Ich habe diese Geschichte aus tiefsten Herzen geschrieben und dabei viele meiner eigenen Gefühle geteilt.
Manche Abschnitte können sehr emotional und vielleicht auch schwer für dich sein.
Das ist okay.
Nimm dir beim Lesen alle Zeit, die du brauchst, und sei liebevoll zu dir selbst.
Wenn es dir zu viel wird, gönn dir eine Pause oder suche dir jemanden zum Reden.
Danke, dass du meine Geschichte Lesen möchtest und dich darauf einlässt.
Für mich bedeutet das sehr viel.
Und behalte immer im Hinterkopf, es ist ein finktionales Werk und kein Tatsachenbericht. Alle Protagonisten enstammen meiner Fantasie.
Anna ist 17 Jahre alt, ein ganz normales Mädchen mit einem festen Freundeskreis und guten Noten in der Schule. Sie lebt in einer kleinen Stadt, wo jeder jeden kennt und das Leben in ruhigen Bahnen verläuft. Ihre beste Freundin Lena ist ihr seit der Grundschule eine Vertraute, mit der sie alles teilen kann. Zusammen gingen sie bereits durch die Höhen und Tiefen des Teenagerlebens: Prüfungsstress, die erste Liebe, kleine Streitigkeiten aber auch große Träume. Doch unter der Fassade eines
gewöhnlichen Lebens schlummert in Anna eine tiefe Sehnsucht: Das Bedürfnis, mehr zu verstehen...nicht nur über sich selbst, sondern auch über die Welt, in der sie lebt. Manchmal spürt sie, dass es Dinge gibt, die verborgen sind. Dinge, die erzählenswert und doch schwer zu fassen sind.
Es begann alles mit einem Flüstern....
Anna saß auf ihrem alten, leicht quietschenden Drehstuhl am Schreibtisch, der mitten in Ihrem Zimmer stand. Der Tag war lang gewesen: Schule, Hausaufgaben, ein Treffen mit Freunden. Alles so wie immer. Trotzdem lag etwas Unausgesprochenes in der Luft, ein feiner Hauch von Unruhe, der sie nicht losließ. Draußen regnete es leise, die Tropfen trommelten auf das Fenster und schufen ein beruhigendes, aber auch irgendwie melancholisches Geräusch. Ihr Zimmer war erfüllt vom schwachen
Licht der kleinen Schreibtischlampe, die ein warmes, gelbliches Licht verströmte. Bücherstapel standen links und rechts von Ihr, Zeugnisse vergangener Tage, die sie noch einmal durchblätterte. In der Ecke stand Ihre Gitarre, die sie seit Wochen nicht mehr angerührt hatte. Eigentlich hatte sie ein sehr gutes Leben. Doch in letzter Zeit fühlte sie sich anders. Sie war innerlich unruhig, als hätte etwas in Ihr begonnen, Fragen aufzuwerfen, die keine einfachen Antworten zuließen. Es war diese seltsame Ahnung, dass es Dinge gab, die nicht gesehen, nicht gehört, aber dennoch spürbar waren. Eine verborgene
Geschichte, die darauf wartete, erzählt zu werden. Plötzlich zuckte das Licht der Schreibtischlampe. Ein kurzes Flackern, kaum wahrnehmbar, aber trotzdem genug, um Anna aus Ihren Gedanken zu reißen. Sie zuckte zusammen. „Bestimmt einfach nur ein Wackelkontakt“, murmelte sie und stand auf, um das Kabel zu überprüfen. Doch alles schien in Ordnung zu sein. Sie setzte sich wieder, den Blick auf die Seite gerichtet, wo die Bücher standen, und atmete tief
durch. Doch irgendetwas hatte sich verändert. Die Luft um sie herum fühlte sich drückend an. Und da war es! Ein kaum hörbares Flüstern, fast wie ein Windhauch, der durchs Zimmer strich. „Anna....“ Sie hielt den Atmen an und blickte sich erschrocken um. „Wer ist da?“ flüsterte sie, die Stimme kaum mehr als ein hauchzarter Ton. Doch niemand
antwortete. An diesem Abend passierte nichts mehr. Anna versuchte, das Erlebnis zu verdrängen, schob es auf Ihre überreizte Phantasie. Doch in den nächsten Tagen änderte sich die Stimmung in ihr. Sie begann, sich kleine Notizen zu machen. Wörter, die ihr plötzlich einfielen, ohne erkennbaren Zusammenhang. Worte wie „Arm“ oder „Nummer“. Sie schüttelte den Kopf. Das klang nach Geistergeschichten, aber nicht nach ihrem Leben. Ein paar Tage vergingen. Anna hatte den
Vorfall schon fast vergessen. Sie saß abends auf Ihrem Bett und las ein Buch. Und dann geschah es erneut... Das Licht flackerte wieder. Diesmal länger, rhythmisch, fast als wolle es ihr eine Nachricht senden. Sie setzte sich auf, das Buch noch in der Hand, als das Flüstern wieder erklang. Doch es war viel klarer als das letzte Mal.... „LASSE....“ Ihr Herz setzte kurz aus und Panik machte sich in Ihr breit. Lasse? Wer war das? Der Name war ihr auf irgendeine Art
vertraut und doch so fremd. Sie biss sich auf die Lippe und versuchte, ruhig zu bleiben. „Lasse? Wer bist du?“, fragte sie, kaum zu glauben, dass sie es tatsächlich tat. Das Flackern wurde stärker und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Dann wieder Stille. Anna spürte eine Kälte, die sich in ihrem Brustkorb ausbreitete. Eine Mischung aus Angst und unerklärlicher Nähe. Ihre Finger umklammerten die Bettdecke. Und ihr wurde klar: Irgendetwas hatte
begonnen. Etwas, was ihr Leben verändern würde. Sie nahm einen Stift und ihr Tagebuch...und fing an zu schreiben: >Was soll ich tun? Bin ich verrückt? Diese Fragen kreisen mir im Kopf. Ich fühle mich allein und gleichzeitig doch nicht. Als wäre jemand bei mir....jemand, der warten musste, das ich bereit bin, zuzuhören. Vielleicht ist es nur mein Geist, der zu viel liest und sich Dinge zusammenreimt. Aber ich spüre, dass da mehr ist. Nur ich kann es nicht erklären.<
Der nächste Morgen begann wie jeder andere für Anna. Das schrille Klingeln des Weckers riss sie aus den letzten Träumen, an die sie sich nur noch schwach erinnern konnte. Im Halbschlaf fragte sie sich, ob die Ereignisse vom gestrigen Abend wirklich stattgefunden haben oder alles nur ein Traum gewesen war. Im Bad betrachtete sie Ihr Spiegelbild. Die blassen Augen und das unruhige Zucken in ihren Schultern verrieten mehr als ihr lieb war. „Du bildest dir das alles nur ein“, sagte
sie sich streng. Doch tief in ihr keimte die Gewissheit, dass es kein Hirngespinst war. In der Schule war alles normal. Gespräche, Lachen, Unterricht. Nichts deutete darauf hin, dass da etwas war. Anna fühlte sich zunehmend abgekoppelt, als wäre sie in zwei Welten gleichzeitig gefangen. Lena, ihre beste Freundin, bemerkte es aber sofort. „Anna, alles okay bei dir? Du wirkst anders als sonst“, fragte sie während der Mittagspause und legte eine Hand beruhigend auf Annas
Arm. Anna lächelte schwach. „Ich weiß nicht....ich habe einfach ein komisches Gefühl.“ Lena nickte verständnisvoll. „Vielleicht brauchst du einfach mal eine Auszeit. Willst du heute Abend bei mir lernen?“ Anna zögerte, obwohl die Vorstellung, sich mit Lena in vertrauter Umgebung abzulenken, gut klang. „Ja, sehr gern. Danke.“ Nach der Schule ging Anna nach Hause. Sie wollte sich ein wenig ausruhen, bevor sie den Abend mit Lena verbrachte.
