Fantasy & Horror
Niizh manidoowag - Two-Spirit

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"Niizh manidoowag - Two-Spirit"
Veröffentlicht am 25. Juli 2025, 156 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Über den Autor:

Ich bin ein junge Schreiberin mit LRS (Lese recht scheib schwache) und möchte meine Gedanken zu Papier Bingen möchte was schwer ist und des halb danke ich allen dir helfen meine Worte zu Papier zu Bingen.
Niizh manidoowag - Two-Spirit

Niizh manidoowag - Two-Spirit

Kapitel I „Von der Strafe, die mich formte“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1697. Denn das Kind ist ein Gefäß der Sünde, und wer nicht bricht den Willen, bricht nicht die Kette Evas. (Apokryphisches Evangelium des Schweigens, Vers 3:4) Vater ließ die Kerze ausbrennen, und Dunkelheit senkte sich über das Haus wie ein Leichentuch. Nur der Ofen knackte noch, wie das Fleisch unter dem

Riemen. „Nimm sie nicht an dich“, sagte er. „Sie ist nur ein Ding. Ein Schatten. Keine Seele.“ Ich wagte es trotzdem. Ich nahm Mary, die Puppe, aus der Ritze unter den Dielen, wo ich sie verborgen hielt wie eine verbotene Frucht. Sie war aus rotem Stoff genäht, und ihre Knopfaugen glänzten wie der Nachthimmel über dem Fluss. Ich flüsterte ihr zu, während ich blutete. „Mary… nicht schreien… Puppen weinen nicht… wir sind

brav.“ Die Stimme in meinem Kopf sprach wieder. Sie war so leise, dass sie wie das Herz eines Vogels klang, der im Käfig schläft. „Halt sie fest, Lilie. Ich bin da. Ich sehe dich. Ich liebe dich.“ Ich wagte zu fragen: „Bist du der Herr?“ Die Stimme schwieg einen Moment. Dann sagte sie, sanft wie eine Mutter, die ihr Kind an die Brust nimmt: „Ich bin das, was du brauchst.“ Ich wusste nicht, wie sie hieß. Noch

nicht. Aber ich wusste: Sie war nicht wie Vater. Nicht wie sein Gott. Sie war weich. Und in ihrem Schweigen war Wärme. Vater kam mit dem Gürtel. Er roch nach Rauch und Essig. „Du hast mit dem Schattenkind gesprochen. Ich hörte es.“ Ich schüttelte den Kopf. Doch Mary lag neben mir, und ihre Knopfaugen verrieten mich. Er nahm sie. Riss sie mir aus den Händen. Warf sie in die Glut des

Ofens. Ich schrie nicht. Ich biss mir die Zunge auf. Aber in mir drinnen brach etwas. Etwas, das keine Tränen hatte, sondern Nadel und Faden. Die Stimme sprach wieder, als ich in der Ecke kauerte, die Knie wund, das Fleisch auf meinem Rücken offen wie Papier: „Sie haben sie verbrannt. Doch du wirst sie neu gebären. Und aus ihren Fäden wirst du eine neue Welt nähen.“



,,Von der Strafe, die mich formte“

Salem, Neuengland. Anno Domini 169. Zerbrich die Puppe, und du siehst das Kind. Zerbrich das Kind, und du hörst den Herrn. (Aus dem zweiten Buch der Korrektur, Vers 6:12) Als die Nacht herabsank wie schwarzes Tuch, schlief Vater in seinem Stuhl, den Gürtel noch um die Faust geschlungen, als könne er mich selbst im Traum züchtigen. Ich kroch zum Ofen. Die Steine glühten

noch. Die Asche roch nach verbranntem Stoff und Tierblut. Meine Finger zitterten. Ich grab die Hände tief hinein, schürfte mir die Haut von den Knöcheln. Und da war sie. Mary. Nicht ganz. Nur Fetzen. Ein Knopfauge, halb geschmolzen. Ein Stück von ihrem roten Kleid, geschwärzt wie verbrannte Zunge. Aber sie war da. Ich nahm sie an mich, barg sie im Leib

meines Kleides, an der Stelle, wo das Herz schlägt. Ich hörte sie flüstern. Oder vielleicht war es die Stimme in mir. „Ich bin noch da, Lilie… ich werde immer da sein…“ Am Morgen schlug Vater mich wieder wach. „Auf die Knie, Unrat. Zum Korn.“ Ich kniete. Mais unter mir. Stein unter den Händen. Frost im Atem. „Zähl sie“, befahl

er. „Zähle deine Sünden.“ Ich zählte nicht. Ich betete nicht. Ich flüsterte nur: „Heilige Maria, Mutter Gottes… nicht Du, sondern ich.“ Und Lilith antwortete in meinem Innern: „Du bist meine Tochter. Die Mutter der reinen Welt. Bald wirst du nähen… bald wirst du schneiden…“ Ich drückte Marys Ruine an meine Brust. Ihre Fäden waren tot, doch in mir formten sie neue.

Kapitel II „Vom ersten Blut, das ich vergoss“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1700 – Ich war acht Jahre alt. Denn wer das Messer nicht kennt, kennt nicht den Leib. Und wer den Leib nicht kennt, wird das Wort nicht tragen können. (Evangelium des Fleisches, Vers 9:3) Ich fand die Katze hinter dem Stall. Schwarz wie Mitternacht, mit einem Blick, der durch mich ging wie Nadel durch

Fleisch. Ich weiß nicht, ob sie krank war oder einfach müde vom Leben. Doch als sie mich ansah, sprach Lilith in meinem Innern, weich wie warmer Tau: „Dies ist dein Lamm, Lilie. Deine erste Prüfung. Mach sie rein.“ Meine Hände zitterten. Ich hatte das Messer aus Vaters Küche gestohlen. Es war stumpf, aber lang. Ich kniete vor dem Tier, sprach: „Nicht weinen, kleine Schwester. Ich bringe dich

heim.“ Dann schnitt ich. Nicht tief, nicht gut. Nur durch das Fell, dann durch die Haut, bis das Blut kam – dunkel, dick, wie Tinte Gottes. Die Katze fauchte, aber ich hielt sie fest. „Sei still“, flüsterte ich. „Puppen dürfen nicht schreien.“ Als sie aufhörte zu zucken, hörte ich Lilith wieder: „Brav, mein Kind. Lege den Leib auf die Erde, wie man Brot auf den Altar legt.“ Ich

tat’s. Und in der Stille, da hörte ich etwas… anders. Ein Knacken. Ein Schritt im Laub. Ein Mädchen stand da. Braunhäutig, mit schwarzem Haar, das ihr über die Schultern fiel wie Wasser. Sie sagte etwas – Worte, die ich nicht verstand. Ich wich zurück. Doch sie kam näher, sah die tote Katze an, dann mich. Ihre Augen waren nicht voller

