff zu, warf ihn sich über die Schultern und rannte los – direkt gegen einen Holzbalken. Der Mantel verschwand, der Mann nicht. Er lag stöhnend am Boden, während die Leute lachten.
Svala fluchte leise, raffte den Stoff
zusammen. „Falsch angewendet! Ihr müsst die Runen küssen, sonst…“ Sie brach ab, weil die Menge johlte.
Neben ihr stand ein Junge mit großen Augen. „Frau, warum geht bei euch alles kaputt?“
Svala sah ihn an, schob sich die Feder zurecht, als würde sie so Würde zurückgewinnen. „Weil die Götter mich hassen, Bengel. Aber sie hassen euch mehr, wenn ihr nichts kauft.“
Ein Raunen ging durch die Menge. Jemand zog eine gläserne Klinge
aus ihrem Stand – funkelnd, schön, fast zu perfekt. „Und das hier?“
„Ah! Das Schwert des Nordwindes! Bricht niemals!“ rief sie, stolz.
Der Käufer schwang es ein Mal gegen die Mauer. Das Glas zersprang in hundert Splitter. Schweigen. Dann Gelächter.
Svala stand da, mager, klein, das Gesicht gerötet vor Scham, doch sie stemmte die Hände in die Hüften und rief: „Seht ihr, das war ein Test! Wer lacht, hat den Segen der Walküren nicht verdient!“
Das Gelächter wurde nur lauter. Kinder warfen Fische nach ihr. Eine Krabbe klammerte sich an ihr Bein, als wolle sie das Schauspiel beenden. Svala kickte sie weg, stolperte und landete im Dreck – ihre Feder im Haar schief, der Rest ihrer Würde gleich mit.
Und doch, während alle lachten, griff ein einziger Käufer verstohlen nach einer kleinen Flasche, die sie ganz hinten versteckt hatte. Er roch daran – ein kräftiger Kräuterdunst. Heilsaft, echt.
Svala bemerkte es, blinzelte, und in ihrem Blick lag etwas wie Trotz: Zwischen all dem Schrott lag immer ein Stück Wahrheit.
Der Staub der Grenzstraße lag schwer in der Luft, die Sonne brannte erbarmungslos auf den Boden. Azrael führte Talee am Arm, wie es das Protokoll verlangte: die „Herrin“ voran, das „Vieh“ gebückt dahinter. Jeder Schritt war Kalkül. Jeder Blick konnte Verdacht wecken.
Doch drei Männer blockierten den Weg. Wachen, ihre Gesichter von Narben gezeichnet, ihre Augen kalt. Einer musterte Azrael, dann Talee.
„Ubi empta est?“ (Wo hast du sie gekauft?)
Azrael zwang sich, fest zu stehen. „In foro Velramis. Pretium solvi.“ (Auf dem Markt von Velramis. Ich habe bezahlt.)
Ein anderer lachte. „Bezahlt, sagt sie. Dieses Vieh…“ Er packte Talee am Kinn, drehte ihr Gesicht im Licht. „Zu glatt. Zu stolz.“ Seine Finger glitten über ihre Haut. „Ich glaube, sie lügt.“
Talee verstand die Worte nicht, nur den Ton. Scham schnürte ihr die Kehle zu. Sie schüttelte den Kopf,
versuchte zu sprechen:
„Ya’sé Talee! Nahóni!“ (Ich heiße Talee! Ich gehöre hier nicht hin!)
Die Männer lachten lauter. Einer riss an der Kette, die ihre Handgelenke fesselte. Eisen schlug gegen Knochen, der Schmerz jagte durch ihre Arme.
Etwas in ihr brach. Sie stammelte, die Finger krampfhaft gegen die Fesseln gepresst. Ein abgehacktes Sha-nú, fast unlesbar: Hände zittern, die Augen weit aufgerissen.
(„Nein. Nicht. Hört auf.“)
Niemand verstand.