Sie war müde, erschöpft. Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und schloss die Augen. Da spürte sie es wieder! Diese unheimliche Kälte. Sie setzte sich auf und schaute sich im Zimmer um. Die Schreibtischlampe flackerte wieder. Zuerst nur ganz leicht, kaum merklich. Doch das Flackern wurde intensiver.... Und dann hörte sie es wieder! Das Flüstern.... Diesmal kaum mehr als ein hauchendes
Wort: „Nummer.....200212....“ Anna fuhr zusammen. Ihr Herz raste. „Wer bist du? Und was willst du von mir?“ flüsterte sie, die Hände fest auf ihr Bett gepresst. Stille. Dann ein sanftes, traurig klingendes: „Ich bin Lasse“ Anna atmete tief ein. Lasse... Der Name war wieder da. Und damit ein Gefühl von Dringlichkeit und Schmerz, das ihr
unbekannt war, aber tief in Ihr etwas berührte, das sie nicht erklären konnte. Im Laufe der nächsten Tage häuften sich die Vorkommnisse. Der Kontakt wurde zögerlicher, aber auch klarer. Lasse gab immer und immer wieder kleine Hinweise, kryptisch und doch voller Bedeutung. Anna notierte sich all die Worte, die Lasse ihr gab. Er sprach von „Arm“, von „verstecken“ und „Frieden“..... und von „Block 10“. All diese Worte verunsicherten Anna, fesselten sie aber gleichzeitig. Sie schrieb alles in ihr kleines Notizbuch, welches sie bald nur noch für diese geheimnisvollen Nachrichten
benutzte. Ihr Leben nahm eine seltsame Wendung, denn obwohl alles äußerlich beim Alten blieb, spürte sie innerlich, wie etwas wuchs: Neugier, Hoffnung, aber auch eine tiefe Traurigkeit. Und manchmal, wenn sie allein war, hatte sie das Gefühl, dass jemand sie sanft berührte. Eine kalte Hand auf ihrer Schulter, ein Flüstern im Ohr... Tagebucheintrag: Heute fühle ich mich, als wäre mein Leben plötzlich geteilt. Einerseits die
Schule, meine Freunde,meine Familie...einfach die vertraute Welt. Andererseits diese leise Stimme, welche mich erreicht, wenn niemand sonst da ist. Lasse nennt sich selbst bei seinem Namen, aber wer ist er wirklich? Was will er mir sagen? Und wieso ICH? Ich habe Angst, gleichzeitig aber auch das Gefühl, ich muss ihm zuhören. „Block 10“, „Nummer 200212“....immer wieder diese Worte. Ich verstehe nicht, was sie bedeuten, aber sie verfolgen mich. Lena hat gemerkt, das ich anders bin, aber ich will ihr nicht zu viel davon erzählen. Wer würde mir glauben?
Ich hoffe, ich finde bald Antworten....
Ein paar Tage waren vergangen. Anna saß auf ihrem Bett, das Notizbuch fest in den Händen. Immer und immerwieder las sie die notierten Worte. Sie brannten sich in ihr Bewusstsein. Anna hatte das Gefühl, als würde Lasse Stück für Stück kleine Puzzleteile aus seiner Geschichte zu ihr schicken. Aber sie waren zerbrochen und unvollständig. Seit Tagen hörte sie nichts von ihm, und doch fühlte sie sich nicht allein. In ihren Träumen tauchten Bilder von dunklen Mauern auf, engen Gängen und kaltem Stein. Sie wachte oft schweißgebadet
auf, das Herz rasend. In der Schule versuchte sie sich abzulenken, doch ihr Blick schweifte immer wieder gedanklich zurück zu diesen Bildern. Lena merkte ihre unruhe und sprach sie vorsichtig darauf an. „Du bist wirklich nicht du selbst, Anna. Möchtest du mir sagen, was los ist?“ Anna zögerte und blickte zum Boden. „Ich weiß nicht, ob ich es erklären kann. Es ist.....kompliziert.“ Lena zeigte Verständnis und erwiderte: „Du kannst mir alles erzählen. Egal, wie verrückt es klingt.“ Das Vertrauen zu Lena war tief. Anna wusste, dass sie ihr
Geheimnis nicht für sich behalten musste, aber es war schwer, die Last der Worte in Sprache zu fassen. Es war schon spät und gedankenversunken legte sich Anna ins Bett. Müde vom Grübeln und Nachdenken. Doch in dieser Nacht, als sie ihr Zimmer wieder in Dunkelheit hüllte, geschah etwas, was sie nicht erwartet hatte. Sie spürte plötzlich eine Wärme an ihrer Seite, wie eine zarte Berührung...fast wie eine Umarmung. Die Luft war schwer und dann vernahm sie es...das
Flüstern. „Lasse....hier.....vertrauen“ Sie schloss die Augen und flüsterte zurück: „Ich vertraue dir auch, Lasse. Was ist nur mit dir passiert?“ Stille. Dann wieder ein paar Wortfetzen: „Hat...sie...getötet“ Anna musste schwer schlucken, denn Lasses Worte waren schwer wie Blei. Langsam spürte sie, wie sich ihr Leben veränderte. Die Begegnung mit Lasse gab ihr eine neue Tiefe, aber auch eine
Verantwortung, die sie nicht kannte. >Tagebucheintrag „Heute habe ich das erste Mal gedacht, ich verstehe Lasse. „Hat sie getötet“...diese Worte verfolgen mich. Was ist nur mit Lasse geschehen? Warum kann er mir nicht mehr erzählen? Warum macht mich das so traurig? Lena ist da und das hilft mir. Ohne sie würde ich mich vielleicht verlieren. Aber manchmal fühle ich mich auch einsamer als je zuvor. Es ist, als würde ich zwischen zwei Welten
schweben.
Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet, aber ich kann nicht aufhören, weiterzugehen. Irgendetwas in mir drängt mich dazu, zuzuhören. Ich will wissen, wer Lasse ist!
Tage vergingen, ohne dass Lasse etwas hat von sich hören lassen. Das alltägliche Leben spielt sich immer wieder aufs neue mit einer sicheren Routine ab. Neben Lena wurde das Notizbuch nun Annas ständiger Begleiter. Wie jeden Abend saß sie auf ihrem Bett, das Buch vor sich aufgeschlagen. Die Stille war fast greifbar, nur ab und zu unterbrochen vom Kratzen des Stiftes auf dem Papier. „War das alles nur ein Traum oder habe
ich es mir nur eingebildet?“ murmelte Anna vor sich hin. Ab und zu gab es ein paar winzige, fast rätselhafte Andeutungen. Nicht mehr...Es war, als würde Lasse in sich selbst gefangen sein, zwischen dem Drang, sich mitzuteilen und der Angst, zu viel zu offenbaren. Die Nächte waren die schwierigsten. Anna legte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Sie spürte die kühle Luft auf ihrer Haut. Dann, wie aus dem Nichts....vernahm sie ein kaum hörbares Flüstern. Ein Hauch von Stimme, der durch ihr Zimmer
strich: „Block.....nicht sicher.“ Das war alles. Kein „bitte“, kein „hilf mir“. Nur diese drei Worte, schwer und doch zerbrechlich zugleich. Anna schloss die Augen und antwortete leise: „Ich bin hier. Ich höre dir zu. Du kannst mir vertrauen.“ Doch er schwieg. Stundenlang.
