Der Himmel ist weiß und weich und riecht nach Seife und leer. Ich bin hier, seit sie mich wiedergefunden haben. Ich weiß nicht, wie lange. Vielleicht Tage. Vielleicht hundert Jahre. Die Zeit tropft hier wie Honig, langsam und klebrig und süß. Man kann sie nicht fangen. Ich hab’s versucht. Die Frau mit dem Namen wie ein Regenwurm bringt mir Tabletten. Sie sagt, sie helfen mir beim Denken. Aber ich denke auch
ohne. Zum Beispiel denke ich oft an Mamas Haare. Die waren rot wie Wut. Oder an Papas Hände, die immer wussten, was sie wollten. Oder an die böse Mariko. Die böse Mariko wohnt in der Wand. Sie kommt raus, wenn das Licht flackert. Dann lächelt sie, mit Zähnen aus Scherben, und sagt Sachen wie: „Schneide, bevor sie dich schneiden.“ Oder: „Die Wölfe tragen Masken. Du musst die Zähne
sehen.“ Ich sage der Schwester das manchmal. Sie schreibt dann etwas in ihr Heft und nickt. Aber sie glaubt mir nicht. Niemand glaubt mir. Mein Zimmer hier ist wie ein großer Wattebausch. Die Wände sind weich, damit ich mich nicht wieder kratze. Aber ich kratze trotzdem, nur innen. Es gibt hier keine Ecken. Keine
Schlupflöcher. Nicht mal Spinnen. Nur eine Lampe, die summt wie ein Geheimnis. Ich male mit Spucke auf das Laken. Augen. Viele. Sie schauen mich an. Und ich zurück. Einmal hab ich in der Nacht das Fenster gesucht. Aber es gibt keins. Der Himmel hat keine Fenster. Nur Türme mit Kameras, die blinken wie Sternschnuppen. Ich wünsch mir oft, dass Mami mich
abholt. Aber ich weiß, sie kommt nicht. Nicht mehr. Weil ich sie gesehen habe. Wie sie sich in ein Tier verwandelt hat. Mit Augen, die mich auffressen wollten. Heute war ein schöner Tag. Ich durfte raus. Nicht ganz raus – nur in den Garten mit den hohen Zäunen. Dort wohnt ein Baum, der tot ist, aber niemand hat es ihm gesagt. Ich mag ihn. Ich flüstere ihm manchmal meine Träume
zu. Die böse Mariko sagt, der Baum hört zu, weil er auch schon Menschen gefressen hat. Ich hab gefragt, wie das geht. Sie sagte nur: „Wurzeln wachsen dorthin, wo das Blut warm ist.“ Ich hab gelacht. Die Schwester nicht. Sie hat mich wieder ins Wattezimmer gebracht. Bevor ich eingeschlafen bin, kam die böse Mariko. Sie hat sich an meinen Bauch gelegt und
mir ins Ohr gehaucht:
„Bald kommt der Wald. Bald holen sie dich raus.“
Ich hab sie gefragt, wer „sie“ sind.
Sie sagte:
„Die Monster. Deine Familie.“
Dann hat sie gelacht.
Und ich auch.
Ich durfte raus. Sie sagten: „Du bist jetzt besser.“ Aber das war gelogen. Ich bin nicht besser. Ich bin einfach leiser geworden. Mami und Papi kamen mich holen. Sie standen da wie aus einem alten Foto: Mami mit dem Sonnenlächler im Gesicht, Papi mit den Händen in den Taschen, so wie damals, bevor das Blut. Ich sagte hallo, aber in meinem Kopf war jemand anderer schneller. Die böse Mariko
sagte: „Wir spielen Familie. Das ist wie Verstecken, nur mit Messern.“ Ich nickte. Und sagte trotzdem hallo. Wir fuhren durch Felder, Wälder, Wolken. Die Welt sah aus wie gemalt. Ich hatte vergessen, wie grün draußen ist. Im Himmel ist alles grau. Selbst die Träume. Papi sagte: „Wir fahren in den Wald. Campen. Ganz
altmodisch.“ Mami streichelte mir über das Knie und sagte: „Nur wir drei. Wie früher.“ Aber das stimmte nicht. Früher war ich allein. Auch wenn sie da waren. Der Wald roch nach Moos, nach Wasser und nach Dingen, die man nicht sehen sollte. Wir bauten ein Zelt am Rande eines Sees, wo die Bäume flüstern konnten, und ich dachte: Hier schlafen die Monster, wenn sie
müde sind. Ich half mit den Stangen, aber meine Hände waren dumm von den Tabletten. Sie zitterten. Ich sagte, ich muss aufs Klo, aber ich wollte nur kurz schreien. In mich hinein. Nachts schliefen wir zu dritt. Mami rechts, Papi links, und ich wie ein Sandwichkind dazwischen. Ich fühlte mich sicher, fast wie echt. Aber in der Dunkelheit war ein
Geräusch. Ein Kratzen. Ein Schleifen. Wie Nägel auf Haut. Ich fragte: „Was war das?“ Aber niemand antwortete. Ich spürte etwas in meinem Bauch. Wie eine Hand aus Glas, die langsam drückt. Ich schloss die Augen und zählte bis siebenundvierzig. Dann kam der Schlaf wie ein schwarzes Tuch. Die ersten Tage waren
schön. Wir schwammen, wir aßen, wir lachten. Ich durfte sogar ein Fischlein anfassen. Es war kalt und zappelig. Ich nannte es Glibberlin. Aber die böse Mariko sagte: „Zappel nicht so. Bald ist es tot.“ Und dann lachte sie. Ich ließ das Fischlein fallen. Am vierten Tag fing es an. Papi sprach in einer anderen Stimme. Tiefer. Kratziger. Er sagte zu Mami: „Sie schaut mich an wie früher. Als sie
noch…“ Dann flüsterte er weiter. Ich hörte es nicht. Aber mein Bauch hörte es. Mami kochte das Essen zu lange. Sie vergaß mein Brot. Sie vergaß meinen Namen. Am sechsten Tag sah ich es. Mamis Augen waren falsch herum. Ich schwöre. Das Weiß war außen, das Dunkle innen. Wie bei einem Ei, das jemand verdreht hat. Ich sagte es ihr. Sie
lächelte. Aber ihre Zähne waren spitz. In der Nacht kam die böse Mariko aus meinem Bauch gekrochen. Sie sagte: „Sie sind keine Eltern. Sie sind Masken. Die echten schlafen im See.“ Ich sagte: „Lüg nicht.“ Sie sagte: „Dann schau doch nach.“ Ich kroch zum Zeltende. Der Wald war dunkel und schwarz wie verschlucktes Licht. Aber zwischen den Bäumen war
Bewegung. Etwas großes, langsames. Etwas, das atmete, aber nicht lebte. Ich zog mich zurück und schlief ein mit dem Messer in der Hand, das ich heimlich mitgenommen hatte. Das Taschenmesser mit dem Bärenkopfgriff. Am Morgen roch Papi nach Metall. Mami hatte Schlamm an den Füßen. Niemand sagte etwas. Aber die böse Mariko kicherte. Ich schrieb in mein Tagebuch: „Vielleicht sind sie Monster. Vielleicht
war ich es schon immer.“ Aber das war nur ein Gedanke. Gedanken sind wie Blätter – sie fliegen weg, wenn man zu fest pustet.
