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Modern(d)e Tradition - Battle 111

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"Modern(d)e Tradition - Battle 111"
Veröffentlicht am 01. August 2025, 10 Seiten
Kategorie Sonstiges
© Umschlag Bildmaterial: brat82 - Fotolia.com
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Über den Autor:

Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht: Der Winter ist ein Bösewicht, die Bäume tragen Schneegewicht, die Stämme sind kahl und so schwarz wie ein Pfahl, die Felder sind weiß und auf dem See liegt Eis. In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.
Modern(d)e Tradition - Battle 111

Modern(d)e Tradition - Battle 111

„Glanz und Glut der guten Sitten“

(Eine Erzählung über die Last der Tradition – und wie sie manchmal mit Fichtennadeln brennt) In einem Tal, das sich beharrlich weigerte, mit der Zeit zu gehen, lag das Dörfchen Grabendunkel. Es war ein Ort, an dem der Wind stets nach vergorenen Äpfeln roch, wo die Hühner frech und die Glocken schief hingen, und wo Tradition nicht einfach eine Tugend, sondern ein Naturgesetz war. Hier wuchs man auf mit dem festen Wissen, dass man nicht für das Leben geboren war, sondern für die Wiederholung.

Jahr für Jahr wurde das Fest der „Heiligen Asche“ gefeiert, bei dem man ein Floß aus Treibholz baute, es mit Fichtennadeln bestreute und es feierlich entzündete. Warum genau, wusste keiner mehr. Manche behaupteten, es sei ein Reinigungsritual. Andere vermuteten, es sei eine verunglückte Form des Protests gegen den Bau der Schnellstraße. Wieder andere glaubten an einen alten Fluch. Die Wahrheit lag irgendwo zwischen einem Lächeln, das zu lange hielt, und einem Schluck Schnaps zu viel. Inmitten dieses postkartenmüden Idylls lebte Mara, 32 Jahre, ledig, und laut ihrer Mutter „ungeheuer unwillig, sich

der Forderung der Zeit zu beugen“. Mara war die Tochter der alten Bäckerin, die ihre Brötchen wie kleine Götzen knetete, fest daran glaubend, dass Gluten heilig sei. Mara hatte studiert, Philosophie mit Nebenfach Sarkasmus, aber war dann zurückgekehrt, „nur für ein paar Monate“. Das war vor sieben Jahren gewesen. „Du musst nicht gegen alles rebellieren, Kind“, sagte ihre Mutter, während sie Fichtennadeln in ein Körbchen nestelte. „Ein bisschen Verzicht gehört zum guten Leben. So wie Enthaltsamkeit. Und geschmackloser Kartoffelsalat.“

„Ich verzichte ja schon auf mein Glück, das reicht wohl“, murmelte Mara, während sie das Floß betrachtete. Es lag da wie ein alter Hund, der zum letzten Mal schwimmen soll. Der Dorfältestenrat, bestehend aus drei Männern und einer Frau, die allesamt aussahen, als hätten sie sich vor Jahren entschlossen, ihre Gesichtszüge einzufrieren, verkündete, dass dieses Jahr Mara das Feuer entzünden dürfe. „Es ist eine Ehre“, sagte der Bürgermeister, dessen Schnurrbart schon zwei Bürgermeister überlebt hatte. „Es ist eine Falle“, sagte Mara.

Aber sie war höflich genug, es nicht laut

zu sagen. Stattdessen zog sie die weißen Handschuhe über – ein Relikt aus vergangenen Zeiten, als man glaubte, die Asche übertrage Weisheit – und trat ans Floß. Plötzlich aber, während die Dorfjugend gelangweilt aufs Handy starrte und die alten Damen die Flammen erwarteten wie eine Offenbarung, hielt Mara inne. Etwas in ihr nestelte, ein Gedanke, eine Erinnerung, vielleicht ein Trotz, der aus dem Bauch wuchs wie wilder Hopfen. „Warum verbrennen wir eigentlich jedes Jahr das gleiche Symbol?“, fragte sie. „Weil es so Tradition ist“, sagte jemand. „Aber was, wenn es gar nichts mehr bedeutet? Wenn wir uns nur noch vor der

Leere fürchten, die bliebe, wenn wir aufhören würden, sinnloses Treibholz zu entzünden?“ Stille. Ein leises Hüsteln. Ein alter Mann verlor seinen Zahn. Mara zündete das Floß nicht an. Stattdessen nahm sie eine Tasse Wasser – Regenwasser von der alten Linde – und goss sie über die Fichtennadeln. Ein Zischen. Ein Aufschrei. Eine Tragödie. „Du hast das Ritual entweiht!“, rief der Pfarrer, der heimlich Horrorromane schrieb.

„Nein“, sagte Mara ruhig. „Ich hab’s entstaubt.“

Das Dorf versank in Schockstarre. Für ganze vier Minuten wurde nicht getuschelt. Dann trat Oma Elsbeth vor, die älteste Dorfbewohnerin und heimliche Liebhaberin von Kreuzworträtseln mit erotischen Untertönen. „Kind“, sagte sie, „ich wollte das Ding schon vor 30 Jahren abschaffen. Ich bin nur nie an die Streichhölzer rangekommen.“ Und sie lachte. So wie man lacht, wenn man erkennt, dass ein Käfig aus Gold auch nur ein Käfig ist. Am Abend saßen sie zusammen, ganz ohne Feuer. Stattdessen erzählte man sich Geschichten, echte. Kein feierliches

Floskelzeug, sondern von gebrochenen Herzen, verlorenen Träumen, von Mut und Bier. „Willst du das wirklich so stehenlassen?“, fragte Maras Mutter später in der Küche. Mara nickte. „Man muss nicht jede Vergangenheit mit Glanz beschönigen. Manchmal reicht es, sie einfach nicht zu wiederholen.“ Und so geschah es, dass in Grabendunkel eine Tradition endete. Oder vielmehr: sich verwandelte. Denn im Jahr darauf entzündete man kein Floß mehr, sondern eine Debatte. Und die war mindestens ebenso explosiv.

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Über den Autor

KatharinaK
Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht:
Der Winter ist ein Bösewicht,
die Bäume tragen Schneegewicht,
die Stämme sind kahl
und so schwarz wie ein Pfahl,
die Felder sind weiß
und auf dem See liegt Eis.
In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.

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