Am nächsten Morgen in der Schule wirkte Anna noch abwesender als sonst, ihre Gedanken kreisten immer wieder um
diese drei Wörter. Lena nahm sie beiseite und schaute sie mit sorgenvoller Mine an. „Du redest seit Tagen kaum noch. Und wenn du redest, dann klingt es, als würdest du in einer anderen Welt leben. Das bist nicht du. Sag mir, was los ist.“
Anna lächelte schwach: „Vielleicht tue ich das auch., aber noch nicht jetzt.“ Wieder zu Hause, am Abend, griff Anna nach ihrem Stift und begann zu schreiben, als wolle sie Lasse eine Nachricht übermitteln. Doch sie hielt inne. Sie wusste nicht, wie sie ihn erreichen sollte, ohne ihn zu
überfordern. Dann, fast wie eine Antwort auf ihre Unsicherheit, spürte sie eine leichte Berührung an ihrer Hand....warm, aber flüchtig. Da war dieses Flüstern wieder, zögerlich und zurückhaltend: „Ich....Angst“ Anna schluckte. Sie verstand. Angst vor dem, was die Erinnerung bringen würde. Angst vor der Wahrheit. „Ich habe keine Angst vor dir, Lasse, nur mit dir“ flüsterte sie. „Du bist nicht
allein.“ Die nächsten Tage blieben die Zeichen schwach, fast verborgen. Manchmal war es nur ein kalter Luftzug, ein Schatten, der sich bewegte, ein undeutliches Wort. Doch Anna spürte die wachsende Präsenz, die immer wieder nach ihr suchte, um sich vielleicht irgendwann vollständig zu zeigen. >Tagebucheintrag Manchmal frage ich mich, ob ich das richtige tue. Lasse zeigt sich nur in Fragmenten, als hätte er Angst vor mir
oder vor dem, was ich sehen könnte. Ich will ihn nicht drängen, aber ich will auch nicht aufgeben.
Ich fühle mich seltsam verändert, als würde eine unsichtbare Last auf meinen Schultern liegen. Aber gleichzeitig wächst in mir ein Gefühl von Sinn. Ich bin nicht mehr nur ich. Ich bin auch das, was Lasse mir zu zeigen versucht.
Die Tage zogen träge vorüber und Anna merkte, wie die Grenze zwischen ihrer Welt und der Präsenz, die sich Lasse nannte, immer dünner wurde. Er sprach kaum zu ihr. Nur ab und zu kamen kleine, fast verlorene Fragmente zu ihr. Es war, als wolle er Vertrauen fassen, doch Angst hielt ihn zurück. Draussen war es schon dunkel, nur die kleine Schreibtischlampe zeichnete einen schwachen Schein im Zimmer. Sie saß wie jeden Abend vor ihrem Notizbuch.
„Nicht.....Sicher“ Anna erschrak sich, als sie die Worte hinter sich vernahm. Sie schluckte. Diese Worte klangen wie eine Warnung. Aber wovor? „Was meinst du?“ flüsterte sie zurück. „Wer ist nicht sicher? Wer oder was ist gefährlich?“ Nur Stille. Annas Gedanken wirbelten durcheinander. Sie erinnerte sich, das
Lasse einmal sehr schwach einen „Doktor“ aus „Block 10“ erwähnte. Am nächsten Tag traf sie sich mit Lena. Es war nicht zu übersehen, wie nachdenklich Anna war. Sie gingen in den Park, setzten sich auf eine Bank,. Während die Blicke unsicher durch die Gegend streiften, fing Anna einfach an zu erzählen. Von der Stimme, die ihr immer nur kleine Wortfetzen zukommen ließ, von den Andeutungen....von Block 10. „Das klingt sehr unheimlich, Anna. Aber ich glaube dir. Manchmal passieren Dinge, die wir uns einfach nicht erklären
können.“ sagte Lena und legte ihren Arm um Anna. Zum ersten Mal fühlte sie sich nicht mehr allein mit ihrem Geheimnis. Die Schule war inzwischen anstrengend. Das Lernen fiel ihr schwerer, die Gedanken an Lasse raubten ihr jede Nacht den Schlaf. Immer wieder sah sie Schatten in den Ecken ihres Zimmers, hörte flüsternde Worte, die sie aber nicht immer verstand. Eines Abends, als sie das Licht gelöscht hatte und sich ins Bett kuschelte, merkte sie es wieder....eine leichte Berührung an ihrer Hand....warm und
tröstend. „Ich....Angst“ flüsterte Lasse. Anna drückte die Hand auf die Stelle, wo sie die Berührung gespürt hatte und flüsterte: „Du musst keine Angst haben. Ich bin bei dir“ Einen Moment lang fühlte es sich an, als würde eine Last von ihr abfallen....die Angst, die Sorge, das Unbekannte. >Tagebucheintrag Lasse bleibt mir ein Rätsel. Manchmal ist er so nah, dass ich seine Angst spüren kann. Dann wieder zieht er sich zurück,
als wolle er mich oder sich beschützen. Ich frage mich, wie es sich anfühlt, so gefangen zu sein..in der Vergangenheit, in einer Geschichte, die kaum jemand kennt. Ich möchte ihm helfen, aber ich weis nicht wie.
Lena ist mein Fels. Ohne sie würde ich vielleicht schon an den Zweifeln zerbrechen, die sich in mir breitmachen.
Ich fühle mich verändert. Anders. Wie eine Brücke zwischen zwei Welten, die ich kaum begreifen kann.
Wie immer in der letzten Zeit waren die Tage geprägt von einer merkwürdigen Stille. Anna versuchte, nicht viel zu erwarten, doch ihr Herz schlug jedes mal schneller, wenn sie spürte, das Lasse sich vielleicht wieder melden würde. Anna dachte an die Zeit vor dem ersten Flüstern zurück. Sie war ein lebensfroher Teenager mit einer solch positiven Ausstrahlung, welche den Sonnenschein selbst durch die dunkelsten Wolken sichtbar machen konnte. Normalerweise wäre sie mit ihren Freunden unterwegs, würde jeden Moment im Leben
genießen....und jetzt? Jetzt hatte sie sich eine kleine Mauer um sich gebaut. Um sich zu schützen....und Lasse. Zweifel machten sich in ihr breit...wie hoch war der Preis, den sie zahlen musste, um Lasse zu hören? Würden sie ihre Freunde verstehen? In diesem Moment kam erstmals der Wunsch in ihr auf, wieder in ihr altes Leben zurückkehren zu wollen...Aber damit würde sie Lasse fallenlassen und ihr Versprechen ihm gegenüber brechen. Nein, das brachte sie nicht über ihr Herz. Insgeheim hoffte sie, das ein Zeichen
von ihm kam. Da war es . Das Flüstern... „Anna...“ Sie zuckte zusammen, aber zugleich fühlte sie sich auch getröstet. Es war nicht mehr die drängende, fordernde Stimme der ersten Tage...Nein, die Stimme war sanfter, fast ängstlich. „Danke....Vertrauen...“ Anna schluckte schwer und flüsterte zurück: „Für was dankst du
mir?“ Eine lange Pause. Dann kam die Antwort, wie aus weiter Ferne: „Für...hören...“ Die Einfachheit dieser Worte rührte Anna tief. Jemand, der so viel durchgemacht hatte, war allein wegen ihrer Aufmerksamkeit dankbar. Eine Träne lief durch ihr Gesicht. „Ich will dir helfen.“ sagte sie sanft. „Ich will verstehen, was dir passiert
ist.“ Ein weiteres Schweigen. Dann, kaum hörbar: „Angst...“ Anna atmete tief ein. Angst war etwas, das sie kannte. Angst konnte lähmen, aber auch schützen. Sie dachte an Lena, die immer wieder mit ihr über solche Gefühle sprach. Vielleicht würde sie ihr mehr davon erzählen....bald. Vielleicht würde Lena ihr helfen, nicht zu verzweifeln. Lasse kehrte an diesem Tag nicht mehr
zurück, aber Anna wusste, dass es ein Anfang war. Ein zartes Band zwischen seiner und ihrer Welt. >Tagebucheintrag Heute hat Lasse zum ersten mal „Danke“ gesagt. Nur ein kleines Wort, aber es fühlt sich an, als hätte ich einen Funken Hoffnung geschenkt bekommen. Ich merke, wie schwer es ist, mit jemanden zu sprechen, den man nicht sehen kann. Und doch fühle ich, wie sich etwas in mir verändert. Lena ist die einzige, die mich wirklich
versteht. Ich will ihr mehr erzählen, aber ich fürchte auch, sie könnte denken, ich verliere den Verstand.