Azrael wollte eingreifen, doch einer stieß sie zurück, seine Stimme giftig: „Tacere, mulier!“ (Schweig, Weib!)
Dann geschah es. Die Kette vibrierte. Erst kaum spürbar, dann wie ein lebendiger Strang. Das Eisen wurde heiß, glühte rot. Der Mann schrie, ließ los, seine Haut verbrannte an dem Ring.
Der Boden bebte. Risse zogen sich durch den Staub, Steine sprangen auf. Ein Schrei riss aus Talees
Kehle, roh, verzweifelt, kein Wort, nur Klang. Flammen brachen aus dem Erdreich, leckten an den Ketten, bis das Metall splitterte.
Die Männer wichen zurück, einer fiel, der Staub verbrannte unter seinen Füßen. Sie schrien: „Daemonium! Flamma inferni!“ (Dämon! Höllenfeuer!)
Talee stand. Nackt, bebend, aber frei. Ihr Körper gezeichnet von Brandwunden und Schmutz, Scham brannte wie eine zweite Haut. Doch in ihrem Blick lag etwas anderes: ein Funke von Stolz, der sie
aufrecht hielt.
Azrael sah es – und verstand in diesem Moment, dass dieses „Vieh“ keine Sklavin war. Sondern eine Kraft, die selbst Gott fürchtete.
Talee hob zitternd die Hände, unvollständige Gebärden, fast wie ein Gebet:
(„Mutter… hilf mir.“)
Dann sackte sie zusammen, die Ohnmacht riss sie nieder. Der Staub, der Brandgeruch, das Echo der Schreie blieben zurück.
Velramis. Die Straßen der Hauptstadt waren voller Staub und Stimmen, aber unter dem Gewimmel lag ein Schweigen, das niemand aussprach. Frauen gingen gebeugt, in graue Gewänder gezwungen, ihre Augen niedergeschlagen. Wer sprach, sprach leise. Wer schwieg, schwieg aus Angst.
Maria schritt neben Eva durch einen der Innenhöfe des Palastes. Zwei Frauen, die einst „Mütter der Menschheit“ genannt wurden –
doch beide längst nur noch Schatten unter der Hand Gottes und Adams. Maria hielt den Kopf gesenkt, als wäre ihr Nacken gebrochen. Eva hielt die Hände vor dem Leib verschränkt, die Finger wund von unsichtbaren Ketten.
Auf der Mauer darüber prangte ein neues Gesetz, ausgerufen von Metatron, die Schrift golden, kalt:
„Mulier taceat in ecclesia. Qui loquitur, peccat. Qui resistit, fit hostis Dei.“
(Frauen sollen schweigen in der Kirche. Wer spricht, sündigt. Wer
widersteht, wird Feind Gottes.)
Darunter standen Namen. Namen von Frauen, die am Morgen aus den Häusern gezerrt worden waren – angeklagt als „Hexen“.
Ein Junge lief vorbei, grinste, rief spöttisch: „Hexenmutter!“ und warf Schlamm. Er traf Eva am Kleid. Sie zuckte nicht, nur ein kurzes Zittern ging durch ihre Finger. Maria streckte automatisch die Hand nach ihr aus, dann zog sie sie wieder zurück. Nähe bedeutete Strafe.
Später, in der Nacht, hörte man die
Schreie. Ein neues Haus wurde durchsucht, eine Frau herausgezerrt, ihr Kind blieb weinend auf der Schwelle zurück. Männer riefen: „Für Jehova! Für die Reinheit!“
Maria lag wach, neben Gott, der neben ihr schlief wie ein Fels. Jeder Atemzug von ihm roch nach Wein und Blut. Sie wagte kaum zu atmen. Unter dem Laken brannten die Male, die seine Hände hinterlassen hatten.
Sie dachte an die Namen auf der Mauer. Und sie wusste: eines Tages
könnte auch ihrer dort stehen.