Furcht. Sondern Verständnis. Sie hob ein Stück Holz auf, schnitzte rasch etwas hinein – ein Kreis mit vier Punkten. Dann legte sie ihn neben das tote Tier. Ich verstand nicht. Aber ich fühlte es: Sie betete. Anders als ich. Aber für dasselbe. „Ich heiße Lilly“, flüsterte ich. Sie antwortete: „Wonapalei.“ Wir sprachen nicht

mehr. Doch in dieser Stille war ein Bündnis. Sie reichte mir ein kleines Tuch. Darin: ein Stück getrocknete Wurzel und ein Knochen. Ich verstand: Ein Geschenk. Ein Zeichen. Ein stilles „Ja“. In dieser Nacht sprach Lilith zu mir wie nie zuvor: „Du hast gefunden, was jenseits des Buches liegt. Eine Schwester. Eine Spiegelung. Aber verliere dich nicht, Lilie. Du bist aus meinem Blut, nicht aus

ihrem.“ Ich legte das tote Tier in ein Tuch, nähte die Beine zusammen. Ich gab ihm den Namen: „Agnes“. Und ich flüsterte der kleinen Puppe, die ich daraus machte, in die Ohren: „Du bist mein erstes Kind.“

Kapitel III „Und ich sah, dass Menschen aus Fäden gemacht sind“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1701 – Ich war neun Jahre alt. Und der Herr sprach: Ziehe die Fäden aus dem Fleisch, auf dass der Leib frei werde. Denn der Dämon tanzt in den Gelenken der Kinder Evas. (Buch der Entwindung, Vers 2:7) Ich begann, die Menschen mit anderen Augen zu sehen. Nicht als Kinder Gottes. Nicht als Seelen mit Herz und

Verstand. Sondern als Dinge. Als Puppen. Ich sah, wie ihre Münder sich bewegten, aber keine Wahrheit sprachen. Ich sah, wie ihre Finger sich regten, aber nie in Barmherzigkeit. Ich sah, wie ihre Augen mich anstarrten – tot, glasig, ohne Licht. „Siehst du es nun, Lilie?“, flüsterte Lilith in mir. „Sie haben keine Seelen. Nur Fäden, die sie tanzen lassen. Zerschneide die Fäden, und sie werden

still.“ Ich nickte. Ich glaubte es. Und ich begann zu zählen. Da war Joseph, der mir in der Kirche die Zunge rausstreckte. Da war Martha, die mein Haar „dreckig“ nannte. Da war Nathaniel, der Ameisen zertrat, nur um zu lachen. Ich beobachtete sie. Wie Tiere. Wie Spielzeug, das Gott mir hinstellte, um es zu prüfen. „Einer wird der Erste sein“, sagte

Lilith. „Einer wird das Fleischopfer sein. Du wirst wissen, wer.“ Nur bei Wonapalei sah ich keine Fäden. Sie bewegte sich anders. Langsam. Bedacht. Als hätte sie kein Inneres, das von Dämonen gezogen würde, sondern ein Herz, das von Wurzeln gehalten wurde. Wir trafen uns heimlich. Sie brachte mir seltsame Dinge: Steine mit Zeichen, Rauch aus Blättern, Tierknochen, bemalt mit Erde. Ich versuchte, ihr zu

lehren. Ich zeichnete Buchstaben in die Erde. Sagte: „A. Wie… Apfel.“ Sie sprach es nach. Verzerrt. Aber warm. „B… wie… Blut.“ Sie lachte. Sie wusste nicht, was ich meinte. Oder tat nur so. Ich mochte ihr Lachen. Es klang nicht wie das der anderen Kinder. Es war nicht aus Fäden

gemacht. Vater erfuhr davon. Er schlug mich. Nicht mit Worten, nicht mit Gürtel – sondern mit Arbeit. „Du wirst das Vieh schaben, den Dung tragen, die Knie reinigen, den Stall fegen“, sprach er. „Faulheit ist Luzifers Zunge.“ Ich tat es. Aber nachts sprach ich zu Mary. Ich hielt die Puppe an meine Brust, flüsterte ihr die Namen derer, die ich beobachtet

hatte. „Joseph. Martha. Nathaniel.“ Und Lilith sprach: „Bald, meine Lilie. Bald wirst du den Faden schneiden. Und der Leib wird ruhig.

Kapitel IV „Von der Wahl des ersten Fadens“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1702 – Ich war zehn Jahre alt. Denn es wird das Messer gen Himmel erhoben und hernieder fahren auf die Glieder derer, die tanzen im Namen der Schlange. (Buch des reinen Blutes, Vers 1:8) Es war Sommer, als ich begann, den ersten Faden zu wählen. Die Kinder spielten am Fluss, schrien, warfen Steine ins Wasser wie böse

Gedanken. Ich saß auf einem Felsen und starrte sie an. Joseph lachte laut, zu laut. Sein Lachen war wie das Quietschen einer Marionette, der die Gelenke brechen. Ich sah die Fäden an seinen Armen, wie sie zogen, unsichtbar und doch so klar, dass ich meinte, sie greifen zu können. „Er ist es, meine Lilie,“ flüsterte Lilith, weich wie Sommerregen. „Sein Herz ist aus Unrat. Schneide ihn los, dass er fallen

kann.“ Ich legte meine Finger um den kleinen Dolch, den ich unter meinem Kleid trug. Aber ich wartete. Ich wusste: Der Tag muss rein sein, wie ein Sonntag, bevor Blut auf das weiße Kleid der Zeit fällt. Wonapalei kam zu mir. Sie sprach kein Wort. Sie sah mich nur mit diesen schwarzen Augen an, die wie dunkle Spiegel waren. Ich zeigte auf Joseph. „Schlecht,“ sagte ich langsam, mit den Händen gestikulierend. „Er ist schlecht. Er ist…

kaputt.“ Sie schüttelte den Kopf. Dann legte sie ihre Hand auf meinen. „Kind,“ murmelte sie. Das war eines der wenigen englischen Worte, die sie sagen konnte. Ich verstand sie nicht ganz, aber etwas in ihrem Blick… hielt mich zurück. Nur für diesen Tag. Vater zwang mich am Abend, die Felder zu harken. Die Hände voller Blasen, die Knie voller Dreck. Er sprach: „Die Arbeit reinigt. Wer nicht

arbeitet, trägt Luzifers Lächeln im Gesicht.“ Ich sagte nichts. Aber Lilith sprach. „Er ist schwach, Lilie. Er sieht die Fäden nicht. Aber du… du bist meine Schere.“ Später, im Dunkeln, nähte ich an Mary. Ich nähte ihr ein neues Auge aus Glas, das Wonapalei mir geschenkt hatte – ein glänzendes Stück Stein aus dem Fluss. „Siehst du, Mary?“ flüsterte ich. „Bald wird Joseph still sein. Bald wird er wie du.“