Es ist, als würde ich langsam eine Tür öffnen, die zu einer anderen Zeit und zu einer anderen Welt führt. Ich habe große Angst, aber ich bin auch neugierig.
Der Abend legte sich schwer über Annas Zimmer. Das sanfte Licht ihrer Schreibtischlampe warf Schatten an die Wände, die im Tanz der Dämmerung lebten. Sie saß an ihrem Schreibtisch, das Notizbuch geöffnet. Doch der Stift ruhte in ihrer Hand. Sie spürte diese Präsenz, die heute stärker war, als sonst, gleichzeitig aber zurückhaltend, als würde Lasse selbst noch vorsichtig um seinen Mut
ringen. „Block...“ Anna schluckte. Sie ahnte, das es wieder um Block 10 geht. Trotzdem fragte sie: „Welcher Block, Lasse?“ Eine lange Pause. Dann erneut: „Zehn...“ Anna nahm ihren Mut zusammen, und fing an, gezielt Fragen zu
stellen. „Block 10? Was ist dort?“ Ohne längere Pause antwortete die Stimme: „Schmerz...“ Sie spürte die Traurigkeit, die in diesen wenigen Worten lag. Block 10... es scheint ein Ort zu sein, der mit dunklen Erinnerungen verbunden war. „Magst du mir erzählen, was dort passiert ist?“ fragte sie. Diesesmal dauerten die Antworten
länger, als würde Lasse nach den richtigen Worten suchen. Schließlich ein weiteres Wort: „Doktor...“ Ein kalter Schauer überfuhr Anna. Das klang nach jemanden mit Macht, vielleicht sogar Grausamkeit. „Der Doktor? Was hat er getan?“ fragte sie weiter. Eine neue
Pause....dann: „Er...tötete...“ Anna schloss die Augen. Die Gänsehaut breitete sich über ihren ganzen Körper aus und Tränen stiegen in ihr auf, unaufhaltsam und still. Sie spürte, wie Lasse ihr vorsichtig etwas anvertraute. Stück für Stück. Es war, als würde er ihr ein zerbrechliches Geschenk überreichen. Und mit jeder Nachricht berührte sie seine verlorene Seele ein Stückchen
mehr. >Tagebucheintrag Heute Abend hat mir Lasse mehr von sich erzählt. Es war nicht viel, nur ein paar Worte. „Block 10“ , „Schmerz“, „Doktor“...Doch diese Worte reichten, um mein Herz schwer werden zu lassen. Ich weis nicht, wer der Doktor war oder was es mit diesem Block auf sich hat, aber ich spüre, dass es wichtig ist. Das Lasse etwas ganz schreckliches erlebt haben muss. Was ich aber auch fühle: Lasse vertraut
mir langsam. Er öffnet sich, aber zögert noch. Vielleicht hat er Angst davor, was passiert, wenn er sich zu sehr öffnet.
Lena hat heute Abend mit mir telefoniert. Sie merkt, dass ich mich verändere. Dass ich stiller werde, nachdenklicher. Sie macht sich große Sorgen. Würde sie mich verstehen, wenn ich ihr alles erzähle? Ich habe Angst davor.
Und noch etwas. Ich kann nicht mehr aufhören, an ihn zu denken. Wer war Lasse wirklich? Und was ist Block 10?
Die Stunden nach dem Gespräch mit Lasse vergingen wie in einem Nebel. Anna lag lange wach in ihrem Bett, starrte an die Decke und versuchte, die Worte und Bilder zu ordnen, die in ihrem Kopf umherirrten. „Block 10“ … „Doktor“....“Schmerz“.... So viele kleine Puzzleteile, die sich langsam zu einer Geschichte zusammenfügten. Ihr Zimmer war still, bis auf das gelegentliche Knarren des alten Hauses. Der Mond schien schwach durch das Fenster, zeichnete Schatten auf die Tapete. Anna fühlte sich einsam, aber
gleichzeitig merkte sie, wie sich eine unsichtbare Verbindung bildete...zwischen ihr und dem Jungen, dessen Geschichte sie zu entdecken suchte. Am nächsten Morgen war sie ungewöhnlich still in der Schule. Ihre Freunde lachten und redeten um sie herum, doch Anna war in Gedanken weit weg. Selbst Lena, die sonst immer sofort merkte, wenn Anna etwas bewegte, wagte heute nicht zu drängen. Sie spürte, das Anna etwas bewegte, ohne es auszusprechen. In der Mittagspause zog sich Anna in
eine ruhige Ecke der Schulbibliothek zurück. Sie öffnete ihr Notizbuch, wo all die Worte standen, welche Lasse ihr gegeben hatte, und begann, sie immer wieder zu lesen, als wolle sie darin Antworten finden, die sich nicht sofort zeigten. Wie aus dem nichts spürte sie wieder diese leise Präsenz. Als ob jemand sanft ihre Schulter berührte. Sie schloss die Augen und flüsterte: „Lasse? Bist du da?“ Die sanfte Stimme hauchte ein vorsichtiges „Ja“ zu
Anna. „Erzähl mir bitte mehr. Ich möchte dich so gern verstehen.“ bat sie leise. Wieder kam nur ein einzelnes Wort: „Angst...“ Anna zog ihre Jacke enger um sich, als wollte sie sich selbst schützen vor der Wucht, die in diesem einen Wort lag. „Wer hat Angst? Du? Oder der Doktor?“ Die Antwort kam nach einer langen Pause: „Beide....“ Annas Herz schlug bis zum Hals. Wie
viele Geschichten von Leid und Verzweiflung lagen in diesen wenigen Worten verborgen? Sie merkte, dass sie mehr wissen wollte, mehr fühlen, mehr sehen, als bloße Worte vermitteln konnten. Den Rest des Tages verbrachte sie mit dem leisen Gefühl, dass sich etwas veränderte....nicht nur in ihr, sondern um sie herum. In der Schule wirkte alles normal, doch in ihrem Inneren begann eine Reise, die sie nie erwartet hatte. >Tagebucheintrag Ich fühle mich seltsam. Als hätte sich
etwas in mir geöffnet, was vorher verschlossen war. Lasse spricht so vorsichtig. Er gibt mir immer nur Fragmente seiner Geschichte. Heute nur „Angst“.... das klingt so einfach, und doch ist es schwer wie ein Stein. Ich frage mich, wie es ihm wirklich ging. Wie es sein konnte, dass ein so junger Mensch solche Qualen erleiden musste. Lena hat mich gefragt, ob ich wieder sauer auf sie bin. Ich habe nichts gesagt. Wie soll ich erklären, dass ich nicht sauer bin, sondern irgendwo tief in mir
traurig und voller Fragen?
Ich habe Angst davor, wie sehr mich das alles verändert. Aber ich kann auch nicht aufhören, Lasses Geschichte zu sehen.