Schreib mir was!
In der siebten Nacht hat der Wald nicht mehr geschlafen. Er hat geschaut. Gerochen. Geknurrt. Ich auch. Es war spät. Viel zu spät für Menschen. Aber nicht zu spät für Monster. Ich lag da, eingerollt wie ein Regenwurm, und hörte das Knacken. Nicht das Knacken von
Ästen. Nein. Das Knacken von Knochen, die sich erinnern, was sie sein wollten. Etwas mit Klauen. Etwas mit Hunger. Papi schnarchte nicht. Er keuchte. Sein Atem war tief und blubbernd, als hätte er Wasser in der Lunge. Mami flüsterte. Mitten in der Nacht. Worte, die keinen Sinn ergaben: „Siehst du den Faden? Der Faden unter der
Haut…“ „Nein, nein, nein – sie darf ihn nicht finden…“ Ich zog mein Messer aus dem Kissen. Ich nannte es jetzt Bärchen. Bärchen war mein Freund. Er war aus Metall, aber er hatte ein Herz. Ich spürte es klopfen, jedes Mal wenn ich ihn hielt. Die böse Mariko war wach. Sie saß an meinem Bauch, unsichtbar für die Welt, aber ich konnte sie fühlen wie ein Schatten unter der
Decke. „Jetzt“, sagte sie. „Jetzt siehst du’s. Jetzt glaubst du mir.“ Ich nickte. Papi bewegte sich. Aber es war nicht mehr Papi. Seine Hände waren zu groß. Seine Finger zu lang. Die Fingernägel… …waren Krallen. Er beugte sich über Mami. Ich hielt den Atem an. Ich wollte rufen, aber kein Ton kam
raus. Nur ein Piepsen wie bei den Kaninchen im Heim, bevor sie starben. Papi schnüffelte an Mamis Gesicht. Sie wachte nicht auf. Oder sie tat nur so. Dann hob er den Kopf – und sah direkt zu mir. Aber es war kein Blick. Es war ein Fressen mit den Augen. Ich sah Zähne. So viele. Ein ganzes zweites Maul, innen hinter
dem normalen. Ich schrie. Aber niemand wachte auf. Nur der Wald. Er flüsterte: „Jetzt.“ Ich sprang auf. Bärchen in der Hand. Die böse Mariko im Kopf. Die Welt war rot und blau und voller Schatten. Papi bewegte sich schnell – zu
schnell. Er fauchte. Ich weiß, was ich sah. Ich sprang auf ihn, wie eine Katze. Das Messer ging in seinen Hals wie in warme Butter. Er röchelte. Ich lachte. Mami saß aufrecht. Ihre Augen riesengroß. Ihre Hände bebten. „Was tust du?!“ rief sie. Aber es war zu spät. Die Zähne waren schon
draußen. Ich drehte mich zu ihr. Bärchen tropfte. Sie flüsterte: „Bitte… bitte… du bist doch mein Kind.“ Ich zitterte. Die böse Mariko sagte: „Lügnerin. Sie hat dir nie Gute Nacht gesagt. Nie dich wirklich gesehen.“ Ich fragte: „Warum hast du mich nie beschützt?“ Sie sagte nichts. Ich suchte Papas
Tasche. Fand die Waffe. Sie war schwer. Ich mochte das Gefühl. Wie eine Entscheidung in der Hand. Mami lief los. Aber ich war schneller. Zwei Schritte, ein Schuss. Sie fiel um wie eine Puppe, der man die Fäden durchtrennt hat. Ich atmete. Zum ersten Mal richtig. Tief. Ruhig. Wie im Wasser, unter dem
See. Ich zog sie beide zu mir. Deckte sie mit der Decke zu. Streichelte ihre kalten Gesichter. Dann schlief ich ein. Die böse Mariko summte mir ein Lied. Es klang wie Regen auf Glas. Am nächsten Morgen weckte mich die Sonne. Sie war rot. Vielleicht hatte sie alles gesehen. Ich aß
Kekse.
Ich packte das, was ich tragen konnte.
Und ich ging.
Ich ging aus dem Wald.
Zwei Stunden. Vielleicht drei.
Mit jedem Schritt wurde mein Lächeln größer.
Ich hatte gewonnen.
Die Monster waren tot.