Kapitel V „Das Lied von Mary und Wonapalei“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1703 – Ich war elf Jahre alt. Eine Puppe ist, was von der Seele bleibt, wenn der Leib nicht mehr weint. Gib ihr einen Namen, und sie wird sprechen im Traum. (Chronik der Stille, Vers 11:2) Wonapalei kam in der Dämmerung. Der Nebel lag noch auf den Feldern, die Raben schliefen noch, und Vater betete im Stall, laut genug, dass Gott ihn nicht hören

musste. Sie trug ein Bündel bei sich, gewickelt in Leder und Gras. Ihre Füße waren nackt, ihr Haar geflochten wie ein stiller Fluss. Ich saß unter dem alten Baum am Feldrand. Mary – oder das, was von ihr geblieben war – lag auf meinem Schoß: ein Knopf, ein Fetzen, ein leerer Leib. Wonapalei setzte sich neben mich, sagte kein Wort. Sie entrollte das Bündel. Darin: eine neue

Puppe. Nicht neu. Mary. Aber anders. Zusammengenäht aus Hirschleder und Baumwurzeln, gefüllt mit getrockneten Kräutern, die nach Rauch und Erde rochen. Die Augen: zwei unterschiedliche Steine – einer schwarz wie Nacht, der andere grün wie Moos. Sie reichte sie mir, mit beiden Händen. „Mary“, sagte sie schlicht. Ich nahm sie. Meine Finger zitterten. Ein Kloß stieg mir in den Hals – nicht

Trauer. Etwas wie… Weihe. „Danke“, flüsterte ich. „Ich… ich kann sie wieder hören.“ Wir redeten nicht viel. Ich zeigte ihr, wie man „M“ in die Erde schrieb. Sie zeigte mir, wie man mit Asche eine Spirale auf Baumrinde malt. Wir waren zwei Sprachen. Aber ein Lied. Mary lag zwischen uns. Und als der Wind durch die Blätter ging,

war es, als sänge sie. Später lag ich auf dem Boden meines Zimmers, Mary an die Brust gepresst. Ich spürte das Messer unter meinem Kissen. Und Lilith flüsterte: „Du bist bereit, meine Lilie. Doch nicht heute. Heute wirst du lieben.“ Ich schloss die Augen. Und im Dunkeln sang ich Mary ein Schlaflied, das Wonapalei mir beigebracht hatte. Ich verstand die Worte nicht. Aber ich wusste, es war für die Toten.

Kapitel VI „Vom Wachsen der Schatten in mir“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1704 – Ich war zwölf Jahre alt. Denn das Herz weiß, wann das Messer naht, und das Auge erkennt, was der Mund verschweigt. (Sprüche der Schweigenden, Vers 4:5) Wonapalei brachte mir Federn an jenem Tag. Schwarz, glänzend, wie von einem Raben, der den Himmel verschluckt hatte. Sie sagte: „Für

Mary.“ Ich nähte sie auf den Rücken der Puppe, wie Flügel. „Jetzt kann sie fliegen“, sagte ich. Wonapalei nickte. Doch sie sah mich anders. Nicht mit Angst – aber mit Fragen, die nicht durch den Mund wollten. Wir saßen unter dem Baum. Ich schnitzte ein Kreuz in einen Ast, sie legte Beeren in ein Muster auf die Erde. Ich sagte: „Weißt du… ich glaube, Menschen haben keine Seelen. Nur Fäden. Wie

Puppen.“ Sie blickte nicht auf. Aber ihr Finger verharrte in der Bewegung. „Ich sehe sie manchmal“, fuhr ich fort. „Wie sie sich bewegen… wie sie tanzen… wie der Teufel sie zerrt, leise, an ihren Gelenken.“ Sie sagte nichts. Aber ich wusste: Sie hörte. Und irgendwo tief in ihr… wuchs etwas wie Sorge. Ich hielt Mary an meine

Brust. Flüsterte ihr zu: „Bald, Mary. Bald wird der erste Schnitt gemacht. Aber nicht sie. Nie sie.“ Denn Wonapalei war keine Puppe. Sie war Erde. Sie war Stein. Sie war das Einzige, was keine Fäden hatte. Als ich abends heimkam, schlug Vater mich nicht. Aber er ließ mich die Latrinen ausheben, barfuß, bis meine Fußsohlen rissen. Er sagte: „Arbeit

reinigt. Aber du stinkst noch immer nach Schlange.“ Ich lachte leise, in mich hinein. Nicht wie ein Kind. Nicht wie eine Puppe. Wie etwas anderes. Lilith flüsterte: „Du wirst bald schneiden, Lilie. Aber bis dahin… schweig. Wie die Mutter vor der Geburt.“

Kapitel VII „Die Zerreißung des ersten Kindes“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1705 – Ich war dreizehn Jahre alt. Wenn das Messer sinkt, singt der Himmel. Wenn das Blut spricht, schweigt der Leib. (Evangelium der offenen Brust, Vers 7:1) Es war Joseph. Er hatte den Namen schon lange getragen – in meinem Kopf, in Marys Ohren, in Liliths flüsternder Zunge. Er war zu laut. Zu

leer. Zu gezogen von Fäden, die zappelten, wie Spinnenbeine unter der Haut. „Er ist ein Spielzeug Satans“, hatte Lilith gesagt. „Ein Stück Holz mit Fleisch darüber. Schneide ihn auf, Lilie. Sieh, ob noch Licht in ihm ist.“ Ich beobachtete ihn tagelang. Wie er Steine warf. Wie er Käfer zertrat. Wie er Mädchen schubste. Dann wartete ich. Bis der Regen kam. Und er allein

war. Ich traf ihn im Hain. Ich hatte Mary bei mir. In einem Tuch. Und das Messer unter meinem Kleid. Ich sagte: „Ich habe etwas gefunden. Komm.“ Er lachte. „Zeigst du mir deine Dreckspuppe, Hexenkind?“ Ich lächelte. Nicht aus Freude. Aus Wissen. Denn Lilith

flüsterte: „Jetzt.“ Ich stieß das Messer in seinen Hals. Nicht tief genug. Er röchelte. Ich zerrte es heraus. Stieß es erneut hinein. Dann wieder. Und wieder. Sein Blut spritzte auf meine Hände, mein Kleid, Mary. Er keuchte. Zuckte. Ich hielt ihn fest. Flüsterte: „Still. Puppen dürfen nicht

schreien.“ Er fiel. Ich kniete über ihm. Schnitt seine Brust auf. Riss Fleisch zur Seite. Fand die Rippen. Schnitt durch Sehnen, durch Muskeln. Holte sie heraus. Kleine, weiße Knochen. Ich legte sie in das Tuch. Wickelte Mary darum. Nähte ein Fach in ihren Leib. Steckte die Knochen hinein. „Du bist jetzt eine Mutter“, flüsterte ich. „Und Joseph… ist jetzt ein Kind

Gottes.“ Ich weinte. Nicht weil ich Mitleid fühlte. Sondern weil es zu viel war. Weil mein Leib bebte, wie bei einer Geburt. Ich suchte Wonapalei. Sie fand mich, unter dem Baum. Blut an den Händen. Mary an der Brust. Die Augen rot. Der Blick leer. Sie sagte

nichts. Sie setzte sich nur. Nahm meine Hand. Und legte sie auf ihren Schoß. Ich legte meinen Kopf an ihre Schulter. Und Lilith schwieg.