Der Tag begann wie jeder andere, doch für Anna war schon lange nichts mehr, wie vor jenem Abend, als Lasse zum ersten mal zu ihr sprach. Sie merkte jeden Tag mehr, wie sehr sie die Situation und die Vorkommnisse veränderten. Aber sie konnte diese Veränderung nicht benennen. Sie schob die Bettdecke beiseite und blickte aus dem Fenster. Die Welt draußen war klar und hell, ein warmer Frühlingstag. Vögel zwitscherten, und die ersten Blätter an den Bäumen tanzten im leichten Wind. Doch in Annas Brust
fühlte es sich kalt und schwer an. Am Frühstückstisch war die Stimmung wie immer fröhlich. Ihre Eltern redeten über die anstehende Gartenarbeit und ihr kleiner Bruder erzählte begeistert von seinen Plänen für das Wochenende. Doch Anna hörte kaum hin. Später, in der Schule, als sie gerade ihre Hausaufgaben machte, setzte sich Lena zu ihr. Sie musterte Anna von oben bis unten. Lena sorgte sich von Tag zu Tag mehr um Anna, denn sie wusste, dass Anna ihr nicht alles erzählt hatte. „Ist alles okay bei dir? Wie fühlst du dich heute?“ fragte sie
vorsichtig. Anna schüttelte den Kopf, wollte eigentlich antworten. Doch da war es wieder...dieses Flüstern, welches sie seit Tagen begleitete: „Bitte....nicht heute....“ Anna zuckte zusammen und blickte um sich. Niemand schien etwas zu hören. Lena sah sie besorgt an und sagte: „Anna, bitte erzähle mir, was in dir vorgeht. Es macht mich traurig, zu sehen, wie du dich immer mehr abschottest. Ich fühle mich so
hilflos.“ Anna wollte antworten, doch die Worte wollten nicht heraus. Stattdessen schrieb sie schnell etwas in ihr Notizbuch. „Er will nicht sprechen. Es ist, als ob er Angst hätte, sich weiter zu öffnen.“ Am Abend, wieder allein in ihrem Zimmer, setzte sich Anna an ihren Schreibtisch, das Notizbuch geöffnet vor sich . „Lasse?“ fragte sie mit zitternder Stimme. „Warum schweigst du? Was hält dich
zurück?“ Eine lange Stille folgte, dann flüsterte die Präsenz: „Schmerz....zu groß....“ Alles in Anna zog sich zusammen. Sie konnte förmlich die Schwere hinter den Worten spüren, als ob Lasse mitten in einem dunklen Meer gefangen wäre, das ihn zu ertränken drohte. „Du musst nicht alles alleine tragen, ich bin doch hier. Und ich möchte dir helfen.“ sagte Anna mit tränenerstickter
Stimme. Wieder eine lange Pause. Dann kam die Antwort: „Block 10...“ Anna schlug die Hände vor ihr Gesicht. „Block 10“ , dieser Ort schien wie ein dunkler Schatten, der sich immer und immer wieder über die zarten Sonnenstrahlen ihrer Hoffnung legte. Doch diesesmal war da auch etwas anderes. Ein Funke, ein flimmern von Vertrauen, das langsam durch die Angst
brach. Am nächsten Tag in der Schule meldete sich Anna ungewöhnlich oft zu Wort, las laut vor und beteiligte sich an Diskussionen. Etwas, das sonst nicht typisch für sie war. Lena wunderte sich, aber bewunderte ihre Freundin auch. Anna wirkte stärker, und doch nicht ganz sie selbst. In der Pause nahm Anna all ihren Mut zusammen und zog Lena beiseite. „Ich muss dir was erzählen.“ fing sie zögernd an. „Ich habe dir nicht alles erzählt. Ich hatte Angst, dass du mir nicht glaubst.
Es geht um Lasse. Ich kann ihn spüren. Ich kann seine Angst und seine Verzweiflung spüren. Er gibt mir immer mehr von sich preis, und doch...ist es so schwer.“ In diesem Moment konnte Anna ihre Emotionen nicht mehr zurückhalten. Die Tränen liefen ihr ins Gesicht und sie sackte in Lenas Armen zusammen. Lena hörte ihr ruhig zu. Nicht ein einziges Mal unterbrach sie Anna. Als Anna fertig war, legte Lena ihre Arme um sie und sagte: „Ich bin für dich da, egal was kommt. Und ich werde dir helfen, egal bei was.
Du bist doch meine beste Freundin.“ Diese warmen Worte von Lena hatte Anna gebraucht. Das Verständnis, das Mitgefühl...und ihre Freundin. Anna lächelte schwach, und zum ersten mal seit Tagen fühlte sie sich ein kleines Stück weniger allein. >Tagebucheintrag Heute war ein schwerer Tag. Lasse hat meist geschwiegen. Ich habe gemerkt, wie sehr ihn sein Schmerz
lähmt. Ich verstehe jetzt ein bisschen mehr, wie groß seine Angst ist. Die Angst vor der Vergangenheit, vor der Wahrheit, die so brutal war. Lena hat mich heute aufgefangen. Ich konnte den Druck und die Last nicht mehr alleine tragen. Ich musste ihr einfach alles erzählen. Und sie war da, völlig urteilsfrei. Sie war einfach nur da und hat mir zugehört. Dann kam sie noch mit zu mir nach Hause, und wir haben viel geredet. Sie hatte einen guten Vorschlag. Sie meinte, ich solle aus den Worten und Bildern, welche mir Lasse in
meinen Kopf sendet, versuchen, etwas herauszufinden. Also habe ich angefangen, zu recherchieren.
Manchmal frage ich mich, ob ich das alles wirklich schaffen kann. Aber dann denke ich an Lasse....ich werde nicht aufgeben, Lasse braucht mich doch …
Der erste Sonnenstrahl schlich sich zaghaft durch die Gardinen, als Anna die Augen öffnete. Sie spürte das seltsame Kribbeln wieder in der Brust...als wäre eine leise Stimme in ihr erwacht, die sie nicht mehr ignorieren konnte. Noch im Halbschlaf hörte sie ihn....Lasse. Aber diesmal war seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern....sie war fast greifbar. „Danke....für....bleiben...“ Anna setzte sich auf, ihr Herz schlug
schneller. Sie streckte die Hand aus, als wolle sie etwas Unsichtbares berühren. Im Bad betrachtete sie ihr Spiegelbild. Sie sah müde aus, aber in ihren Augen lag Entschlossenheit. Langsam aber sicher begann sie zu verstehen, dass sie nicht nur eine Zuschauerin war. Sie war ein Bindeglied zwischen Lasse und der Welt. In der Schule lief alles seinen gewohnten Gang. Die Stunden, die Gespräche, das Lachen. Doch für Anna hatten sich die Farben verändert. Lena bemerkte immer öfter, wie Anna oft in Gedanken versank, manchmal die Worte suchte und dann
doch den Blick senkte. „Hey, hast du Lust, mit ins Cafe zu kommen?“ fragte Lena nach Schulschluss. Anna nickte, dankbar für die Ablenkung. Sie gingen ins Cafe und bestellten sich zwei heiße Schokoladen und setzten sich in eine ruhige Ecke. Den Nachmittag über redeten sie über ganz alltägliche Dinge, über Jungs, die Schule, über die Zukunft...und zu guterletzt auch über Lasse. Als Anna am Abend vor ihrem Tagebuch saß und gerade zu schreiben anfangen wollte, meldete sich Lasse wieder. Doch diesesmal sollten seine Worte den Anstoß
zu etwas wichtigem geben. „Nummer 200212.....Lager....Ich..bin..da..“ Anna schluckte. Diese Nummer hatte sie schoneinmal von ihm gehört. Doch in Verbindung mit dem Wort „Lager“ war sie nicht mehr nur ein Wortfetzen, sondern ein Schlüssel, der ihr eine Tür öffnen konnte. >Tagebucheintrag Heute war ein guter Tag. Lasse dankte mir. Es war, als wollte er mich beruhigen.
Er fürchtet sich noch immer. Manchmal fühlt es sich an, als würde er direkt neben mir stehen, doch dann verschwimmt er wieder, als wäre er aus Glas. Ich habe heute auch wieder mit Lena geredet. Ihre Nähe tut gut, sie lässt mich nicht allein. Und sie glaubt mir. Ich weiß, dass ich Lasse weiter zuhören muss, auch wenn die Angst in mir bleibt. Am Ende hat mir Lasse noch etwas übermittelt...Er sagte wieder die
„Nummer 200212“... und diesmal in Verbindung mit „Lager“. Ich frage mich, was er damit meint. Vielleicht gibt er mir ein Zeichen, welchen Weg ich gehen muss.
Ich habe Angst, dass ich ihn verlieren könnte, wie ein Schatten, der wieder in die Dunkelheit geht. Aber mir ist bewusst: Ich darf ihn nicht allein lassen.