Die Nacht lag schwer auf den Gassen von Velramis. Zwischen Palastmauern und verfallenen Hütten sammelten sich Kinder, barfuß, hungrig, die Gesichter schmal. Ein schwacher Wind trug den Geruch von Asche und altem Stroh.
In der Mitte stand eine Frau. Niemand achtete auf sie – zu gewöhnlich war ihre Gestalt. Einfache Kleidung, barfuß, die Haare geflochten, ein Korb in der Hand. Für die Kinder war sie nur
eine Fremde.
Sie hob die Stimme, in einfachem Englisch, jedes Wort langsam, damit die Kinder sie verstanden:
„Once there was a girl. (Es war einmal ein Mädchen.)
She had nothing. No bread, no bed, no dress. (Sie hatte nichts. Kein Brot, kein Bett, kein Kleid.)
She walked the road, alone. (Sie ging den Weg, allein.)“
Die Kinder lauschten. Selbst die Kleinsten schwiegen.
„First, she met a poor man. (Zuerst traf sie einen armen Mann.)
He was hungry. She gave him her bread. (Er hatte Hunger. Sie gab ihm ihr Brot.)
Later, she met another. He was cold. (Später traf sie einen anderen. Ihm war kalt.)
She gave him her hat. (Sie gab ihm ihre Mütze.)
At last, she met one with no hope. (Am Ende traf sie einen ohne Hoffnung.)
She gave him her dress. (Sie gab ihm ihr Kleid.)
She stood naked in the night. (Sie stand nackt in der Nacht.)
But then – stars fell from the sky. (Aber dann – fielen Sterne vom Himmel.)
Silver coins. A white dress. Warm. (Silberne Münzen. Ein weißes Kleid. Warm.)“
Die Fackeln knackten. Ein Mädchen mit zerzaustem Haar flüsterte: „But we… we have nothing to give. (Aber wir… wir haben nichts zu geben.)“
Die Frau – Korar, verborgen – kniete sich nieder, sah das Kind an,
ihre Stimme weich, fast flüsternd:
„Even then… you give much. (Auch dann… gebt ihr viel.)
You give your tears. (Ihr gebt eure Tränen.)
You give your hope. (Ihr gebt eure Hoffnung.)
You give your life. (Ihr gebt euer Leben.)
That is enough. (Das reicht.)“
Die Kleine begann zu weinen. Ein Junge, älter, schob sich schützend vor sie. Neben ihm stand Liora, still, aufmerksam. Ihre Augen folgten jedem Wort, als wolle sie
mehr hören, als nur das Märchen.
Die Fremde lächelte schwach. Dann öffnete sie den Korb. Darin: kleine Süßigkeiten, hartes Zuckerwerk, Nüsse. Sie verteilte sie mit bedachten Händen, legte jedem Kind etwas in die Finger.
Ein Raunen ging durch die Kinder. Für sie war es ein Wunder, seltener als Gold.
Dann erhob sich die Fremde wieder. Sie ging in die Dunkelheit, barfuß, ohne Eile. Niemand fragte nach ihrem Namen.
Nur Liora blieb zurück, das Stück Zucker im Mund, die Gedanken unruhig. Sie hatte gespürt, dass in den Worten mehr lag als ein Märchen.
Der Weg bis an die Grenze war ein Martyrium. Wochenlang war Talee in Fesseln, die Haut wundgescheuert, die Brandmale am Oberschenkel nie richtig verheilt. Azrael hatte sie gekauft, aber nur unter der Bedingung, dass sie Talee wie Vieh behandeln musste – Käfig, Ketten, Protokoll Jehovas. Sonst hätte der Marktmeister den Verkauf für ungültig erklärt.
Auf dem Weg durch die Wüste von Velramis schien alles aus Sand, Staub und Schweiß zu bestehen.
Talee konnte kaum noch aufrecht sitzen, ihr Kopf hing, die Federn im Haar längst zerzaust, die Haut voller Krusten von alten Schlägen.