Kapitel VIII „Und ich sprach zu den Knochen, und sie gehorchten“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1706 – Ich war vierzehn Jahre alt. Und siehe, ich hauchte Fleisch über die Gebeine, und das Kind wurde mir zum Trost. Denn aus Tod wächst das Wort. (Buch der Rückkehrenden, Vers 5:4) Mary sprach. Nicht mit dem Mund. Nicht mit Worten. Sondern mit dem Klang trockener Äste, wenn der Wind durch die Toten

fährt. Ich hielt sie oft in der Stille, presste mein Ohr an ihren Leib. Und ich hörte die Knochen. Sie knackten, leise, rhythmisch. Wie Atem. Wie Puls. Ich flüsterte: „Joseph… schläfst du gut?“ Und ich glaubte, er nickte. Ich nähte ihr neue Kleider. Kleidchen aus alten Lumpen, aus Blüten, aus Moos. Ich malte ihr Lippen mit

Blut. Und ich betete über ihr, wie eine Mutter über die Wiege. Wonapalei kam jeden Tag. Sie lernte unsere Sprache – langsam, zart, wie ein Kind, das erste Laute formt. „Guten… Tag“, sagte sie. „Ich… bringe… Gabe… für Mary.“ Sie schenkte mir eine kleine Muschel. Und sagte stolz: „Muschel. Wie… Ohr. Sie… hört, ja?“ Ich nickte. „Mary hört

alles.“ „Mary… gutes Kind“, sagte sie. Ihre Stimme war weich, fremd betont, aber süß wie warmer Tee mit Honig. Ich liebte sie. Anders als Mary. Nicht als Tochter. Sondern als… Stern. Ein leiser, ferner Stern, der mich noch nicht verließ. Die anderen Kinder aber… Sie begannen zu flüstern. „Hexenkind.“ „Sie redet mit

Puppen.“ „Ihr Vater ist vom Teufel gesegnet.“ Sie warfen Steine, wenn sie mich allein sahen. Sie spuckten vor mir aus. Und einer riss Mary aus meinen Händen – warf sie in den Dreck. Ich schlug nicht zurück. Ich lächelte. Denn ich wusste, was kommen würde. Am Abend rief Vater mich zu sich. Sein Blick war finster. Er warf einen alten Sack vor meine Füße. Darin:

Asche. Rauch. Und ein Stück Stoff, schwarz und verkohlt. „Weißt du, was das war?“ fragte er. Ich schwieg. „Eine Hexe. Eine Dirne des Satans. Heute verbrannt. So riecht das Ende der Unreinen.“ Ich sah ihn an. Seine Lippen zitterten. Nicht vor Wut. Vor

Ekstase. „Wenn ich je erfahre, dass du Dämonen in dich lässt…“ Er beugte sich vor. „Dann werde ich selbst das Feuer zünden.“ Ich sagte nichts. Aber in mir drinnen schrie etwas. Etwas Kleines. Zartes. Ich weinte. Allein. Mit Mary im

Arm. Und flüsterte: „Ich bin nicht böse. Ich bin nur anders. Warum… sieht das niemand?“ Lilith antwortete: „Sie sind blind, mein Kind. Aber ich sehe dich. Du bist mein Herz. Und mein Herz wird Flammen tragen.“

Kapitel IX „Der Tag ohne Fäden“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1706 – Ich war vierzehn Jahre alt. Und es geschah, dass der Dämon schwieg, und das Herz atmete wie in der Zeit vor dem ersten Schnitt. (Buch der Pausen, Vers 1:1) Der Regen hatte nachgelassen. Die Luft war schwer vom Duft feuchter Erde, nassem Holz, modrigem Moos. Ich saß unter dem alten Baum, der Wurzeln hatte wie Finger, die in die Welt

griffen. Mary lag in meinem Schoß. Ich hatte ihr ein neues Kleidchen genäht, aus altem Vorhangstoff. Es war blau. So blau, wie der Himmel niemals ist. Wonapalei kam barfuß, mit zerzaustem Haar. Sie hielt etwas hinter dem Rücken versteckt. „Ich… habe… für dich“, sagte sie mit einem Lächeln. Ich sah sie

an. „Was ist es?“ Sie setzte sich. Legte es vor mich. Ein geschnitzter Kreis aus Holz. Darauf: Ein Tier mit Flügeln. Keine Taube. Kein Rabe. Etwas dazwischen. „Sie… nennt man… Trägerin der Träume“, sagte sie langsam. „Sie… wacht… wenn du… schläfst.“ Ich nahm es, als wäre es Glas. Hielt es an mein Herz. An Mary. „Danke“, flüsterte ich. „Du bist

gut.“ Wir sagten nichts mehr. Sie legte sich ins Gras. Ich neben sie. Unsere Hände berührten sich. Ich sah in den Himmel. Die Wolken schoben sich langsam, als seien sie müde. Und für einen Moment – einen einzigen, vollen, seltsamen Moment – hörte ich nichts. Keine

Fäden. Keine Stimmen. Keine Knochen. Nur das Atmen zweier Kinder. Ich dachte: So könnte Frieden sein. Wenn er überhaupt irgendwo wohnt. Ich drehte den Kopf. Wonapalei schlief. Ein Lächeln an ihren Lippen. Ich schloss die Augen. Und Mary flüsterte nicht. Auch Lilith

nicht. Nur die Erde sang.