Ein neuer Tag brach an. Er war wie jeder andere Tag, doch in Annas Herz wuchs ein leises ziehen, als wüsste sie, dass sich etwas wichtiges, etwas großes ereignen würde. In der Schule war sie aufmerksam, aber ihre Gedanken schweiften oft ab. Sie beobachtete ihre Freunde, die lebhaft über die Sommerferien sprachen, lachten und Pläne schmiedeten. Doch Anna fühlte sich abgekoppelt, als wäre sie eine Außenseiterin, gefangen in einem anderen
Zeitstrom. Am Nachmittag, zurück in ihrem Zimmer, griff sie wieder zum Notizbuch. Seit Wochen schrieb sie alle Gespräche mit Lasse darin auf. Jedes Wort fühlte sich wie ein kleiner Fetzen eines großen Puzzles an. Das Schreibtischlicht flackerte sanft. Dann wieder leise Worte: „Kalt....Dunkel....Angst“ Anna spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Es waren mehr als nur Worte. Es war ein Gefühl, das sie mit in die Welt
von Lasse zog...ein Leben, das so fern und doch so nah schien. „Ich...fürchte...verloren..“ Anna legte ihre Hand auf das Notizbuch, als ob die so die Angst von Lasse berühren konnte, die zwischen den Worten lag. In den nächsten Tagen wurden die Informationen von Lasse mehr. Nicht nur Worte, auch Bilder erschienen in Annas Kopf. Bilder von Gängen, die kühl, ja fast eiskalt wirkten. Von Schatten. Von Wänden. Ein Mann war zu sehen in weißen Kittel, aber ohne
Gesicht. Anna konnte die Verzweiflung immer mehr spüren. Sie erahnte immer mehr, wie schwer und dunkel die Geschichte dahinter steckte. Doch manchmal flüsterte Lasse auch Botschaften, welche Anna in Angst versetzten. Botschaften wie: „Vorsicht“, „Nicht vertrauen“ und „er wartet“. An manchen Tagen kam kein Wort, kein Zeichen von Lasse. Diese Stille war schwerer als alles, was sie zuvor erlebt hatte. Im Alltag versuchte Anna normal zu bleiben. Sie lachte mit Lena, lernte für
die Prüfungen und genoss das Zusammensein mit ihren Freunden und der Familie. Und doch...niemand ahnte, dass in ihr eine stille Entschlossenheit wuchs. Eine Entschlossenheit zu verstehen....und zu helfen. >Tagebucheintrag Lasse erzählt mir immer mehr, trotzdem aber immer mit größter Vorsicht. Seine Angst und seine Trauer liegen wie ein Schatten über seinen Worten. Ich spüre so sehr, dass er etwas verbirgt. Etwas, das ihn
quält.
„Block 10“ … ein Wort, welches er kaum auszusprechen vermag. Der Doktor. Das Lager. All das ergibt alleine nichts, doch zusammen ergibt sich das Bild der Hölle.
Manchmal schweigt er tagelang, dann frage ich mich, ob ich zu neugierig bin.
Ich muss mehr herausfinden, aber ich fürchte mich auf einer Art auch davor.
Anna saß am Fenster ihres Zimmers, die Schulbücher auf dem Tisch vernachlässigt. Der Himmel war grau, das Tageslicht matt und melancholisch...genau wie ihr Gefühl, das sich immer wieder in ihr festsetzte. Die Stimmen ihrer Familie hallten gedämpft durch den Flur. Lena und sie hatten gerade zusammen Mittag gegessen. Doch während Lena fröhlich über einen neuen Film sprach, fühlte Anna sich innerlich zerrissen. Wie konnte sie ihren Alltag leben,
während Lasse, dessen Geschichte sie immer mehr ins Herz schloss, in Dunkelheit gefangen war? Wie konnte sie lachen, wenn er noch immer Angst hatte, wenn er über das Lager, Block 10 und den Doktor sprach? In der Schule hatte sich Anna bemüht, ihre Gedanken zu ordnen, doch die Gespräche mit Lena hatten sie noch offener gemacht. „Manchmal fürchte ich, dass ich mich in etwas verrenne, was mich zerstören könnte,“ gestand Anna später am Tag, als sie mit Lena im Park saß. „Dass ich ihn nicht retten kann...das ich ihn noch mehr
quäle.“ Lena nahm Annas Hand und sagte: „Du bist nicht allein. Und du machst das nicht für dich, sondern für ihn. Vertraue auf dich.“ Die Worte taten gut, aber innerlich kämpfte Anna weiter mit den Schatten, die in ihr wuchsen. >Eine geheimnisvolle Begegnung< Am Abend, als die Dämmerung bereits die Straßen umhüllte, machte Anna einen Spaziergang durch den nahegelegenen Park. Sie brauchte Abstand, Klarheit...oder einfach nur einen Moment
für sich. Plötzlich hörte sie ein leises Rascheln hinter sich. Ihr Herz raste. War da jemand? Ein Mensch? Oder vielleicht nur ein Tier? Sie drehte sich langsam um. Hinter ihr stand eine ältere Frau, die Haare grau, die Haltung leicht gebückt, als würde sie ein schweres Gewicht auf ihrem Rücken tragen. Die Frau schaute Anna freundlich, aber auch ernst an. Ihre Augen schienen mehr zu wissen, als sie sagte. „Du suchst nach Antworten?“ fragte die alte Frau, „Manchmal sind es die
Geschichten, die wir nicht hören, welche aber am lautesten Schreien. Wie ein Ring..ohne Anfang, ohne Ende.“ Anna wollte fragen, wer sie war, aber die Frau zog weiter ihres Weges und verschwand in der Dunkelheit, als wäre sie nie dagewesen. Ein Schauder lief Anna über den Rücken. War das nur ihre Fantasie? Oder ein Zeichen? >Tagebucheintrag Ich fühle mich so zerrissen. Zwischen dem Leben, das ich kenne, und der Geschichte, die ich erforsche.
Lena gibt mir viel halt, aber meine Angst kann sie mir nicht nehmen. Heute Abend begegnete ich jemanden...oder etwas. Eine alte Frau, die mehr wusste, als sie sagte. Sie sprach von Geschichten, die laut schreien. Und einem Ring. Ich weiß nicht, ob es Zufall war oder ein Zeichen. Ich habe das Gefühl, Lasse bleibt immer in meiner Nähe. Seine Worte kommen zaghaft, manchmal voller Angst. Werde ich mich verlieren wenn ich ihm
helfe? Ich habe Angst....große Angst.
Der Morgen begann wie jeder andere. Grau, kalt, unerbittlich. Doch in Lasses Brust hämmerte die Angst so laut, dass sie alles andere übertönte. Heute war es soweit. Sie hatten ihn ausgewählt. Den Namen, der wie ein Todesurteil klang. BLOCK 10 Josef, der „Doktor“, war der Name, den sie mit Flüstern aussprachen. Ein Mann, der Leben nahm, statt sie zu retten. Lasse erwachte in der dunklen Baracke, umgeben von bleichen Gesichtern, die
die Hoffnung längst verloren hatten. Sein Herz schlug schnell, die Hände schwitzten, obwohl die Luft eiskalt war. Die Nummer auf seinem Arm, 200212, brannte wie ein Mal in seiner Seele. Er wusste, was kommen würde, doch er konnte nicht fliehen. Niemand konnte entkommen. Die kalten Blicke der Wächter, die harten Befehle, das ständige Gefühl, ein Objekt zu sein....all das lastete auf ihm. Mit zitternden Fingern griff er unter sein dünnes Hemd und berührte den kleinen Ring, den er seit Jahren bei sich trug. Ein unscheinbares Stück Metall, das für
ihn alles bedeutete....ein Versprechen, ein Stück seiner Menschlichkeit, das ihm niemand nehmen durfte. Er hatte beschlossen, ihn zu verstecken. Nicht in der Baracke, nicht bei seinen wenigen Habseligkeiten. Nein, der Ring musste an einem Ort sein, wo er nicht einfach so gefunden werden konnte. Ein Ort, an dem er vielleicht eines Tages von jemanden entdeckt werden würde, der seine Geschichte hören will. Block 10, der berüchtigte Block für die grausamen medizinischen Experimente, war das letzte Versteck, was ihm einfiel. Dort, im Keller, in einer kleinen Spalte
in der Wand, dort wird er das kostbare Stück Eisen verstecken...voller Angst, aber auch Hoffnung. Die Stunden bis zum Transport zogen sich quälend langsam. Jeder Schritt, jedes Kommando war ein weiterer Nagel in seinem Schicksal. Seine Gedanken wirbelten: Würde jemand den Ring finden? Würde seine Geschichte jemals erzählt werden? Würde er je Frieden finden? Als der Moment kam, wo er abgeholt wurde, blickte er noch einmal zurück. Nicht nur auf die Baracke, das Lager, auf die unmenschlichen Bedingungen,
sondern auf sein Leben, das hier enden würde.