Ich ging auf der Straße. Links Wald, rechts Wald, und in der Mitte ich, mit blutigen Schuhen und Kekskrümeln in der Tasche. Ich fühlte mich wie eine Heldin. Wie Rotkäppchen nach dem Wolf. Nur dass ich zwei Wölfe getötet hatte. Und keiner sang mir ein Lied. Aber das war egal. Ich summte selbst. Ein Lied, das ich in der Klinik gelernt
hatte: „Die Finger tanzen auf der Haut, und niemand hört den Schrei.“ Die böse Mariko lachte. „Du brauchst jetzt neue Eltern“, flüsterte sie. „Diesmal bessere.“ Das Auto kam am Nachmittag. Silber, wie ein Fisch mit Rädern. Drinnen saßen zwei Menschen. Ein Mann mit einem Bart wie Papi. Eine Frau mit Lächeln. Viel Lächeln. Sie hielten an. Sie fragten, was ich hier
mache. Ich sagte: „Meine Eltern sind vom Bären gefressen worden. Ich hab überlebt.“ Sie schauten sich an. Dann stiegen sie aus. Sie waren jung. Ihre Hände zitterten nicht. Die Frau kniete sich zu mir und sagte: „Du bist so tapfer. Wie heißt du, Schatz?“ Ich sagte: „Mariko. Aber manchmal auch
nicht.“ Sie lachte. Ich nicht. Sie nahmen mich mit. In ihr kleines Haus mit dem weißen Zaun. Ein Zimmer für mich, mit Plüschtieren, einem echten Fenster, und einer Lampe, die nicht summte. Ich dachte: „Vielleicht ist das das Ende. Vielleicht bin ich jetzt wieder
echt.“ Die böse Mariko war still. Sie saß in der Ecke und schaute nur. Das machte mir mehr Angst als ihr Flüstern. Sie sagten, ich kann sie Mami und Papi nennen. Ich sagte okay. Abends lasen sie mir vor. Vom kleinen Prinzen. Ich mochte den Teil mit der Schlange, die Elefanten frisst. Die Frau sagte, ich sei etwas
Besonderes. Ich sagte: „Ich weiß.“ Ich schlief ein mit einem Lächeln. Aber ich träumte von dem Zelt, vom Knacken, vom Blut. Am Morgen war der Mann komisch. Er wollte, dass ich ihn umarme. Ich mochte das nicht. Er roch nach Rauch und Süßigkeiten. Wie ein Clown, der zu nah kommt. Ich sagte: „Ich hab
Bauchweh.“ Er sagte: „Dann musst du dich mehr öffnen, Mariko. Das hilft.“ Ich ging in mein Zimmer. Ich sprach mit dem Plüschtier. Es hieß Fluff. Ich sagte zu Fluff: „Wenn er ein Monster ist, sag Pieps.“ Fluff war still. Aber ich hörte ein Piepsen. In mir. In der Nacht kam er in mein
Zimmer. Er sagte, er wollte nur schauen, ob ich schlafe. Aber seine Hand war zu langsam. Die böse Mariko stand auf. Sie sah mich an. Dann ihn. Dann mich. „Willst du, dass ich es tue?“ Ich sagte: „Nein. Ich mach es selbst.“ Am nächsten Tag war der Mann weg. Die Frau weinte viel. Sie sagte, er habe sie
verlassen. Ich sagte: „Vielleicht hat ihn der Bär geholt.“ Sie sah mich seltsam an. Ich lächelte. Die böse Mariko auch. Ich aß viel Pudding. Ich warf Fluff aus dem Fenster. Er hatte gelogen. Die Frau – neue Mami – fragte, ob ich sie lieb habe. Ich sagte: „Wenn du keine Zähne
hast.“ Sie lachte. Aber ich wusste, sie verstand es nicht. Ein paar Tage später kamen Männer in Weiß. Die Frau hatte angerufen. Sie sagte, ich rede mit Schatten. Dass ich nachts lache. Und dass sie manchmal Angst vor mir hat. Ich sagte: „Ich doch auch.“ Dann kam der Himmel
wieder. Aber diesmal war er tiefer. Weißer. Leiser.
Schreib mir was!
Ich bin wieder oben. Im Himmel. Aber nicht da, wo Engel wohnen. Hier wohnen Flüstermenschen mit weißen Kitteln. Und sie glauben, sie wissen, was in mir ist. Aber ich weiß es besser. Ich bin Mariko. Und in mir ist ein ganzes Theater. Mein Zimmer ist hell. Zu hell. Die Wände sind weich wie
Brot. Und wenn ich sie drücke, flüstern sie zurück. Ich habe kein Messer hier. Nicht mal Bärchen. Nur ein Stift ohne Mine und Papier ohne Ecken. Ich darf nur schreiben, wenn sie zuschauen. Aber ich schreibe trotzdem. Mit den Fingern. Mit Spucke. Mit Gedanken. Der Himmel hat neue
Regeln. Es gibt das Piepsen, wenn die Tür aufgeht. Und das Summen, wenn jemand schreit. Und das Lachen, das nie von einem Gesicht kommt. Die neue Schwester heißt Rosa. Aber sie riecht nach alten Schuhen. Sie sagt: „Mariko, du musst wieder lernen, was echt ist.“ Ich sage: „Echt ist das, was ich nicht sehen darf.“ Sie runzelt die
Stirn. Dann gibt sie mir Milch mit Honig. Ich trinke. Aber ich vertraue ihr nicht. Niemandem hier. Außer vielleicht dem Jungen im Spiegel. Er heißt Kuro. Er hat meine Augen, aber sein Lächeln ist falsch herum. Kuro spricht mit mir nachts. Wenn alle schlafen. Er sagt: „Was, wenn du die echte Mariko bist – und die andere nur ein
Kostüm?“ Ich frage: „Welche andere?“ Er lacht. Er lacht immer, bevor etwas passiert. So wie bei Papi. Und bei dem Mann mit dem Bart. Ich bekomme wieder Tabletten. Sie sind rosa, blau, gelb. Wie Bonbons, aber ohne Freude. Ich nehme sie. Aber manchmal verstecke ich sie unter der Zunge. Und spuck sie in mein
Kissen. Dort lebt jetzt ein kleines Nest aus Lügen. Ein neuer Arzt kommt. Er trägt eine Brille ohne Gläser. Seine Augen sind müde. Er sagt: „Mariko, du erinnerst dich an den Wald?“ Ich sage: „Der Wald erinnert sich an mich.“ Er schreibt etwas auf. Er fragt: „Und deine Eltern?“ Ich
sage: „Die haben jetzt Wurzeln.“ Er nickt, als hätte ich Mathe gemacht. Die böse Mariko spricht nicht mehr wie früher. Früher war sie wild. Jetzt ist sie ruhig. Sie flüstert mir Zahlen. Und Namen. Und Dinge, die noch passieren könnten. Ich schreibe sie in mein Bein. Mit dem Fingernagel. Aber nur, wenn niemand schaut. Ich frage
sie: „Warum bist du stiller?“ Sie sagt: „Weil ich jetzt überall bin.“ Ich versteh das nicht. Aber ich spür’s. Eines Nachts ist die Tür nicht abgeschlossen. Ich gehe raus. Der Flur ist leer. Nur das Licht summt wie Mücken. Ich laufe barfuß. Jede Kachel zählt: Eins. Zwei. Drei. Monster
frei. Ich finde Rosa, schlafend im Stuhl. Ihr Mund ist offen. Ich sehe Zähne. Zuviel Zähne. Ich greife nach ihrer Schere. Aber da sagt jemand: „Noch nicht.“ Kuro steht da. In der Ecke. Mit einem Mantel aus Schatten. Ich sage: „Ich wollte nur
prüfen.“
Er sagt:
„Bald.“
Ich gehe zurück ins Zimmer.
