Kurzgeschichte
Reminiszenz an einen Sommer - Manches verglüht im Augenblick ? und wärmt doch ein Leben lang.

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"Reminiszenz an einen Sommer - Manches verglüht im Augenblick ? und wärmt doch ein Leben lang."
Veröffentlicht am 20. September 2025, 16 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Tatiana Navrotskaya - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht: Der Winter ist ein Bösewicht, die Bäume tragen Schneegewicht, die Stämme sind kahl und so schwarz wie ein Pfahl, die Felder sind weiß und auf dem See liegt Eis. In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.
Reminiszenz an einen Sommer - Manches verglüht im Augenblick ? und wärmt doch ein Leben lang.

Reminiszenz an einen Sommer - Manches verglüht im Augenblick ? und wärmt doch ein Leben lang.

Andrea war auf ein Bier in ihre Stammkneipe gegangen. Weil dort aber nichts los war, beschloss sie spontan, in dem neuen Lokal vorbeizuschauen, von dem sie gehört hatte. Draußen empfing sie frostige Finsternis; bestimmt würde es bald zu schneien beginnen. „Bei dem Wetter jagt man keinen Hund vor die Tür“, dachte sie schaudernd – „aber du musstest ja unbedingt Gassi gehen!“ Schon von außen machte das Lokal einen guten Eindruck. Sie trat ein – und wurde sofort von einer sonderbaren Stimmung eingefangen, die sie die winterliche Kälte rasch vergessen ließ. Vom Tresen aus beobachtete sie gespannt das lebhafte

Treiben. Offenbar war es Bistro, Restaurant und Disco zugleich. An der langen, verwinkelten Theke, die weit in den Raum hineinragte, standen zahlreiche Frauen beieinander; auch an den meisten Tischen saßen Paare oder kleine Grüppchen. Auf der Freifläche vor dem Tresen tanzten ein paar Frauen miteinander, zu der abwechslungsreichen Musik, die von einer DJane ansprechend gemixt und moderiert wurde. Die Atmosphäre war belebend, fand Andrea – ihr gefiel es. Ein besonderes Flair lag in der Luft, das nicht allein von den Klängen moderner Musik getragen wurde. Da war noch etwas anderes, etwas

Unaussprechliches. Vielleicht lag es daran, dass Männer in diesen Lokalen nur vereinzelt auftauchten, Frauen hier unter sich waren und sich frei und ungezwungen bewegen konnten. An mancher Kneipe wiesen Schilder unmissverständlich darauf hin: *Ladies only*. Eine ganze Weile schon hatte sie gedankenverloren mit ihrem Glas an der Bar gestanden, als sie ein Augenpaar bemerkte, das sie interessiert musterte. Doch als sie den Blick erwidern wollte, verschwand es unerkannt in der Menge. „Kann auch Zufall gewesen sein“, dachte sie, und wandte sich wieder der

Tanzfläche zu, wo zwei Frauen ungeniert miteinander flirteten. Andrea war zugleich amüsiert und befremdet. Nie könnte sie sich so freizügig präsentieren! Auch wenn sie mit einer Freundin schon einmal Hand in Hand durch die Straßen geschlendert war, fand sie es befremdlich, Zeugin dieses unverhohlenen Geknutsche zu sein. Doch niemand sonst schien sich daran zu stören. Da erhaschte sie erneut jenen Blick. Diesmal gelang es ihr, ihn zu erwidern – nur für einen kurzen Moment, aber lang genug, um zu erkennen, wem die Augen gehörten. Eine Frau, wenig jünger als

sie, mit kurzem schwarzem Haar, das seidig im Zwielicht glänzte. Die knöchellange weiße Kellnerschürze betonte ihre gertenschlanke Statur. Welche Farbe ihre Augen wohl hatten? Vermutlich blau – blaue Augen hatten es ihr schon immer angetan. Sie hätte vieles gern in Erfahrung gebracht, was diese Frau betraf. Nicht nur die Augen gefielen ihr. Ob sie hier wohl öfter kellnerte? Und ob sie eine Freundin hatte? Wie wäre es, mit ihr zu schlafen, sie zu spüren, statt sie nur aus der Distanz zu betrachten? Bei diesen Gedanken wurde ihr warm. Aber es würde wohl Sehnsucht bleiben, ein Verlangen, dem sie oft im Stillen nachgehangen hatte.

Während sie jedem Schritt der Frau unauffällig folgte, regten sich geheime Gefühle in ihr, die sie unruhig werden ließen. Sie trank ihr Glas leer. „Noch ein Helles?“ „Gern.“ Ihre Blicke kreuzten sich erneut, und Andrea verharrte einen Herzschlag zu lang in den graublauen Augen, die sie warm betrachteten. Wenige Augenblicke später kehrte die Kellnerin wortlos mit dem Bier zurück und verschwand im Gewühl. *Sie wäre es! Diese Frau, diese Augen!* Aufgewühlt und ratlos wandte Andrea den Blick ab. Sie anzusprechen – dazu fehlte ihr der Mut.