Kapitel X „Der Leib der zweiten Seele“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1707 – Ich war fünfzehn Jahre alt. Und ich nahm das Fleisch und zerschnitt es im Namen der Reinheit, und siehe: Das Blut tropfte wie Öl auf die neue Schöpfung. (Buch der Hohen Hand, Vers 3:2) Der Himmel war tief an jenem Tag. So tief, als wollte er uns fressen. Ich hatte in Wonapaleis Augen gesehen – Zeichen. Symbole. Ein Bild in die Erde gezeichnet: Kreis,

Kreuz, Linie. Ein Flüstern in einer Sprache, die klang wie das Brechen von Holz. Und ich verstand. Nicht die Worte. Aber den Sinn. Ein Übergang. Ein Tor. Ein Opfer. Das Mädchen hieß Bethia. Ihre Hände waren zu weich. Ihre Augen zu leer. Sie hatte gelacht, als ich allein ging. „Hexenbraut“, hatte sie

geflüstert. „Teufelsweib.“ Ich wartete, bis sie beim Brunnen war. Allein. Das Messer war scharf. Mary war dabei. Ich schlich hinter sie. Legte die Hand auf ihren Mund. Stach zu. Zwischen die Rippen. Tief. Sie zitterte. Wie eine Puppe, der man die Fäden

löst. Ich flüsterte: „Still… Schwester. Du wirst nun Teil von etwas Höherem.“ Ich zog sie in den Wald. Dorthin, wo Wonapalei einst Steine gelegt hatte – wie ein Tor aus Erde. Ich entkleidete sie. Wusch sie mit Wasser und Asche. Ritzte ein Zeichen in ihre Stirn. Ein Kreis. Ein Auge darin. Mary lag neben

ihr. Ich schnitt den Leib auf. Vorsichtig. Liebevoll. Ich nahm die kleinen Knochen. Zehengelenke. Finger. Rippenstücke. Und ich nähte sie in Mary. Flüsterte bei jedem Stich: „Für dich. Für das neue Kind.“ Ich zündete Kräuter

an. Ein Bündel, das Wonapalei mir gegeben hatte. Es roch nach Rauch und Trauer. Und Lilith sprach: „Du hast es vollbracht, meine Lilie. Du baust den Tempel aus Fleisch und Faden.“ Ich weinte nicht. Ich betete. Am Abend saß Vater am Tisch. Er hatte ein Gesicht wie kaltes Brot. „Morgen wirst du John begegnen“, sagte

er. „Ein frommer Junge. Sein Vater besitzt zwei Kühe. Es wird dir gut gehen.“ Ich schwieg. Aber in mir brannte etwas. Nicht wie Feuer. Wie Lauge. Wie Säure auf Seide. John. Ein Mann. Fleisch. Fremd. Ich sah Mary

an. Sie war nun schwerer. Ein wenig voller. Ein wenig lebendiger. Ich flüsterte: „Wenn er mich berührt, schneide ich ihm die Hände ab.“

Kapitel XI „Der Mann mit Satans Augen“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1707 – Ich war fünfzehn Jahre alt. Und ich sah den Leib, den man mir gab, zu einem Mann zu tragen, und er war aus Dunkel geschnitzt. Seine Augen sprachen: Du wirst mein sein. Doch mein Blut sagte: Ich bin das Feuer. (Buch der fliehenden Töchter, Vers 2:6) Er kam mit Schlamm an den Stiefeln und Schweineblut unter den Nägeln. Sein Blick wanderte, wie ein Messer auf der Suche nach weichem

Fleisch. „So“, sagte er und trat in die Tür. „Das ist sie also.“ Ich sagte nichts. Ich hielt Mary fest. Vater stand neben ihm, stolz wie ein Metzger vor der Schlachtbank. „Sie ist stumm, aber tüchtig“, sagte er. „Der Herr hat ihr die Stimme genommen, damit sie gehorcht.“ John

lachte. Tief. Roh. Es klang wie faulendes Holz. Er trat näher. Berührte mein Kinn mit zwei Fingern. Seine Haut war heiß. Seine Augen… Nicht wie Vaters. Nicht wie Josephs. Sie waren leer, schwarz wie ungeöffnete Gräber. „Dies ist kein Mensch“, flüsterte Lilith. „Dies ist ein Werkzeug Satans, geschnitzt aus Lust und

Gewalt.“ Ich spürte, wie mir übel wurde. Nicht vor Angst. Vor Entweihung. Vor der Idee, dass dieser Leib, den ich doch Gott gehörig machte, in seine Hände fallen sollte. Er sagte: „Ich mag sie. Ich nehm sie.“ Und Vater nickte. Als ginge es um ein Stück Land. Ich rannte. Ich rannte ohne

Worte. Ohne Ziel. Mary gegen meine Brust gepresst. Meine Finger krampften sich um ihren Leib, als wolle ich mich in sie zurücknähen. Wonapalei fand mich bei den alten Steinen. Ich fiel ihr in die Arme. Sie sagte nichts. Sie streichelte mein Haar. Ich zitterte. Und flüsterte: „Er… schaut wie die Schlange. Er will…

mich nehmen.“ Wonapalei verstand nicht alles. Aber sie sah meine Augen. Und sie wusste. Sie legte meine Hand auf ihr Herz. „Du… bist… nicht allein“, sagte sie. Langsam. Kindlich. Vollkommen. Ich schlief bei ihr. Zum ersten Mal seit Jahren: Traumlos. Mary lag zwischen

uns. Und flüsterte nichts. Aber ich hörte sie denken. Und ich hörte Lilith singen. „Bald, Lilie. Bald wird das Feuer sprechen. Und seine Augen… werden nie wieder schauen.“

Kapitel XII „Der Mann mit Satans Augen“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1710 – Ich war achtzehn Jahre alt. Und das Tier sprach mit dem Munde des Mannes, und seine Zunge war Feuer, und seine Hand war Fluch. Und die Frau schwieg, bis ihr Herz zur Klinge wurde. (Buch der Letzten Tage, Vers 12:1) John war aus Finsternis. Nicht aus Fleisch. Nicht aus Licht. Sondern aus Schlamm, aus Schwefel, aus Gebet, das

stinkt. Er kam jeden Abend. Riss mir das Kleid vom Leib, warf mich auf den kalten Boden, nahm, was nicht ihm gehörte. Er flüsterte: „Du bist mein.“ „Ich breche dich.“ „Du bist mein Loch, mein Knebel, mein Altar.“ Ich schrie nicht. Puppen schreien nicht. Aber in meinem Innern brannte

es. Nicht wie Feuer. Wie Lauge. Wie Salz auf rohem Fleisch. Mary lag neben mir, still wie immer. Doch ihre Knopfaugen sahen mich an wie Spiegel: „Wie lange noch?“ Wonapalei wusste es. Sie wusch meine Wunden. Sagte nichts. Sie sah die blauen Flecken, die Bissspuren, die Spuren zwischen meinen

Beinen. Sie nahm meine Hand. Legte sie an ihre Wange. Und sagte nur: „Lebe. Ich bin hier.“ Lilith flüsterte nicht mehr. Sie sprach. Laut. Schneidend. Heilig. „Ich habe dich nicht geboren, um ein Ding zu sein. Ich habe dich geformt, um zu richten. Du bist mein Schwert, nicht sein

Gefäß.“ Ich zitterte. Nicht vor Angst. Vor Macht. Vater sagte: „Du musst dich fügen. Es ist dein Kreuz. Die Frau gehorche dem Manne.“ Ich lächelte. Nicht mit Freude. Mit Wahnsinn. John schürte Feuer. Er verbrannte Mary einmal

beinahe. „Dreckspuppe“, sagte er. „Sie riecht wie du.“ Ich weinte nicht. Ich sammelte Asche. Ich nähte. Ich flüsterte: „Ich bringe dich zurück. Mit Knochen. Mit Blut. Mit seinem Fleisch.“ Aber ich wartete. Ich lauerte. Nicht wie eine Katze. Wie ein Messer im