Ich zähle rückwärts,
bis meine Gedanken wieder weich werden.
Am Morgen sagt Rosa, ich sei brav gewesen.
Ich lache.
Die böse Mariko auch.
Und Kuro klopft gegen den Spiegel.
Schreib mir was!Sie bringen sie in der Früh. Ganz still. Ohne Pieps. Ohne Schreie. Nur das Ticken. TICK… TICK… TICK… Ich hör es sofort. Nicht laut. Aber da. Wie eine Uhr unter der Haut. Das Mädchen ist
klein. Kleiner als ich. Aber ihre Augen sind alt. Nicht alt wie Opa, sondern alt wie die Bäume im Wald, die wissen, dass sie bald brennen. Die Pfleger nennen sie Elina. Ich nenne sie Tickmädchen. Weil sie eben tickt. Wie eine Bombe ohne Kabel. Sie spricht nicht. Sie schaut. Immer geradeaus. So als würde sie durch die Wände sehen, in etwas, das nur Kinder noch
kennen. Sie setzen sie in den Gemeinschaftsraum, neben mich. Ich male gerade. Ein Haus mit zu vielen Fenstern. Und darin Gesichter, aber ohne Augen. Elina schaut mein Bild an. Dann zeigt sie mit dem Finger auf das Fenster ganz oben, das mit den Krallen davor. Sie legt ihren Finger drauf und
nickt. Ich frage: „Du kennst das Ding da drin?“ Sie sagt nichts. Aber ihr Kopf kippt langsam zur Seite. Wie eine Puppe, die nicht ganz kaputt ist. Die böse Mariko flüstert: „Sie tickt, weil sie zählt, wie lange sie noch bleibt.“ Ich frage: „Wo?“ Sie sagt: „Hier. Auf der
Haut.“ Ich sehe hin. Und ja – da sind Linien auf Elinas Arm. Eingeritzt. Fein. Wie bei mir. Wie bei allen mit Geschichten. Ein paar Tage lang setzen sie uns immer nebeneinander. Wir spielen Puzzle. Aber sie baut nicht nach Bild. Sie baut ein Gesicht. Ein
Gesicht, das aussieht wie meins, aber mit einem breiten, dunklen Loch dort, wo der Mund sein sollte. Ich frage: „Willst du mich sein?“ Sie sagt nichts. Aber sie legt ein rotes Puzzlestück genau in die Mitte der Stirn. Die böse Mariko kichert: „Vielleicht bist du sie.“ Ich sage: „Nein. Ich bin Mariko.“ Doch sie
antwortet: „Bist du?“ In der dritten Nacht wache ich auf, weil ich TICKEN höre. Nah. Ich öffne die Augen – Elina steht vor meinem Bett. Ihr Kopf dreht sich schräg. Sie hat etwas in der Hand. Einen kleinen Spiegel. Sie hält ihn mir vors Gesicht. Ich sehe mich. Und
mich. Und nochmal mich. Dann zerbricht sie ihn mit bloßen Händen. Scherben fallen auf den Boden. Kein Ton. Sie geht wieder. Lässt eine Scherbe auf meinem Kissen. Am nächsten Morgen ist sie verschwunden. Die Pfleger sagen nichts. Niemand redet. Ich frage
Rosa: „Wo ist Elina?“ Rosa sagt: „Wer?“ Ich lache. Aber niemand sonst. Ich nehme die Scherbe. Ich vergrabe sie im Kissen. Neben die Tabletten. Neben die Wörter, die ich nicht mehr ausspreche. Die böse Mariko sagt: „Jetzt tickst du auch.“ Und ich höre
es. Ganz leise. Hinter meinem Herzen.