Im Käfig murmelte sie schwach, ihre Stimme brüchig:
„Ya’sé Talee… sha’ha…“ (Ich bin Talee… Feuer…)
Azrael verstand kein Wort. Für sie war es nur ein Laut, heiser, fast schon wie das Wimmern eines Tieres. Trotzdem blieb sie stehen, legte kurz die Hand an das Gitter. Ein Widerspruch in ihr: Sie wusste, dass sie die Rolle der Käuferin
spielen musste, kalt, berechnend, streng. Aber etwas in Talees Blick zerriss diese Maske jedes Mal.
Am Grenzposten kam der letzte Test. Männer des Reiches Gottes verlangten den Nachweis, dass Azrael ihre „Ware“ korrekt führte. Einer grinste, zog Talee am Arm nach vorn. Sie fiel, wie ein Sack, auf den Steinboden.
„Vieh,“ sagte er auf Latein, prüfte grob die Brandmale. „Noch lebendig?“
Azrael nickte knapp, wechselte ins
gleiche Latein: „Vix. Sed satis pro pretio.“ (Kaum. Aber genug fürs Geld.)
Es war eine Lüge. Talee war kaum noch am Leben. Ihr Puls raste unregelmäßig, die Haut kalt, die Lippen blau. Azrael spürte, dass sie stirbt, wenn sie noch länger so behandelt wird.
Die Wachen winkten ab, ließen sie ziehen. Kaum war das Tor zu Luzifers Reich in Sichtweite, löste Azrael ihre Maske. Sie kniete sich hin, zog Talee in ihre Arme, rieb ihr Gesicht, suchte nach Atem.
„Stay with me… don’t die now.“ (Bleib bei mir… stirb jetzt nicht.)
Talee öffnete die Augen nur für einen Moment. Sie konnte kaum noch gebärden – ihre Hände zitterten zu stark. Mit letzter Kraft hob sie zwei Finger, berührte Azraels Brust. Eine gebrochene, krumme Form von Sha-nú: („Du.“)
Azrael verstand das Zeichen nicht. Aber sie verstand den Blick – und der traf sie wie ein Schwert.
Talee sackte zusammen. Azrael hob
sie hoch, trug sie die letzten Schritte, während im Hintergrund die Sirenen Luzifers Reichs erklangen: das Signal, dass eine Prinzessin heimkehrte.
Die Tore öffneten sich. Ärzte stürmten entgegen. Azrael ließ Talee nicht mehr los, als man sie in die Klinik brachte.
Der Raum roch nach Metall, Öl und kaltem Stein. Helles Licht brannte von oben herab, ohne Wärme. Auf dem Tisch lag Talee, gefesselt mit Riemen, die sich in ihre Haut schnitten. Ihr Körper war übersät von Wunden – alte Brandmale vom Markt, neue Risse von der Überfahrt. Die Haut glänzte, weil man sie mit Öl eingerieben hatte, um sie „haltbar“ zu machen.
Ein Schreiber murmelte, während er schrieb: „Specimen 32-B. Weiblich. Elbe. Alter unbestimmt.
Gesundheitszustand: kritisch, aber stabil. Status: Tier.“
Azrael stand daneben, die Hände fest um die Lehne eines Stuhls gekrallt. Ihre Fingernägel schnitten in das Holz. Sie wusste, dass jedes Wort hier festgehalten wurde. Jede Regung konnte ihr den Rang kosten.
Lilith trat ein, lautlos, wie ein Schatten. Ihre Augen kalt, ihr Gesicht reglos. „Meine Tochter,“ sagte sie. „Du weißt, wie wir leben. Tiere sind Zahlen. Werkzeuge. Wir lassen uns nicht von ihnen berühren.“
Luzifer selbst folgte. Groß, unnahbar, die Stimme wie Donner, aber ohne Zorn – nur Gesetz. „Azrael,“ sprach er, „du bist schwach. Schon auf den Märkten in Velramis war es gefährlich, wie du gezögert hast. Und jetzt? Siehst du es nicht? Dieses Wesen ist ein Tier. Es atmet, weil wir es so wollen. Es stirbt, wenn wir es so wollen.“
Talee wand sich schwach. Ihr Atem kam stoßweise, die Augen glasig. Ihre Finger zuckten – winzige Bewegungen, ein abgebrochener Versuch von Sha-nú. Kaum sichtbar,
kaum lesbar. („Bitte… ich…“) Niemand außer Azrael erkannte es.
