„Wo einst die Flammen waren“
Eine Geschichte über das, was bleibt, wenn wir nicht loslassen – sondern verwandeln.
In Grabendunkel, wo die Häuser sich aneinanderlehnten wie alte Freunde mit Rückenschmerzen, war die Welt noch in Ordnung – jedenfalls solange man nicht fragte: für wen genau.
Man tat die Dinge, weil man sie tat. Weil es so war. Schon immer.
Und darum baute man jedes Jahr ein Floß aus Treibholz, streute es mit
Fichtennadeln, zündete es an und nannte das Ganze: Die Weihe der Heiligen Asche.
Ob Heiligkeit wirklich dabei war,
war unklar. Aber der Kartoffelsalat war solide.
Mara, 32, mit wachem Blick und müden Schultern, war zurück ins Dorf gekommen, „nur für den Übergang“ –
was sich, wie Übergänge nun mal tun,
als sehr dauerhaft erwies.
Sie arbeitete in der kleinen Bücherei,
wo zwischen vergilbten Heimatromanen und Kochbüchern aus den 60ern
noch ein Funke Wahrheit schlummerte:
Geschichten sind gefährlich. Weil sie Dinge ins Wanken bringen können.
In dem Jahr, in dem alles anders wurde,
hieß es: „Mara soll das Feuer entzünden.“
Es war als Ehre gemeint. Als stiller Tadel. Und vielleicht ein bisschen als Provokation.
Sie stand vor dem Floß, das wie ein altgedienter Schuldträger wirkte, und hielt inne. Die Fichtennadeln raschelten trocken, wie Stimmen aus der Vergangenheit.
„Warum zünden wir das an?“, fragte sie.
„Was soll daran heilig sein – immer
dasselbe zu verbrennen, nur damit wir glauben, etwas sei gereinigt?“
„Weil es Tradition ist!“, rief jemand.
„Weil es immer so war!“, echote ein anderer.
Aber diesmal – war da keine Wut. Keine Rebellion. Nur ein Blick. Klar. Sanft. Und traurig.
Mara ließ das Streichholz sinken.
„Vielleicht“, sagte sie, „ist es Zeit, nicht nur das Alte zu verbrennen, sondern etwas Neues zu pflanzen.“
Die Menge schwieg. Nicht aus Schock –
sondern aus Neugier. Ein Kind trat vor. Gab ihr ein selbst gemaltes Bild: Ein
Floß, das schwamm – nicht brannte.
Und so geschah es: Das Floß wurde nicht geopfert. Es wurde ins Wasser gelassen.
Darauf ein Korb: Mit Briefen. Wünschen.
Geständnissen. Zitaten von Großmüttern.
Und einem halben Apfelstrudel, weil Oma Elsbeth meinte, „Hoffnung braucht auch Butter.“
Das Dorf schaute zu, wie das Floß davonschwamm. Nicht mit Flammen –
sondern mit leichten Wellen.
Und etwas geschah. Kein Donner, kein Wunder. Nur ein Seufzer. Wie ein Muskel, den man zu lange gespannt hielt – und endlich losließ.
In den folgenden Jahren änderte sich vieles. Nicht alles auf einmal. Aber stetig. Man erfand neue Rituale: Ein Erzählabend, bei dem die Alten sprachen
und die Jungen zuhörten (und dann umgekehrt). Man pflanzte Fichten statt sie zu verbrennen. Man sprach nicht mehr von „Heiliger Asche“, sondern von „Wachsenden Wurzeln“.
Und Mara? Blieb. Nicht aus Pflicht. Nicht aus Trotz. Sondern, weil sie sah, dass Hoffnung nicht laut sein muss – nur standhaft.
Grabendunkel wurde nicht modern.
Aber es wurde heller. Ein Ort, wo nicht
mehr nur bewahrt, sondern bewirkt wurde.
Und wenn man heute fragt, was dort Tradition bedeutet, sagen sie:
Etwas, das uns erinnert – aber nicht einsperrt.