Sie sagten: „Mariko braucht Ruhe.“ Ich sagte nichts. Sie nahmen mich mit. Durch Flure, die nicht mehr piepsen. Nur Summen. Und ein Rauschen, als würde hinter jeder Wand Schnee fallen. Dann kam eine Tür, ganz weiß, ohne
Griff. Und sie schoben mich hinein. Ich hörte das Klicken. Dann nichts mehr. Das Zimmer ist aus Schnee. Nicht echtem – sondern dem Schnee aus Träumen. Der, der auf deine Gedanken fällt und sie leise macht. Die Wände hier reden nicht. Nicht wie die anderen. Sie beobachten nur. Ich nenne sie
Schneewände. Denn sie schlucken alles. Meine Stimme, meine Träume, meine Schuld. Ich bin allein. Kein Kuro. Keine Elina. Keine böse Mariko. Nur ich. Und das Echo. Ich rede mit mir selbst. So wie früher. Aber meine Stimme klingt wie eine
andere. Wie jemand, der mich nachmacht. Nach drei Tagen (glaub ich – hier gibt’s keine Zeit) kommt eine Frau mit einer Kiste. Sie trägt keine Namensplakette. Nur ein Schal. Rot wie Lippenstift. Sie stellt die Kiste auf mein Bett und geht wieder. Ich öffne sie langsam. Drin ist: – ein altes
Kuscheltier – ein Foto von einem See – und ein Schuh Ich nehme das Foto. Ich kenne den See. Dort war ich. Dort ist es passiert. Die böse Mariko meldet sich. Endlich. „Sie bringen dir Erinnerungen zurück“, sagt sie. „Aber du wirst sie nicht mögen.“ Ich sage: „Ich hab sie doch schon mal
weggeschickt.“ Sie antwortet: „Nicht gut genug.“ In der Nacht fängt die Wand an zu flüstern. Ganz leise. Ein Atem mehr als Worte. Ich presse mein Ohr dran und höre: „Marikooooo… du hast uns vergessen.“ Ich ziehe mich zurück. Schaue die Wand an. Aber da ist
nichts. Ich schreie. Niemand kommt. Am nächsten Tag ist der Schuh verschwunden. Dafür liegt auf dem Boden: ein nasser Fußabdruck. Kindergröße. Barfuß. Und ganz allein. Er führt bis zur Wand und dann… ist er
weg. Ich lache. Denn das heißt: Ich bin nicht allein. Nicht ganz. In der dritten Nacht öffnet sich die Wand. Nicht mit einem Klick – sondern mit einem Seufzen. Jemand kommt herein. Ich erkenne die Gestalt
sofort: Papi. Aber nicht der, der mich schlug. Sondern der davor. Der mit der Schokolade im Auto. Der mit den Geschichten vom Mond. Er setzt sich zu mir. Sagt: „Es tut mir leid, Mariko.“ Ich flüstere: „Du bist tot.“ Er lächelt. „Bin ich?“ Dann zeigt er mir seine
Arme. Keine Narben. Keine Kratzer. Ich will ihn anfassen. Aber meine Hand geht durch ihn hindurch wie durch Wasser. „Warum bist du hier?“ frage ich. Er sagt: „Weil du mich behalten hast. Tief drin. Wo der Schnee nicht hinkommt.“ Dann steht er auf. Geht zurück zur Wand. Bevor er verschwindet, sagt
er:
„Wenn der Schnee schmilzt, wird’s rutschig. Pass auf.“
Dann ist er weg.
Ich weine.
Und lache.
Und kratze eine neue Linie in die Wand.
Eine, die wie eine Schneeflocke aussieht.
Die böse Mariko summt ein Schlaflied.
Kuro klopft wieder im Spiegel.
Und ich weiß:
Ich bin nicht geheilt.
Ich bin einfach nur leise geworden.
SchSie sagen: „Mariko macht Fortschritte.“ Das sagen sie immer, wenn ich nicht schreie. Wenn ich meine Tabletten nehme. Oder so tue. Zur Belohnung geben sie mir Papier. Und Farben. Nicht viele. Nur vier: Rot, Schwarz, Blau und Grau. Keine Buntstifte. Keine
Schere. Nur Fingerfarben. Ich sage danke, mit einem Lächeln, das außen klebt, aber innen bröckelt. Ich setze mich ans Fenster, male auf den Boden, den Tisch, mich selbst. Ich male ein Haus ohne Türen. Und darin ein Kind ohne Gesicht. Dann male ich einen
Baum, der lacht, obwohl er keine Blätter hat. Dann male ich Mami. Aber nur den Schatten von ihr, den sie hinterließ. Die Pfleger finden die Bilder "interessant". Sie zeigen sie dem Arzt mit der Brille ohne Gläser. Er fragt: „Was willst du uns mit diesen Zeichnungen sagen, Mariko?“ Ich sage: „Ich sage nichts. Ich zeige
nur.“ Er kritzelt in sein Heft, als würde er wirklich glauben, er könnte mich lesen wie ein Buch mit Seiten, die ich längst rausgerissen habe. In der Nacht passiert es das erste Mal. Ich wache auf. Und da ist es. Das Kind aus dem bildlosen Haus. Es steht in der Ecke. Kopflos. Aber nicht blind. Ich
frage: „Wie bist du rausgekommen?“ Es sagt nichts. Aber es zeigt auf meine Hände. Auf die Farbe. Dann verschwindet es – als hätte es sich wieder ins Papier gefaltet. Am nächsten Tag male ich weiter. Ich will testen. Wissen. Ich male eine Tür. Nur eine. In die Wand des bildlosen
Hauses. Mit einem roten Kreis drumherum. Und in der Nacht… ist sie da. An meiner echten Wand. Aufgemalt, aber nicht von mir. Ich stehe auf. Berühre sie. Sie ist warm. Kuro flüstert aus dem Spiegel: „Nicht öffnen.“ Die böse Mariko lacht: „Zu
spät.“ Ich kratze an der Farbe. Ein Stück löst sich. Darunter: Holz. Ich beginne, vorsichtiger zu malen. Aber auch mutiger. Ich male einen Vogel ohne Augen. Er sitzt auf meinem Bett, als ich wach werde. Er pickt an meinen Gedanken. Aber leise. Ganz höflich. Die Pfleger sehen
nichts. Oder tun so. Ich frage Rosa: „Siehst du das?“ Sie schaut mich an, als würde ich auf einem anderen Planeten wohnen. Ich sage: „Die Farben sind wie Schlüssel.“ Sie sagt: „Du brauchst mehr Schlaf.“ Ich male das, was ich vermisse. Ein Stück Wald. Den
Fluss. Den Moment davor. Bevor die Tiere kamen. Bevor Papa Monster wurde. Bevor Mama davonlief mit den Tränen. Ich male sie, wie sie war, als ich noch in ihrer Jacke schlafen durfte. In der Nacht erscheint sie. Auf meinem Bett. Nicht ganz. Nur ein Teil. Ein Umriss. Ein warmer
Duft. Ein Hauch. Ich strecke meine Hand aus. Sie bleibt auf dem Bett. Aber es fühlt sich an, als hätte ich sie berührt. Die böse Mariko fragt: „Und was, wenn du das Falsche malst?“ Ich sage: „Dann lösche ich es.“ Sie lacht. „Manches lässt sich nicht ausradieren, Mariko.“ Ich übermale den
Vogel. Den kopflosen Jungen. Den Schatten von Mami. Aber nachts… ist ihr Flüstern noch da. Jetzt male ich nichts mehr. Ich schaue nur noch die Farben an. Rot atmet. Schwarz beobachtet. Blau summt. Grau schweigt. Ich warte. Denn ich weiß: Irgendwann wird eines der
Bilder selbst den Pinsel nehmen.reib mir was!