Er schluckte den Kloß in der Kehle herunter atmete tief durch und Ging den Gang hinunter...Richtung Ungewissheit, Richtung Tod.
In diesem Augenblick fühlte er sich schwerelos, als würde ein Teil seiner Seele schon davonfliegen. Aber tief in seinem Herzen wusste er: Der Ring würde bleiben. Und mit ihm ein Funken Hoffnung.
Dann wurde es Dunkel...
Anna saß am Fenster ihres Zimmers, das Herbstlicht fiel sanft auf ihre Hände. Der Tag war still, doch in ihr tobte ein Sturm. Immer wieder lässt Lasse sie tiefer in seine Welt eintauchen und die Nachrichten von ihm lasteten schwer auf ihr. Wie ein Paket, welches sie nicht abschütteln konnte. Schon seit Wochen spürt sie diese seltsame Verbindung, die sich langsam, aber unaufhaltsam zwischen ihr und der Präsenz aus einer anderen Zeit aufgebaut hatte. Anfangs waren es nur zaghafte
Zeichen gewesen, flüchtige Worte und Bilder, Fragmente aus einem anderen Leben. Doch inzwischen war es viel mehr. Fast wie ein Gespräch, das von beiden Seiten geführt wurde. Lena und Anna saßen nun fast jeden Tag nach der Schule zusammen und Recherchierten zu den Stückchen Informationen, die Anna von Lasse bekam. Doch es gestaltete sich als sehr schwierig. Lena verstand mittlerweile immer mehr, worum es Anna ging. Und wieso sie sich so veränderte. Und trotzdem sorgte sie dafür, dass Anna die Grenzen zum hier
und jetzt nicht verlor. Lasse gab Anna in den letzten Tagen nicht viel von sich preis. Es fühlte sich für sie schwer an und fütterte ihre Angst. „Vielleicht musst du einfach nur Kraft tanken.“ murmelte sie vor sich hin, bevor sie die Augen schloss und einschlief. Es war der nächste Nachtmittag. Anna saß wieder an ihrem Schreibtisch, das Notizbuch geöffnet, der Stift in der Hand. Sie wartete auf eine Nachricht von Lasse. Stundenlang war nichts gekommen, dann flackerte plötzlich die Schreibtischlampe. Und da war er. Lasse meldete sich
wieder: „Verstecken....schwer...“ Ein Riss in der Stille. Mehr nicht. Anna seufzte leise. Das war alles, was er ihr gab? Diese zwei Worte? „Schwer? …. Was ist schwer, Lasse?“ Keine Antwort. Minuten vergingen. Dann.. „Tragen...Angst...“ Anna biss sich auf die Lippe. Angst. Sie
spürte förmlich, wie diese Angst in der Stille ihres Zimmers lag, fast greifbar. „Ich bin hier. Du musst mir nichts sagen. Aber ich möchte wissen, was du fühlst.“ sagte sie, den Tränen nahe. Wieder Stille. Schließlich: „Mauer...versteckt...“ Anna runzelte die Stirn. Mauer? Versteckt? Ihr Herz begann, schneller zu
schlagen. „Was versteckst du, Lasse?“ Das Licht der Lampe flackerte nun nicht mehr nur leicht, es wurde kräftiger, rhythmischer. Als wenn Lasse versucht, all seine Kräfte zu bündeln, um Anna diese Antwort zu geben. „Ring...“ Dies waren die letzten Worte, die Lasse ihr heute geben konnte. Annas Hände zitterten. Sie wusste, das Lasse ihr nicht mehr geben konnte....nicht jetzt. Seine Worte waren Fragmente, Fragmente
von einer Welt, die zu schwer war, um vollständig in sinnvolle Worte gefasst zu werden. Aber sie spürte seine Verzweiflung, seinen Wunsch, dass sie ihn versteht und ihm hilft. Anna atmete tief durch und flüsterte leise: „Ich höre dich, Lasse. Ich sehe dich. Und ich verstehe dich. Du bist nicht mehr
allein.“ >Tagebucheintrag Ich glaube, langsam verstehe ich Lasse. Es scheint, ihn unglaublich Kraft zu kosten, mit mir zu reden. Aber er hat mir heute einen wichtigen Hinweis gegeben. Er sprach von einem Ring... Kann es sein....? Mauer....Ring...Verstecken..Block 10....Lager... Ist es möglich, dass....? Ich weis nicht, ob ich richtig liege. Bin ich etwa auf der falschen
Spur?
Er sprach von einer Last, die er trägt. Es fühlt sich an, als würde er in der Dunkelheit tappen, und ich bin sein Licht.
Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet, aber ich kann ihn nicht allein lassen.
Ich muss stark sein. Für ihn. Für uns.
Heute war einer dieser Tage, an dem sie gespürt hatte, das etwas kommen würde. Nicht sofort. Nicht laut. Aber da war ein Drängen, ein flirren in der Luft, welches sie seit Wochen kannte. „Keller...Wand...kalt...“ Anna hielt den Atem an. Wieder diese Worte. Die Wand. Der Keller. Immer wieder tauchten sie auf. Aber diesmal war da etwas anders. Etwas bitteres in seiner Stimme, als würde ein alter Schmerz
durchbrechen. Sie antwortete nicht sofort. Stattdessen schloss sie die Augen und ließ das Wort „kalt“ auf sich wirken. Und mit einem Mal war es nicht mehr nur ein Wort. Anna konnte es fühlen. Diese Kälte, die nichts mit dem Wetter zu tun hatte. Es war eine innere Kälte. Von Hoffnungslosigkeit. Von Einsamkeit. Dann ein weiteres Wort: „Verloren...“ „Wer ist verloren, Lasse?“ flüsterte sie
in den Raum hinein. Kurze Zeit später kam die Antwort: „Ich...“ Anna war aufgewühlt und schluckte schwer. Sie hatte das Gefühl, die Tür habe sich geöffnet. Nicht weit. Nur einen Spalt. Aber weit genug, um zu erahnen, was dahinter lag. „Ich bin hier, ich höre dir zu.“ sagte sie leise. „Schmerz...lang...dunkel...“ hauchte das
Flüstern. Dann: „Block 10....ich....dort...“ Anna erschrak. Ein Zittern ging durch ihren Körper. Lasse verband sich selbst mit diesem Ort. Sie war sich dessen sehr sicher. Block 10....das Herz des Schreckens. Der Ort, der bei ihrer Nachforschung in den Geschichtsbüchern nur in nüchternen Sätzen gesprochen wurde, aber dessen Schatten tiefer reichte, als Worte es je erfassen konnten. Doch da war noch
etwas. Eine letzte Nachricht an diesem Abend: „Hoffnung....du.....“ Anna saß lange einfach nur da. Tränen liefen ihr durchs Gesicht. Was immer Lasse in diesem Block versteckt hatte...ein Teil seiner selbst, ein Symbol, ein Stück Identität...es war wichtig. Nicht für sie. Für ihn. Er brauchte sie. Nicht als Werkzeug, sondern als Mensch, der ihn sieht. Der ihn
erkennt. Noch hatte sie keine Antworten, doch zum ersten mal hatte sie das Gefühl, dass sich all die Fragmente langsam zusammenfügten. >Tagebucheintrag Heute war anders. Ich habe ihn stärker als sonst gespürt. Nicht in Worten. Nicht nur, Sondern wie ein Schatten, der mich berührt hat. Er sprach vom Keller. Von der Wand. Von sich selbst. Von dem Ring. Lasse ist nicht mehr nur ein Flüstern. Er ist da.