Ihr Herz pochte hart. Bilder brannten in ihr: Talee im Käfig, Talee auf dem Markt, Talee am Boden, als Vieh. Jetzt hier – reduziert auf eine Nummer, auf ein „Tier“.
Azrael hörte ihre eigene Stimme, rau, leise: „Sie… sie ist kein Tier.“
Luzifers Blick wurde scharf, Lilith schürzte kaum merklich die Lippen. Ein kurzer Augenblick des Schweigens, dann donnerte Luzifer:
„Noch einmal, Tochter, und du wirst selbst geprüft. Gefühle sind Verrat am Kollektiv.“
Azraels Brust hob sich, senkte sich. Schweiß perlte an ihrem Haaransatz. Sie sah zu Talee hinüber, die kaum mehr bei Bewusstsein war.
Und in diesem Augenblick zerbrach etwas.
Nicht im Körper Talees – sondern in Azraels Innerem.
Zwischen der Tochter des Königs und der Prinzessin des Kollektivs klaffte ein Riss.
Sie spürte, dass sie nie mehr dieselbe sein würde.
Die Halle war still, nur das Tropfen von Kondenswasser hallte von den Metallwänden. Maschinen surrten im Hintergrund, tief, monoton, als wäre die ganze Stadt selbst eine Lunge.
Lilith saß aufrecht auf dem kalten Stuhl, in schlichtem schwarzem Gewand. Vor ihr Azrael, die Hände verschränkt, der Blick gesenkt.
„Meine Tochter,“ begann Lilith, ihre Stimme klar, ohne Wärme, „du bist nicht zum ersten Mal schwach
geworden. Schon früher hast du Tiere geschleppt, die wertlos waren. Katzenfrauen, Wolfsleute, sogar einen Miraner. Immer dieselbe Geschichte. Du bringst sie hierher, pflegst sie, als ob sie mehr wären als Zahlen.“
Azrael schwieg. Ihre Finger krallten sich in den Stoff ihres Gewands.
Lilith lehnte sich leicht vor. „Das Kollektiv hat Geduld, aber Geduld ist nicht endlos. Wir forschen, wir bauen. Wir sind ein Jahrhundert voraus. Doch dein Herz hängt an Geschöpfen, die nicht in unsere
Ordnung passen. Tiere. Vieh. Schatten.“
„Sie…“ Azrael stockte, ihre Stimme rau. „Sie hat mehr Kraft als alle. Ich sah, wie sie Ketten brach. Feuer, Erde. Sie—“
„Genau deshalb ist sie gefährlich,“ schnitt Lilith scharf ein. „Gefährlich für dich. Gefährlich für uns. Willst du, dass dein Vater dich fallen lässt? Dass er dich selbst prüft?“
Azrael hob den Kopf, ihre Augen funkelten, aber in ihnen lag
Verzweiflung. „Und wenn ich sie heimbringe? Nach Nehásh. Heile sie dort. Lass sie zurück. Ich will nicht, dass sie hier stirbt, unter euren Maschinen. Sie gehört zur Natur, nicht zu uns.“
Liliths Gesicht blieb reglos, doch ihre Augen verrieten einen Anflug von Nachdenken. „Vielleicht. Vielleicht ist es das Beste. Aber wenn du das tust, musst du dich entscheiden, Azrael. Für uns oder gegen uns. Für das Kollektiv – oder für die Natur.“
Die Worte hallten in ihr nach.