Im Himmel ist es still. Aber nicht tot. Es atmet noch. So wie ich. Flach. Leise. Nur manchmal zuckt es. Ich zähle die Wände jeden Morgen. Vier. Immer vier. Aber an Tag siebzehn (glaub ich) sind es plötzlich vier mit einem Loch. Ein
winziges. Daumennagelgroß. In der Ecke. Dort, wo die Wand das Licht nicht mag. Ich knie mich davor. Puste hinein. Keine Antwort. Ich flüstere: „Hallo?“ Und es sagt: „Hallo.“ Ich falle zurück. Mein Herz klopft so laut, dass der Boden unter mir
flimmert. Ich flüstere: „Wer bist du?“ Es antwortet nicht. Nur ein leises Kratzen. Als ob jemand mit Nägeln über Papier fährt. Ich höre auf zu atmen. Nur für einen Moment. Dann lehne ich mein Auge ans Loch. Und ich sehe: ein
Auge. Ganz nah. Groß. Kinderhaft. Aber leer wie ein leergeblasenes Ei. Ich springe auf. Schüttle mein Kissen. Werfe das Tablettenbecherchen gegen die Wand. Aber das Loch bleibt. Und das Auge verschwindet. Die Pfleger sagen: „Mariko, was ist los?“ Ich sage: „Der Himmel ist
kaputt.“ Sie schreiben was auf. Und drehen sich um. In der Nacht finde ich das zweite Loch. Unterm Tisch. Schwarz wie das Innere von Kuros Maul. Ich schaue nicht sofort hinein. Ich zähle lieber. Wie früher. Wie Mami sagte: „Zählen hilft gegen die Monster.“ Ich zähle die Sekunden, bis ich doch
reinschaue. 47. Dann tu ich’s. Hinter dem Loch ist ein Raum. Oder ein Nicht-Raum. Ein Tunnel? Ein Schlauch? Ich weiß nicht. Aber da ist etwas, das sich
bewegt. Langsam. Riechend. Fühlend. So, als würde es mit Gedanken tasten. Es sieht mich nicht. Noch nicht. Aber ich spüre, es hat meinen Atem gemerkt. Ich ziehe mich zurück. Langsam. Nicht zu schnell. Nicht wie Beute. Am Morgen ist das erste Loch
verschwunden. Nur die Wand dort ist wärmer. Wie Haut nach Weinen. Aber das unter dem Tisch ist größer. Jetzt passt ein Finger rein. Oder zwei. Ich nehme einen Buntstift und stecke ihn hinein. Nur kurz. Als ich ihn rausziehe, ist er nass. Und die Spitze fehlt. Die böse Mariko
sagt: „Da will etwas durch. Etwas, das uns kennt.“ Ich sage: „Ich kenne viele.“ Sie sagt: „Aber dieses kennt auch deinen Namen.“ Ich schreibe meinen Namen auf Papier. Mit krakeliger Schrift. Dann zerreiße ich ihn und schiebe ihn ins Loch. Nichts passiert. Dann… kommt der Zettel wieder
raus. Aber nicht wie vorher. Jetzt steht dort: „Du bist nicht Mariko.“ Ich weine nicht. Nicht diesmal. Ich lache. Weil ich weiß: Es hat Unrecht. Oder? Ich schleiche zur Tür. Versuche, die Pfleger zu rufen. Aber sie kommen
nicht. Nur das Licht flackert. Nur das Loch atmet. Ich schlafe unterm Tisch ein. Neben dem Loch. Ein Auge in der Wand. Ein Auge in mir. Und ich träume, dass ich durch das Loch krieche und dort ein Himmel ohne Wände ist. Dort sitzen alle Kinder, die jemals verschwunden
sind. Sie malen. Mit Farben, die brennen. Und ganz am Rand… sieht mich Elina. Sie winkt. Aber sie hat keine Hände mehr. Ich wache auf. Das Loch ist zu. Aber auf meiner Stirn ist ein kleiner, runder Abdruck. Wie von einem Auge.
