Kurzgeschichte
Bestimmung

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Veröffentlicht am 14. Juni 2025, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Autor/Pixabay
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Bestimmung

Stimmung. Es war mucksmäuschenstill. Die meisten hatten die Augen geschlos-sen. Einige die Hände gefaltet und ihre Lippen bewegten sich stumm. Plötzlich durchdrang ein gequälter Schrei die Dunkelheit der Schachtel.Danach löste sich der Bann


Neugierig erkundigte sich unser kleines Streichholz nach dem Verbleib des Entnommenen.

"Der hat's hinter sich", meinte ein Mitholz.

"Der ist jetzt in einer besseren Welt", murmelte ein anderer, und fügte hinzu: "Und nun schlaf weiter!"

Das Streichholz, das direkt neben ihm

lag, rückte etwas näher an das Köpfchen unseres Hölzchens heran und flüsterte: "Weißt du denn nicht, dass wir alle nur darauf warten, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden?"

Unser kleines Streichholz erschrak fürchterlich und fragte dann verwundert zurück: "Ohne etwas von der Welt gesehen zu haben?"

Aber sein Nachbar schlief schon wieder. Das Hölzchen lag noch lange wach.


Am nächsten Morgen erkundigte es sich bei den anderen, wie das alles denn nun genau vor sich ging. Die meisten winkten resigniert ab, doch da unser Hölzchen nicht locker ließ, erfuhr es alle nötigen

Einzelheiten. Nach einer Weile rief es aus: "Ich hab's! - Wenn das nächste Mal einer von uns herausgenommen wird, halte ich mich an ihm fest und lass mich mit hinausziehen!"

"Nerv nicht!", rief ein anderes Holz, "Du kannst gegen dein Schicksal nicht an-gehen! Das ist alles so vorherbestimmt!" "Aber ich will leben!", rief unser Held trotzig. "Ich will leben!"


Wenig später war es soweit: Die Schachtel öffnete sich. Zwei Finger wühlten kurz, griffen nach einem Hölzchen und das kleine Streichholz hängte sich flugs an den Kameraden. Dieser war ganz starr vor Angst. Schweiß

rann an ihm herunter, sodass unser Hölzchen sich nicht lange halten konnte, abstürzte und sich in einem Aschen-becher wiederfand. Er hatte kaum Zeit, sich etwas umzuschauen, als er mitsamt Gefäß hochgenommen und im Mülleimer entleert wurde. Das Letzte, das er hörte, war der Todesschrei seines Kameraden. Dann wurde es dunkel.


Der Weg zur Mülltonne wenig später war so kurz, dass das kleine Hölzchen kaum etwas sah. Erst, nachdem der Müllwagen gekommen war und die Tonne geleert hatte, konnte es durch einen Schlitz nach draußen schauen und war überwältigt von der Vielfalt, die sich ihm bot. Die Natur,

Tiere, Menschen, Autos, das schöne Wetter - es wusste gar nicht, wo es zuerst hingucken sollte! Begeistert stupste es eine leere, stinkende Thunfischdose an. "Sieh mal dort! Spielende und lachende Kinder!"

"Ich versteh gar nicht, warum du so fröhlich bist. Weißt du denn nicht, wo es hingeht? Wir fahren zur Mülldeponie! Und dann ist es vorbei! Game over! Finito!! Rien ne va plus! Capice?, maulte die Dose und stank weiter vor sich hin. "Ja!", rief unser Held, "aber der Weg dorthin! Wir werden den ganzen Tag unterwegs sein und noch oft anhalten!" Fasziniert starrte er wieder nach draußen. Autos flitzten vorbei. Die

Menschen darin lachten oder blickten griesgrämig drein, manche sangen lauthals zu der Musik im Radio mit, andere telefonierten, trafen Verab-redungen, machten Pläne, und wieder andere fuhren höchst konzentriert - ängstlich darauf bedacht, nicht aufzu-fallen. Auf den Bürgersteigen junge Menschen mit glänzenden Augen, die noch so viel sehen wollten und alte Menschen mit stumpfen Augen, die alles gesehen hatten. Und - das Zündholz zog überrascht die Augenbrauen hoch - ein paar alte Menschen, die ebenfalls glänzende Augen hatten.



Später - viel später - erreichte der Müllwagen die Deponie. Es wurde noch einmal aufregend, als alles durchein-andergewirbelt und auf Fließbänder befördert wurde. Nun ging alles sehr schnell

Bis zuletzt wandte das kleine Streichholz den Blick zum Eingangstor und sah nach draußen. Nahm den blauen Himmel in sich auf, die Vögel, die über den Müllbergen kreisten, die Bäume und Büsche, die sich sanft im Wind bewegten.

Lächelnd fiel es mit seinen Leidens-genossen in ein dunkles Loch.

Dann wurde es bei lebendigem Leib verbrannt.


© Ulrich Seegschütz

Mär|2012



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