Azrael spürte, wie sich etwas in ihr festsetzte. Ein leiser, brennender Entschluss: Sie wollte nicht länger nur Tochter des Königs sein. Sie wollte Wächterin sein. Für Natur. Für Freiheit.
Doch sie schwieg.
Lilith erhob sich. „Schick sie heim. Heile sie. Aber vergiss nicht: Am Ende bist du eine von uns.“
Azrael nickte, ohne Überzeugung.
In ihr tobte der Bru
ch weiter, tiefer, wilder.
Die Gemächer Luzifers lagen im tiefsten Schacht der Stadt, dort, wo die Hitze der Maschinen die Luft schwer machte. Funken stoben von Zahnrädern, irgendwo schlug Metall auf Metall. Es roch nach Öl, nach Blut, nach Eisen.
Azrael stand vor ihm. Gerade, aber innerlich zerrissen. Ihr Blick wich aus, als Luzifer sich aus dem Schatten löste. Hochgewachsen, die Augen brennend vor Spott und Klarheit.
„Meine Tochter,“ sagte er, das Wort schmeckte nach Hohn. „Schon wieder bringst du mir Vieh.“
Azrael ballte die Fäuste. „Sie ist kein Vieh. Sie—“
„Schweig.“ Luzifer trat näher, der Boden vibrierte mit jedem Schritt. „Du glaubst, ich sehe nicht, wie du dich binden willst? Erst die Wolfsleute, dann die Katzenfrau, jetzt dieses Kind aus Nehásh. Alles dieselbe Krankheit. Dein Herz, Azrael, ist schwach.“
Er griff nach ihrem Kinn, zwang
sie, ihm in die Augen zu sehen. „Aber Schwäche kann man nutzen. Sie wird ihm wehtun – meinem Vater. Dem Gott, der alles, was er nicht versteht, Vieh nennt. Wenn er sieht, dass seine eigenen Kinder sich mit dem ‚Niederen‘ verbinden… oh, das brennt tiefer als jedes Feuer.“
Azrael zitterte. „Also bin ich nur dein Werkzeug? Ein Dolch gegen ihn?“
Luzifer lachte rau. „Werkzeug? Nein. Du bist mein Erbe. Du bist der Stachel, den ich in sein Herz treibe.
Jedes Tier, das du rettest, jedes Wesen, das du heimbringst, erinnert ihn daran, dass seine Ordnung bricht. Das ist dein Wert.“
Er ließ sie los, trat zurück, verschränkte die Arme. „Sie wird nicht draußen sterben. Ich will, dass sie überlebt. Sie soll geheilt werden – hier, unter meinen Augen. Meine Ärzte, meine Alchemisten, meine Maschinen. Ihr Körper soll weiteratmen, ihr Schmerz soll dauern. Denn je länger sie lebt, desto größer die Schande für ihn.“
Azrael starrte ihn an. „Du willst
sie… am Leben halten, nur um ihn zu quälen?“
„Ja.“ Luzifers Stimme war kalt, schneidend. „Das Leben ist eine Waffe. Sie ist deine Waffe, meine Waffe. Erst wenn sie wieder atmen kann, wirst du sie hinausbringen. Zu den Wäldern, zu den Tieren, wohin auch immer du willst. Aber denk daran – ohne mich wäre sie schon tot.“
Sein Blick brannte. „Also schuldet ihr beide mir euer Leben.“
Azrael schwieg. Hass, Stolz, Schuld
drängten in ihr durcheinander. Sie sah Talee vor sich – schwach, fiebernd, kaum mehr Puls. Und sie sah die Hände ihres Vaters, die alles hielten: Macht, Heilung, Leben.