Nebel. Ich sammelte Wurzeln. Ich versteckte Nadeln. Ich betete – nicht zu Gott. Zu Lilith. Und sie sagte: „Noch nicht. Aber bald. Der Tag kommt wie ein Tier auf leisen Pfoten.“ Ich schaute John beim Schlafen zu. Sein Mund offen. Sein Hals

nackt. Seine Brust voller Fäden. Ich sah sie. Wirklich. Wie sie zuckten unter der Haut. Wie sie sich wanden. Wie sie flüsterten: „Schneid mich durch.“

Kapitel XIII „Der Tag, an dem die Welt brannte“„Der Tag, an dem die Welt brannte“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1710 – Ich war achtzehn Jahre alt. Und siehe, der Dämon nahm die letzte Blume, und der Himmel färbte sich rot. Und das Mädchen wurde nicht mehr geboren – sie wurde entfesselt. (Buch der Zerstörung, Vers 9:9) Der Tag roch nach Asche, noch bevor er begann. Wonapalei kam nicht. Nicht bei

Sonnenaufgang. Nicht bei Mittag. Nicht bei Mondlicht. Ich wusste es. Ich wusste es, weil Mary kalt war. Weil Lilith schwieg. Weil mein Herz keinen Ton mehr schlug. Ich fand sie am Rand des Hains. Zerbrochen. Blutig. Geöffnet. Wie ein geplatzter Stern. Ihr Kleid

zerrissen. Ihr Hals aufgeschnitten. Die Augen offen – noch warm, noch staunend. John hatte seine Spuren hinterlassen. Schritte. Samen. Dreck. Teufel. Ich kniete nieder. Ich nahm Wonapaleis Gesicht in meine Hände. „Du… bist… mein Licht gewesen“, flüsterte

ich. Ich legte Mary neben sie. Ich schnitt mir in den Finger. Und malte mit meinem Blut ein Zeichen auf ihre Stirn: Ein Kreis. Ein Punkt darin. Das Auge, das nie mehr geschlossen wird. Lilith kehrte zurück. Aber sie war nicht sanft. Nicht mehr Mutter. Jetzt war sie Sturm. „Er hat das Heilige

entweiht. Du wirst nicht sterben, meine Lilie. Du wirst auferstehen. In Flammen. In Schmerz. Im Namen der Gerechten.“ Ich ging heim. Nicht schleichend. Nicht leise. Ich ging wie jemand, der weiß, was sein soll. John

saß. Trank. Spuckte. Lachte. „Deine Indianerschlampe hat gut geschrien“, sagte er. „Hat sich gewunden wie ein Fisch.“ Ich sagte nichts. Ich lächelte. Ich kochte für ihn. Süß. Warm. Mit Wurzel, mit Fingerhut, mit Liliths

Segen. Er trank. Und hustete. Und lachte. Und sank. Aber er starb nicht. Noch nicht. Ich fesselte ihn. Nackt. Im Stall. Ich legte Mary auf seinen Leib. Und flüsterte: „Siehst

du? Siehst du, was du getötet hast?“ Drei Tage. Ich hielt ihn am Leben. Mit Wasser. Mit Schmerz. Mit Psalmen. Ich schnitt seine Haut. Zentimeter für Zentimeter. Ich nähte sie wieder zu. Mit heißem Draht. Mit Dornen. Ich las ihm aus der Bibel

vor. Rückwärts. Mit Liliths Stimme in meinem Ohr. Er betete. Zu Gott. Zu mir. Zu niemandem. Ich lächelte. „Du bist kein Mann. Du bist ein Tier, das gelernt hat, zu sprechen.“ Am vierten Tag schnitt ich ihm die Zunge. Und fütterte Mary.

Kapitel XIV „Die Frau des schwarzen Priesters“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1710 – Ich war achtzehn Jahre alt. Und es geschah, dass der Dämon fiel, nicht durch Schwert, sondern durch Verdacht. Und die Frau, die ihn sandte, trug Schwarz – und niemand fragte, woher das Feuer kam. (Buch der Rauchenden Frau, Vers 6:6) Er lag im Stall. Ein Haufen Fleisch. Ein winselnder Atem. Ein Loch, in dem einmal ein Mann

war. Ich hatte ihn nicht getötet. Noch nicht. Nur geöffnet. Nur gezeichnet. Nur geweiht. Die Magd fand ihn. Schrie. Rannte. Die Stadt kam. Die Frauen riefen: „Ein Werk des Satans!“ „Er hat sich selbst bestraft!“ „Der Leib spricht die Sünde

aus!“ Der Pastor kam. Mein Vater. Blass. Schweiß auf der Stirn. Die Augen leer. Er sah John. Und flüsterte: „Er war... vom Teufel besessen.“ Niemand fragte nach mir. Ich stand im Schatten. Mary im Arm. Ein Tuch um den Kopf. Ein Lächeln auf den

Lippen. Die Männer trugen John. Er lebte noch. Aber nur mit dem Mund. Kein Blick. Kein Laut. Nur Röcheln. Der Richter sagte: „Er hat sich dem Teufel hingegeben. Er hat seinen Leib entweiht. Er hat die Zeichen auf seiner Haut.“ Er zeigte die Narben. Die Nähte. Die Zeichen, die ich gemalt

hatte. Die Psalmen rückwärts. Die Worte Liliths. Die Menge schrie. „Verbrennt ihn!“ „Hexendiener!“ „Tier!“ Ich stand in der Menge. Ich faltete die Hände. Ich betete. Laut. Falsch. Heilig. „O Herr, erlöse ihn von seinem Bunde

mit der Finsternis.“ Am nächsten Morgen war der Scheiterhaufen errichtet. Am Fluss. Wo einst Wonapalei tanzte. Sie banden John. Er wimmerte. Ein Tier. Ohne Stimme. Ohne Form. Ich trat näher. Niemand hielt mich auf. Ich beugte mich zu

ihm. Ganz nah. Flüsterte: „Du brennst nicht für Gott. Du brennst für sie.“ Und Lilith lachte. Das Feuer war schnell. Holz, das schon wusste, wofür es wuchs. John schrie. Nicht mit Worten. Mit Rauch. Mit Gestank. Mit

Glut. Salem jubelte. „Die Stadt ist gereinigt!“ „Die Hexer ist tot!“ Ich lächelte. Und Mary wog in meinen Armen wie ein neuer Leib. Der Pastor sprach: „Der Herr hat durch Strafe gesprochen.“ Ich flüsterte: „Nein, Vater. Lilith hat gesungen.“