Ich wache auf und alles riecht nach Kerzen. Nicht nach echten – sondern nach den Kerzen aus Geburtstagen, die niemand feiern will. Jemand hat auf meinen Tisch geschrieben: „Heute ist dein Tag.“ Ich weiß nicht, wer. Vielleicht die Wand. Vielleicht
ich. Ich habe keinen Geburtstag heute. Oder? Vielleicht doch. Ich hab aufgehört zu zählen, als der Himmel mir nicht mehr sagte, wann Sonne war. Die Tür öffnet sich nicht. Aber sie summt. So, als würde sie gleich Musik machen. So wie diese Musikdosen, in denen kleine Tänzerinnen immer im Kreis drehen. Immer gleich. Immer
lächelnd. Dann klopft es. Nicht an der Tür. Unter dem Bett. Ich knie mich hin. Dort liegt ein Umschlag. Rosa. Ohne Namen. Nur ein Herz mit zwei Strichen. Ich öffne ihn. Drin ist eine Karte: „Einladung zum Puppenfest. Komm
allein.“ Die Wand hat plötzlich eine Falte. Wie ein Vorhang. Ich ziehe daran. Dahinter: ein Gang. Dunkelrot gestrichen. Mit Glitzer. Ich folge dem Glitzern. Meine Füße machen keine Geräusche. Aber der Gang
atmet. Langsam. Heiß. Feucht. Am Ende steht eine Tür. Sie trägt ein Kleid aus Stoff. Kein Holz. Kein Metall. Ein Kleid. Wie das von einer sehr alten Puppe. Ich flüstere: „Darf ich?“ Niemand antwortet. Also geh ich
rein. Drinnen ist ein Saal. So groß wie ein Klassenzimmer. Aber mit Tischen aus Zucker und Stühlen aus Haut. Auf jedem Stuhl sitzt jemand. Aber es sind keine Menschen. Es sind Puppen. Nicht aus Plastik – aus Stoff. Genäht. Verstümmelt. Mit Augen aus Knöpfen und Mündern aus
Nadeln. Ich gehe langsam durch die Reihen. Alle Puppen starren. Nicht mit den Augen, sondern mit dem, was unter dem Stoff lebt. In der Mitte steht ein Kuchen. Ganz schwarz. Mit 14 Kerzen. Alle brennen. Obwohl kein Feuerzeug in Sicht ist. Ein Lied erklingt. „Happy
Birthday“ Aber rückwärts. Langsam. Kratzig. Wie auf einem Tonband, das jemand im Schlaf gegessen hat. Ich fange an zu zittern. Dann kommt sie. Die Gastgeberin. Eine große Puppe, aber sie bewegt sich wie ein Mensch. Ihr Gesicht ist leer. Nur genäht. Keine
Augen. Keine Nase. Nur ein großes, offenes Lächeln aus roten Fäden. Sie nimmt meine Hand und sagt mit Kinderstimme: „Jetzt wird gefeiert.“ Ich will zurück. Aber der Gang ist zu. Vernäht. Sie setzt mich auf einen Stuhl. Direkt gegenüber von einer Puppe, die aussieht
wie… Mami. Aber ohne Augen. Nur leere Höhlen, aus denen Fliegen krabbeln. Ich flüstere: „Du bist tot.“ Die Puppe flüstert: „Noch nicht.“ Ich schreie. Aber alle
klatschen. Pappendeckelklatschen. Dumpf. Unendlich. Dann ruft jemand meinen Namen. Nicht von hier. Nicht von drüben. Von innen. Die böse Mariko. Sie sagt: „Iss den Kuchen nicht.“ Ich sage: „Ich hab Hunger.“ Sie schreit: „ES IST KEIN
KUCHEN!“ Aber ich beiße trotzdem. Nur ein Stück. Es schmeckt nach Erde. Nach alten Geschichten. Nach Tränen, die niemand geweint hat. Ich spucke ihn aus. Und in dem schwarzen Klumpen bewegt sich etwas. Etwas mit einem Zahn. Ich stehe
auf. Alle Puppen fallen vom Stuhl. Wie auf Kommando. Ein Knall. Dann Stille. Die Gastgeberin sagt: „Jetzt bist du eine von uns.“ Ich laufe. Kratze am Stoff der Wände. Finde den Faden. Ziehe daran. Und der Saal fällt zusammen wie ein Kleid aus Lügen. Ich wache in meinem Bett
auf.
Der Tisch ist leer.
Keine Karte.
Kein Kuchen.
Aber auf meinem Arm
ist ein roter Faden.
Eingenäht.
Tief.
Lebendig.
Ich schneide ihn nicht auf.
Noch nicht.
Denn ich weiß:
Morgen ist ein neuer Geburtstag.
Und vielleicht ist er dann für jemand anderen.
Ich habe gesagt, es war nur ein Traum. Die Frau mit der Naht hat gelächelt. Dann hat sie mich alleine gelassen. Und ich bin sitzen geblieben, ganz still, wie eine Puppe, die man vergessen hat. Doch der Teppich unter meinen Füßen atmet. Er bewegt sich kaum. Aber ich spüre es. Ein langsames
Heben. Ein leises Senken. So wie damals – in der Wand. Ich beuge mich runter und streichle ihn. Ganz vorsichtig. Wie ein krankes Tier. Und dann flüstert er: „Du bist wieder da.“ Ich habe mich umgedreht. Niemand im Raum. Nur das Fenster. Nur der
Stuhl. Nur ich. Aber der Teppich flüstert weiter: „Sie wissen es nicht, aber du bist nie fortgegangen.“ Ich lächle. Das ist unser Geheimnis. Jede Nacht schleiche ich aus dem Bett. Barfuß. Leise. Ich spreche mit dem Teppich. Er erzählt mir Geschichten, die niemand hören
darf. Er sagt, dass unter ihm ein kleiner Raum ist. Ein Raum ohne Licht. Ohne Menschen. Nur mit einer Kiste. Ich frage: „Was ist in der Kiste?“ Der Teppich sagt: „Du.“ Ich habe angefangen zu graben. Mit einem Löffel. Stück für
Stück. Bis meine Finger rot wurden und der Boden wie Butter war. Und eines Nachts fand ich die Klappe. Ich öffnete sie nicht gleich. Ich habe gelauscht. Drinnen war nichts. Aber ich hörte doch etwas. Ein Ticken. Wie eine Uhr. Oder ein Herz. Oder ein kleines, mechanisches
Lied, das immer wieder von vorne beginnt. Heute Nacht habe ich sie geöffnet. Die Klappe. Drunter: eine Leiter. Kein Licht. Kein Boden in Sicht. Ich bin geklettert. Und irgendwann hat mich etwas empfangen. Kein Raum. Kein
Himmel. Kein Käfig. Sondern: Die Geschichte. Sie war dort. Aufgeschrieben. An allen Wänden. Mit roter Kreide. Mit Nägeln. Mit Kinderhänden. Und mitten im Raum stand die Kiste. Ich habe sie
berührt. Sie war warm. Sie atmete. So wie ich. So wie die Wand. So wie das Dunkle in mir. Ich sagte: „Ich bin bereit.“ Die Kiste öffnete sich. Drin lag ich. Nicht wie früher. Nicht wie eine Leiche. Sondern wie eine Idee, die jemand vergessen
hatte. Ich war kleiner. Reiner. Noch nicht zerschnitten. Und meine Augen waren auf. Sie flüsterte: „Ich bin nicht die böse Mariko. Ich bin die erste.“ Ich sagte nichts. Denn ich verstand plötzlich: Ich bin nicht Mariko. Nicht
wirklich. Ich bin eine von vielen. Eine Schicht. Ein Kostüm. Eine Seite im Buch. Und draußen, hinter Teppich, Fenster und Himmel – blättert jemand. Jetzt liege ich in der Kiste. Die andere ist aufgestanden. Sie nimmt meinen Platz ein. Sie lächelt. Sie sagt: „Ich werde diesmal vorsichtiger
sein.“ Die Klappe schließt sich. Die Geschichte geht weiter. Ich höre Schritte über mir. Stimmen. Die Frau mit der Naht sagt: „Sie wirkt heute… anders.“ Und ich unter dem Teppich, unter dem Himmel, unter der Haut – ich
lächle. Denn ich bin nie fortgegangen. Ich bin nur tiefer gerutscht.mir was!