„Geh,“ sagte er, wandte sich halb ab, die Maschinen im Hintergrund kreischten. „Und vergiss nicht: Alles, was Gott hasst, macht mich stärker. Wenn du sie nach draußen bringst, wenn du sie zu ihrem Wald zurückführst, dann trägst du mein Feuer mit dir.“
Azrael nickte kaum merklich. Sie
wusste nicht mehr, ob sie wirklich für Talee kämpfte – oder ob sie längst nur eine Figur im Spiel ihres Vaters war.
Die Nacht in Nehásh war still. Das Meer rauschte in der Ferne, und jeder Atemzug der Kinder schien schwerer als das Feuer, das in der Mitte brannte. Funken tanzten, der Rauch stieg träge in den Himmel.
Korar saß barfuß am Rand des Feuers. Ihre Haut war vom Licht der Flammen gezeichnet, die weißen Strähnen in ihrem Haar glitzerten wie Salzkristalle. Sie bewegte die Hände, langsam, klar, jede Geste von Bedeutung.
Die rechte Hand erhoben, die Finger gespreizt. Dann senkte sie sie zur Brust, legte die Finger gekreuzt an ihr Herz.
(Sha-nú: „Hört mir zu. Was ich sage, ist Erinnerung.“)
Die Kinder rückten näher. Manche legten die Kinne auf die Knie, andere griffen nach den Händen ihrer Geschwister.
„Kanojo no na wa Wonapalei.“
(Ihr Name war Wonapalei.)
Die Worte klangen fremd, weich, getragen vom Wind. Korar neigte
den Kopf, ihre Augen schlossen sich kurz, als würde sie den Namen schmecken.
„Umi ga haha de ari, kaze ga ani de atta.“
(Das Meer war ihre Mutter, der Wind ihr Bruder.)
Sie streckte beide Arme nach links und rechts aus, als hielte sie die ganze Weite der See. Dann zog sie die Hände zurück, legte sie auf ihre Schultern und drückte sie fest an den Körper.
(Sha-nú: „Allein.“)
Die Kinder zuckten, als hätten sie die Einsamkeit gespürt. Das Knistern des Feuers wirkte lauter.
„Shima ni nokosareta shōjo…“
(Ein Mädchen blieb allein auf einer Insel…)
Korar führte die rechte Hand mit offener Fläche nach unten, als zeige sie in Sand und Erde.
(Sha-nú: „Verlassen.“)
„…nami to tomo ni iki, iruka to tomo ni asonda.“
(…lebte mit den Wellen, spielte mit den Delfinen.)
Ein Junge lachte kurz nervös, sah aber sofort wieder zu Boden, als Korars Augen ihn trafen.
Sie hob beide Hände, bewegte die Finger wellenförmig durch die Luft.
(Sha-nú: „Die See trug sie, wenn niemand sie hielt.“)
Dann ein schneller, scharfer Schnitt mit der Hand über ihre Brust.
(Sha-nú: „Schmerz.“)
„Demo kanojo wa taeta.“
(Aber sie ertrug es.)
Korar beugte sich vor, die Stimme tiefer, fast flüsternd:
„Sono uta wa, kaze no naka de mada kikoeru.“
(Ihr Lied ist noch heute im Wind zu hören.)
Die Kinder schauten zum Meer hinaus. Manche hielten die Süßigkeiten, die Korar nun hervorholte – getrocknete Früchte, mit Honig überzogen –, aber aßen sie nicht sofort.
Korar reichte jeder kleinen Hand etwas, und bei der Übergabe berührte sie Stirn oder Wange mit
einer leichten, feuchten Hand.
„Nominasai. Kanojo no tsuyosa o.“
(Esst. Trinkt von ihrer Stärke.)
Die Kinder aßen zögerlich, und in ihren Augen lag der Glanz von Hunger und Ehrfurcht zugleich.
Korar sah ins Feuer. Ihre Hände ruhten still in ihrem Schoß, aber ihre Augen spiegelten das Meer.
(Sha-nú, kaum sichtbar: „Wonapalei lebt in euch.“)
Und draußen, jenseits der Flammen, schien im Wind ein
fernes Wispern:
„Wonapalei…“