„Hi, Andrea. Lange nicht gesehen – und doch wiedererkannt.“ Sie drehte sich um und erkannte Christiane, mit der sie schon öfter ein Bier getrunken hatte. Christiane war schon sechzig, wirkte jedoch deutlich jünger. Vielleicht lag es daran, dass sie meist in Gesellschaft junger Frauen war. „Sie regen mich an“, hatte sie einmal erklärt. „Ich fühle mich nicht alt, auch wenn ich älter bin als die meisten hier.“ Andrea kam es mehr wie eine Flucht aus der Einsamkeit vor, die viele Lesben mit zunehmendem Alter hinnehmen mussten, weil es zu wenige bekennende ältere gab. Sie spürte auch, dass Christiane oft

gerade ihre Nähe suchte und wohl Gefallen an ihr fand. Doch sie erwiderte dies nicht; für sie blieb Christiane eine flüchtige Begegnung. Was sie schätzte, war die Offenheit und Tiefe ihrer Gespräche. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, mehr darin zu sehen – auch wenn Christiane freimütig sexuelles Interesse bekundete. Ihr schwebten ganz andere Frauen vor. Zum Beispiel jene dort, dachte Andrea. Christiane bemerkte, wohin sich ihr Blick richtete, und flüsterte: „Da wirst du kein Glück haben; ihre Freundin steht neben dir.“ Andrea wandte sich um – und sah tatsächlich die Kellnerin, die kurz zuvor

ihr Bier gebracht hatte. Sie war umwerfend hübsch, und Andrea konnte sich kaum von ihr lösen. Am liebsten wäre sie sofort mit ihr verschwunden, hätte ihr nach dem Job in den Feierabend gefolgt. Doch statt eines Gesprächs mit der geheimnisvollen Fremden landete sie wieder bei Christiane. „Magst du tanzen?“ „Eigentlich nicht.“ Doch kaum war das Lied angestimmt, ließen die vertrauten Rhythmen Andrea nicht los. Christiane ergriff ihre Hand, und wider Erwarten folgte sie ihr auf die Tanzfläche. Dort erwachten Erinnerungen – an vergangene Nächte, an Tänze voller Leidenschaft und verzehrender Nähe.

Ein Song endete, der nächste begann. Andrea war mitgerissen, wollte diese Minuten festhalten, koste es, was es wolle. In Christianes Armen kehrte das Verlangen zurück, das sie fast vergessen hatte – das Gefühl, Haut an Haut zu verschmelzen, den Herzschlag der anderen im eigenen Körper zu spüren. Der Tanz endete abrupt, als die DJane das Tempo wechselte. Plötzlich standen sie sich gegenüber, atemlos, befangen. Sie verabschiedeten sich rasch, jede flüchtete in eine andere Richtung. Andrea trat hinaus in die Nacht. Schneeflocken glitzerten im Licht der

Laternen. Sie sog die kalte Luft ein, spürte die Kälte auf der Haut – und suchte mit den Augen noch einmal nach der schlanken Gestalt, nach dem schwarzen Haar, nach den graublauen Augen. Für einen Moment glaubte sie, eine Silhouette zu erkennen, die sich vom Licht löste und in der Dunkelheit verschwand. Dann war da nur noch Schnee. Ein Sommertag war es gewesen, lange her. Andrea erinnerte sich an die weißen Häuser im Süden, die Sonne, die die Mauern zum Glühen brachte. Der Geruch von Salz und Oleander hing in der Luft, und das Zirpen der Grillen schien den

Tag zu tragen. Sie waren zu zweit gereist. Stundenlang hatten sie am Meer gelegen, die Hitze auf der Haut gespürt, bis die Sonne hinter den Hügeln versank. Dann, am Abend, der Tanz: Musik, die durch Mark und Bein ging, der Rhythmus, der sie zueinanderführte, so nah, dass es keine Distanz mehr gab. Eine fremde Frau war es gewesen, nur für einen Sommerabend. Aber dieser Tanz hatte sich eingebrannt, wie Feuer, das nicht verlöscht. Immer wieder kehrte Andrea in Gedanken dorthin zurück. Sie spürte noch immer

die Hände an ihrer Taille, den Atem an ihrem Hals, den Herzschlag, der sich mit ihrem eigenen vermischte. Kein Wort war nötig gewesen. Alles war gesagt in diesem Schweigen zwischen zwei Körpern. Und dann war der Morgen gekommen, und mit ihm die Trennung. Kein Wiedersehen, kein Versprechen – nur Erinnerung. Andrea stand noch immer im Schnee. Die Kälte kroch durch ihre Stiefel, doch in ihr brannte das Feuer der Erinnerung. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Frau vom Tresen, sah die graublauen Augen,

die sie für einen Moment festgehalten hatten. Sie mischten sich mit dem Bild jener Sommernacht, verschmolzen zu einer einzigen Sehnsucht. Ein Schritt vor, ein Blick zurück – und alles verlor sich wieder in der Dunkelheit. Keine Spur blieb. Sie zog den Mantel enger um sich, lauschte dem Knirschen des Schnees unter ihren Schritten. Die Lichter der Stadt verschwammen, als hätte der Winter ihre Ränder verwischt. Und während die Flocken lautlos fielen, blieb ihr nur das Wissen: Manches verglüht im Augenblick – und wärmt doch ein Leben lang.


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Über den Autor

KatharinaK
Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht:
Der Winter ist ein Bösewicht,
die Bäume tragen Schneegewicht,
die Stämme sind kahl
und so schwarz wie ein Pfahl,
die Felder sind weiß
und auf dem See liegt Eis.
In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.

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