Ich halte sie in der Hand. Ganz fest. Ganz sanft. Ich liebe sie. Ihre Haut ist noch so blutwarm. Nicht heiß – aber warm genug, dass ich glauben kann, sie schläft nur. Dass sie gleich aufwacht und mir sagt: „Marikolein, alles ist gut.“ Aber sie sagt
nichts. Ich schaue in ihr Gesicht. Ihre Augen sind offen, aber nicht für mich. Sie schauen durch mich durch. Wie durch Fenster. Oder Wasser. Ich krieche zu ihr, mit meinem kindlichen Körper, den sie früher so oft gedrückt hat. Ich presse mich an sie, schnupper ihren Duft. Noch ist er da. Noch riecht sie nach
Mama. Ich schreie: „Maaaamaaaa!“ Es tut weh im Hals. Aber ich schreie weiter. Weil sie doch hören muss, dass ich sie brauche. Dass ich ihre große Liebe bin. Dass wir zusammengehören. Ich spüre ihre Wärme wie ein Geheimnis, das langsam ausläuft. Ich drücke sie fester. Noch
fester. Als könnte ich ihr Herz zurück in den Takt drücken. Aber es bleibt still. Ich weine. Die Tränen laufen an meinen Äugelein runter und tropfen auf ihre Wange. Ich streichel sie, aber sie fühlt sich schon anders an. Härter. Fremder. Warum wirst du so kalt, Mami? Ich küsse ihre
Stirn. Sie schmeckt nach Metall. Nach Abschied. Dann sehe ich es wieder vor mir: Wie sie mit diesem Mann kam. Er hatte breite Schultern und keinen Blick für mich. Sein Lachen war laut und zerschnitt die Luft. Ich hab ihr gesagt: „Mami, ich will nur dich.“ Aber sie sagte: „Sei brav, Mariko. Ich brauch auch mal…
Gesellschaft.“ Doch er sah mich an als wäre ich ein zerbrochenes Spielzeug. Ein Hindernis. Etwas, das zwischen ihnen stand. Und ich stand da. Und er kam. Und ich schrie. Und sie schrie. Und ich verstand: Ich bin das Problem. Aber jetzt ist sie still. Ganz still. Und sie rennt nicht mehr vor mir weg. Sie ist bei
mir. Für immer. Ich verzeihe ihr alles. Wirklich alles. Ich flüstere: „Ich liebe dich…“ Doch ihre Haut wird immer kälter. So kalt wie der Boden. So kalt wie der Himmel, wenn er keine Sterne mehr hat. Und ich frage mich: War das hier Liebe? Oder war ich einfach
nur…
allein?
Die Tür wird aufgebrochen.
Fremde Menschen.
Stimmen.
Hände.
Blaue Lichter.
„Lassen Sie sie los!“
Aber ich halte Mami fest.
Ich gebe sie nicht her.
Sie ist meine.
Meine Mami.
Meine Liebe.
Ich weiß nicht, wo ich jetzt bin. Aber hier riecht es nach Bleichmittel und nach neuen Träumen. Die Wände sind blass, aber der Boden atmet. Sie nennen es Pflegezimmer. Aber ich nenne es: Der Himmel. Denn hier ist alles weiß und die Stimmen kommen von oben. Ich sitze da, spiele mit den Fäden an meinem Ärmel und denke an
Mami. Ich spüre sie noch. In mir. Auf mir. Wie eine zweite Haut. Wie ein Kleid, das ich nie mehr ausziehe. Denn manchmal, wenn ich die Augen schließe, öffnet sich der Stoff. Und ich krieche hinein. Dort ist es
dunkel. Warm. Blutig. Aber schön. Dort erzählt sie mir Geschichten. Von früher. Von mir. „Du bist mein gutes Mädchen, Mariko“, sagt sie. „Du hast alles richtig gemacht.“ Ich weine dann und nicke. Weil ich es glauben will. Aber manchmal taucht sie auf
– die andere. Die mit dem aufgerissenen Mund und den schwarzen Augen. Sie sieht aus wie Mami. Aber sie spricht anders. Sie schreit: „Du hast mich umgebracht, du kleines Monster!“ Und dann zerreißt sie sich. Und alles wird rot. Rot wie Liebe. Rot wie Schuld. Ich sage den Leuten hier: „Ich bin
brav.“ Und sie geben mir Saft und Tabletten, die süß schmecken und die Welt langsamer machen. Aber ich weiß, was sie flüstern: „Fallt nicht auf sie rein. Sie ist nicht mehr ganz hier.“ Ich bin überall. Heute Nacht hab ich mein Ohr an den Boden gelegt und wieder das Ticken gehört. Das
Lied.
Die Kiste.
Sie ruft mich.
Und ich weiß:
Der Himmel hat eine Falltür.
Und ich hab den Schlüssel
unter meiner Zunge.