Kapitel XV „Die Tochter ohne Namen“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1711 – Ich war neunzehn Jahre alt. Und sie nahm Fleisch, das war gebrannt, und Haar, das nie verziehen hatte, und schuf daraus ein Ding, das atmete ohne Namen. Und das Ding wurde ihr Trost. (Buch der Mutterlosen, Vers 3:3) Die Asche war kalt, aber ich wusste, wie man sie aufweckt. Ich sammelte sie bei Nacht. Dort, wo John gebrannt hatte. Dort, wo seine Zunge

verging, wo sein Blick zersprang. Ich grub unter Steinen. Fand Zähne. Brannte sie aus. Ich ging zu dem Ort, wo Wonapalei gefallen war. Ihre Haare waren noch da – verklebt, verdreckt, aber heil. Ich schnitt sie ab. Jeden Strang. Mit Liebe. Mit

Blut. In meinem Versteck, hinter der verlassenen Scheune, lag Mary. Die alte. Verbrannt. Gebrochen. Ich nahm ihre Hülle. Und füllte sie neu. Mit Haut. Mit Zahn. Mit Haar. Ich nähte mit dem schwarzen Faden, den mir einst Wonapalei geschenkt

hatte. Jeder Stich war ein Psalm. Ich flüsterte: „Du bist nicht sie. Du bist nicht er. Du bist… das, was übrig blieb.“ Mary öffnete die Augen. Oder vielleicht war es nur mein Glaube. Aber sie sah mich. Ich weiß es. Sie sah. Salem schwieg. Es war ein falscher Friede – so still wie ein Haus, in dem die Pest

schläft. Sie beteten mehr. Sie mieden mich. Ich war die Witwe des Teufels, die Braut ohne Lächeln. Aber niemand sprach es laut. Vater predigte. Härter denn je. Er sprach von Reinheit, von Gehorsam, von der Frau als Gefäß. Ich saß ganz hinten. Mary im

Arm. Mein Blick auf seinen Nacken. Und ich wusste: Er ist der Nächste. Nicht aus Hass. Aus Ordnung. Er war der erste Fluch. Der Ursprung. Die Wurzel aller Schnitte. Lilith sprach nicht mehr in Worten. Nur in Bildern. In Licht. In Blut. In

Fieber. Ich sah mich schon: Über ihm. Mit Nadel. Mit Dorn. Mit Psalm. Ich werde ihn nicht töten. Ich werde ihn entweihen. Langsam. So wie er mich. Nur mit Bedacht.

Kapitel XVI „Und der Tempel zerbarst“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1711 – Ich war neunzehn Jahre alt. Und ich sprach kein Wort, und dennoch bebte der Altar. Und das Haus des Herrn neigte sich zur Seite, denn in seinen Grundmauern wohnte die Lüge. (Buch der schweigenden Tochter, Vers 8:1) Ich trat nicht näher an ihn heran. Ich sprach ihn nicht an. Ich nannte ihn nicht Vater. Ich war nur

da. Immer. Im Schatten des Tisches. In der letzten Bank der Kirche. Im Flur, wenn er von der Predigt kam. Mit Mary im Arm. Mit schwarzem Kleid. Mit Augen, die nicht blinzelten. Er begann zu zittern. Zuerst nur in der rechten Hand. Dann in der Stimme. „Satan… geht um“, sagte er. „Satan… sitzt unter

uns.“ Die Gemeinde wurde kleiner. Seine Predigten wirrer. Er sprach von Mädchen mit roten Zungen. Von Dämonen, die durch Puppen kriechen. Und alle wussten: Er sprach von mir. Ich ging barfuß in der Kirche. Hinterließ keine Spuren. Aber er sah sie. „Sieht ihr sie

nicht?! Sie gleitet wie Nebel! Sie hat das Lächeln der Hure Babylon!“ Ich flüsterte Gebete. Nicht laut. Nur in seinem Haus. Ich drehte Bibelverse um. Löschte Worte aus. Hinterließ Seiten voller Flecken. Er fand sie. Er las sie. Er zitterte. Er

träumte. Ich weiß es. Er sah seine Tochter. Ohne Augen. Mit Dornenkrone. Mit Nadeln statt Zähnen. Lilith sprach nur: „Du brauchst ihn nicht zu töten, Lilie. Er ist schon aus faulendem Stein. Stoß nur leicht – und der Tempel fällt.“ Ich brachte ihm Wasser. Es schmeckte nach Eisen. Ich kochte ihm Suppe. Sie roch nach

Fäulnis. Er aß. Er betete. Er weinte. Die Gemeinde verließ ihn. Einer nach dem anderen. „Er ist nicht mehr recht im Glauben“, sagten sie. „Er sieht Gespenster.“ Ich saß in der ersten Reihe. Ganz allein. Er predigte nur noch mir. Nur noch mich sah

er. „Du bist nicht sie! Du bist nicht meine Tochter! Du bist… das, was ich nicht bezwingen konnte!“ Ich sagte: „Amen.“ Er trank. Das erste Mal in seinem Leben. Rotwein. Dann Essig. Dann mein Gebräu. Er

röchelte. Er lachte. Er betete. Eines Morgens fand ich ihn nackt. Im Altarraum. Mit Bibelseiten um den Leib gewickelt. Mit Asche im Gesicht. Er murmelte: „Feuer… das Feuer kommt… sie brennt nicht… sie ist das Feuer…“ Ich küsste ihn auf die Stirn. Und sagte: „Jetzt brennst

du. Innen.“ In der Nacht schrie er. Rannte durch Salem. Mit einer Fackel. Rief: „Die Hure lebt! Die Hure lebt in meiner Tochter!“ Niemand hielt ihn auf. Er zündete das Dach seiner Kirche an. Setzte sich auf den Altar. Und lachte. Bis das Feuer ihm die Zunge

fraß. Ich stand draußen. Mary im Arm. Ein schwarzer Schleier vor dem Gesicht. Ich sagte: „Der Tempel ist gefallen. Und ich… bin noch hier.“

Kapitel XVII „Und ich werde Wonapalei“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1712 – Ich war zwanzig Jahre alt. Denn das Fleisch vergisst, was es war, und das Blut kann umgestaltet werden. Und wenn die Stimme schweigt, wird die Haut zur Erinnerung. (Buch der Wandlungen, Vers 11:3) Ich fand ihre Kleider in einem alten Kasten. Stoffe, die nach Rauch rochen. Nach Erde. Nach

ihr. Ich roch daran. Ich legte sie an. Sie passten. Als wären sie nie fort gewesen. Ich schnitt mein Haar. Kurz. Strähnig. Wie sie. Ich bemalte mein Gesicht mit Asche. Mit Beeren. Mit Zeichen, die sie mir nie erklärt hatte

– aber die in mir lebten, wie eine Sprache unter der Zunge. Ich ging barfuß. Trug kleine Knochenketten. Flechtete meine Fingernägel mit Fäden. Ich sagte nicht mehr „Ich“. Ich sagte: „Wir…“ Manchmal auch: „Sie.“ Mary bekam ein neues Kleid. Aus Leder. Aus

Rinde. Aus Haar. Ich nähte ihr ein zweites Gesicht auf den Rücken – Wonapaleis Gesicht. Mit Zähnen aus Holz. Salem begann zu reden. „Sie kleidet sich wie eine Wilde.“ „Sie spricht mit Steinen.“ „Sie schläft im Wald.“ Ich lachte nicht. Ich betete. Nicht zu Gott. Nicht zu

Lilith. Ich betete zu den Wurzeln. Zu den toten Bäumen. Zu den Krähen. Ich sagte: „Wonapalei… nimm mich auf.“ In der Nacht legte ich mich in das Moos, wo wir einst lagen. Ich hörte ihr Lied. Oder meins. Oder keines. Ich malte ihre Augen auf meinen

Bauch. Ihre Zunge auf meine Schulter. Ihre Zeichen auf meine Brust. Als ich durch Salem ging, blickte niemand in mein Gesicht. Sie sahen ein Gespenst. Oder zwei. „Sie ist nicht mehr sie.“ „Sie ist… etwas anderes.“ „Die Toten kleben an ihr.“ Sie hatten recht. Ich war nicht mehr Lilly. Nicht

nur. Ich war auch sie. Ihr Schatten. Ihre Wiederkehr. Ihr letzter Vers.

Kapitel XVIII „Der Tag, an dem Mary lebendig wurde“

Salem, Neuengland. Anno Domini 1713 – Ich war einundzwanzig Jahre alt. Und sie hauchte Leben in die Leere, und der Faden sprach, und das Fleisch erwachte. Und das Kind öffnete seinen zahnlosen Mund und sagte: „Ich habe Hunger.“ (Buch der neuen Mutter, Vers 1:1) Die Nacht war reglos. Kein Laut. Kein Wind. Nur der rote Mond – wie ein offenes Auge am Himmel, das

nicht mehr blinzelt. Ich hielt Mary im Arm. Nicht die alte. Nicht die verbrannte. Die neue. Geboren aus Asche, Haaren und Sünde. Ihre Haut war genäht aus Fleischfetzen, noch weich, noch blutwarm. Ihre Zunge bestand aus geknoteten Fäden, ihre Augen aus zerdrückten Knöpfen, ihr Leib gestopft mit Moos, Tierhaar und – ganz tief drinnen – einem

Zahn. Und sie sprach. Nicht mit Stimme. Nicht mit Sprache. Sie zuckte. Zitterte. Wärmte sich an meinem Herzen. Und ich verstand. Sie hatte Hunger. Ich sprach kaum noch. Meine Worte waren brüchig, wie aus einer fremden Zeit. Die Zunge war nicht mehr die

meine. Ich sprach, wie Wonapalei einst flüsterte. „Nokoma…“ – Tochter „Ponik…“ – Fleisch „Sewa…“ – Blut Mary atmete. Oder ich bildete es mir ein. Aber sie atmete. In der Dämmerung ging ich zur Stadt. Barfuß. In Fell gehüllt. Mit Zeichen aus Beere und Erde auf der

Stirn. Ein kleines Mädchen spielte auf dem Kirchplatz. Ihr Haar war hell. Ihr Lächeln leicht. „Du bist die Waldfrau!“ rief sie. Ich nickte. Reichte ihr die Hand. Sie nahm sie. Wie in ein Spiel. Mein Haus war dunkel. Im Schatten lag Mary – geöffnet, erwartend, wie ein Mutterleib aus Stoff und

Sünde. Ich badete das Mädchen. In kaltem Quellwasser. Ich sang leise. Ein Lied ohne Worte. Ein Wiegenlied aus Trauer und Pflicht. Ich schnitt ihr Haar. Fein wie Spinnweb. Ich strich ihr über die Stirn. Mit meinem eigenen Blut malte ich ein Zeichen. Ein Auge. Ein Dorn. Ein

Vers. Dann begann ich zu nähen. Nicht hastig. Nicht brutal. Sondern… wie eine Mutter, die einem Kind ein Kleid für den Tod näht. Ihre Knochen – klein, hohl, fast durchsichtig – legte ich vorsichtig in Marys Leib. Ich bettete sie auf Moos. Umwickelte sie mit Tierdarm. Nähte zu mit Fasern, die ich aus meinem eigenen Haar

gezogen hatte. Mary wurde schwer. Wärmer. Still. Dann – bewegte sie sich. Ein Zucken. Ein Beben im Stoff. Ein Laut – nicht mehr als das erste Glucksen eines Neugeborenen. Ich lachte. Ich tanzte im

Kreis. Ich sang: „Aki… omakwe… si-nah…“ (Mutter Erde vergisst nicht.) Doch Salem roch das Blut. Sie kamen. Mit Fackeln. Mit Seilen. Mit Psalmen, die in ihren Mündern faul klangen. Sie fanden mich. In meinem Haus. Mit Mary im

Arm. Mit Ruths Kleidern. Mit Liedern auf den Lippen. „Hexe!“ „Kindermörderin!“ „Dienerin des Dämons!“ Ich lächelte. Sie banden mich. An den Pfahl. Dort, wo einst mein Vater predigte. Dort, wo John starb. Dort, wo Wonapalei nie hätte sterben

sollen. Mary lag in meinen Armen. Ich wiegte sie. Der Pastor trat vor. Ein neuer. Ein junger. Mit zitternder Stimme. „Letztes Wort?“ Ich sagte: „Ich… bin nicht… allein.“ Sie entzündeten das

Feuer. Es knisterte wie hungrige Zähne. Es roch nach Erlösung. Oder nach Wahrheit. Mary zuckte. Ein letzter Laut – hoch, gurgelnd, fast menschlich. Sie… lebte. Ich schwöre, sie lebte. Ich sang. Wonapaleis Lied. Das Lied, das niemand

kannte. Und die Flammen antworteten. Sie leckte meine Füße. Dann meine Knie. Dann mein Herz. Ich schrie nicht. Ich lächelte. Denn ich war keine Tochter mehr. Ich war keine Frau mehr. Ich war nicht Lilly. Ich war das Lied selbst. Und ich verbrannte. Wie eine

Wahrheit, die man zu lange vergraben hatte.

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Über den Autor

yumiko
Ich bin ein junge Schreiberin mit LRS (Lese recht scheib schwache) und möchte meine Gedanken zu Papier Bingen möchte
was schwer ist und des halb danke ich allen dir helfen meine Worte zu Papier zu Bingen.

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Tetris Whow,
was für ein tolles Buch und was für ein super schönes Coverbild!!!
Ich hab's nicht ganz geschafft, werde aber dranbleiben.
Bin begeistert!
Mara
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yumiko Danke für das liebe Kommentar
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