Verloren. Gefangen.
Und ich glaube, etwas in ihm hat begonnen, mir zu vertrauen.
Block 10...ich habe Angst vor dem, was ich dort finden könnte. Aber ich habe mehr Angst davor, Lasse allein zu lassen.
Ich weis nicht, warum...aber ich habe das Gefühl, wenn ich aufgebe, wird er niemals Frieden finden.
Ich darf nicht aufgeben. Nicht jetzt.
Die Tage vergingen wie in einem trüben Nebel. Der Unterricht rauscht an Anna vorbei, Worte wurden zu Geräuschen, Aufgaben zu Mustern auf Papier. Ihre Lehrer begannen sich zu wundern, ihre Mutter klopfte öfter an die Tür und fragte, ob alles in Ordnung sei. Doch Anna antwortete immer gleich: „Ich bin nur müde.“ Nur Lena ließ sich davon nicht täuschen. „Anna, ich kenne dich. Du bist nicht müde. Du bist bei ihm. Was hast du
herausgefunden?“ Sie saßen zusammen auf einer Parkbank, ihre Füße in das nasse Herbstlaub gestreckt. Der Himmel war grau, die Luft feucht. Lena hatte ihre Kapuze tief ins Gesicht gezogen, während Anna auf einen kleinen Stein vor sich starrte, als könnte er Antworten geben. „Ich...ich hab wieder geträumt.“ sagte Anna schließlich leise. Lena hob den Kopf. „War er wieder da?“ Anna
nickte. „Was hat er gesagt?“ fragte Lena aufgeregt. Anna zögerte. Dann: Nicht viel. Aber...genug. Ich glaube, er war in Block 10. Irgendetwas ist dort. Etwas Wichtiges.“ Lena schwieg lange. „Du meinst....in Auschwitz, oder?“ Anna nickte wieder. Lena schob die Hände in ihre Jackentasche. „Und du willst da hin,
oder?“ „Nein“,sagte Anna. Dann flüsterte sie: „Doch. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Es fühlt sich nicht an wie ein Wunsch. Es fühlt sich an wie ein Ruf.“ In der folgenden Nacht saß Anna wieder an ihrem Schreibtisch. Vor ihr lag der Laptop. Sie hatte sich stundenlang durch Texte gelesen, Bilder angesehen, Artikel durchforstet. Doch je mehr sie las, desto schwerer wurde ihr das Herz. Block 10 war kein Ort. Es war ein Abgrund. Dort hatten Ärzte ihre Menschlichkeit aufgegeben. Dort war das Leiden lautlos gewesen, verborgen hinter Betonwänden.
Männer, Frauen, Kinder....Namenlosigkeit in Serie. Und irgendwo zwischen diesen dunklen Geschichten begann Anna zu spüren: Er war wirklich dort! Sie legte die Stirn auf ihre Arme, atmete tief und murmelte: „Lasse....was hast du dort gesehen? Was hast du dort verloren?“ Das Licht der Lampe flackerte kurz. Dann...ein Windhauch, obwohl das Fenster geschlossen war. Und dann kam ein weiteres
Flüstern. Nicht laut. Nicht deutlich. Aber es war da. „feuer...Stein...ich....innen...kalt...“ Anna spürte, wie sie Gänsehaut bekam. „Du warst dort...“ flüsterte sie. „Ich...war...“ antwortete Lasse. Anna fragte weiter: Was hast du verloren, Lasse?“ Eine lange Pause. Dann kam die Antwort. Und diese
schnürte ihr das Herz zu. „MICH...“ Sie weinte leise. Nicht laut. Die Tränen zeichneten kleine Spuren in ihrem Gesicht, während sie noch über der Tastatur hing. In dieser Nacht träumte sie. Ein langer, dunkler Flur. Weiße Wände. Geräusche, die keine Namen hatten. Ein Klopfen. Immer und immer wieder. Dann eine Wand. Alt. Bröckelnd. Und aus der Wand: Blut. Sie erwachte
schweißgebadet. >Tagebucheintrag Ich glaube, ich beginne zu verstehen. Nicht alles, aber genug, um zu spüren, wie tief Lasses Schmerz reicht. Er war dort. Er hat alles verloren. Vielleicht sogar sich selbst. Block 10 ist kein Ort, den man besucht. Es ist ein Ort, den man überlebt. Oder eben nicht. Meine Angst wird größer und nimmt ungeahnte Dimensionen ein. Ich habe keine Angst vor ihm, sondern vor dem,
was ich finden könnte. Oder nicht finden werde. Aber ich kann nicht mehr wegsehen. Ich muss weitergehen
Der Tag begann mit Sonnenlicht, das durch die halb geöffneten Vorhänge auf Annas Gesicht fiel. Normalerweise hätte sie sich über die Wärme gefreut, vielleicht sogar ein Lied vor sich hin gesummt, als sie sich für die Schule fertig machte. Doch dieser Morgen war anders. Ihre Träume hatten Spuren hinterlassen...wie ein Abdruck in frischem Zement. Sie stand auf, ging ins Bad und starrte lange in den Spiegel. Ihre Augen hatten dunkle Ringe, als hätte sie die Nächte durchgemacht. Ihre Haut wirkte blass.
Aber es war mehr als blße Müdigkeit. Es war, als hätte sich etwas in ihr verschoben. In der Schule lief alles an ihr vorbei. Die Lehrerin redete über politische Systeme, während Anna auf eine Kritzelei in ihrem Heft starrte: ein Kreis, um den sie unbewusst immer wieder Linien gezogen hatte. Erst, als Lena sie anstieß, blickte Anna auf. „Du zeichnest seit 10 Minuten einen Kreis.“ sagte Lena leise. Anna blinzelte. Der Kreis erinnerte sie an etwas....einen Ring? Aber
warum? Sie wollte gerade antworten, als sich plötzlich alles veränderte. Der Klassenraum wurde dunkler. Die Geräusche verschwammen. Die Stimme der Lehrerin klang fern, wie unter Wasser. Und dann...war sie nicht mehr dort. Vor ihr erschien ein Gang. Weiß gekachelt. Still. Dann Schritte. Ein Junge, etwa in ihrem Alter, vielleicht auch älter. Die dunklen Haare, kurz und durcheinander. Er ging durch diesen
Gang. Barfuß. Ein dünnes Hemd, das an ihm herunterhing. Er zitterte. Sein Gesicht und seine Schultern eingefallen. Die Augen müde....und leer. „Lasse?“ keuchte Anna. Der Junge blieb stehen und wandte sich um. Er schaute sie direkt an. Seine Augen...so blau, so voller Traurigkeit. Dann hob er zögerlich die Hand und deutete auf eine Tür am Ende des Flurs. Seine Lippen bewegten sich. Kein Laut. Nur ein Hauch: „Du
musst...“ Dann...Dunkelheit. „ANNA! HEY!“ Sie schrak auf. Lena hielt sie an den Schultern, Panik im Blick. „Was ist los mit dir? Du warst plötzlich total weg. Hast du mich überhaupt gehört?“ Anna starrte sie an. Atmete schwer. „Ich...ich weiß nicht...ich glaube, ich habe ihn gesehen. Nicht geträumt. Nicht gespürt.
Gesehen.“ Lena fragte vorsichtig: „Was meinst du mit GESEHEN?“ In Annas Gesicht waren Tränen zu sehen. „Er war da. Nicht hier, aber...irgendwie da. In einem Gang...mit weißen Kacheln. Und...und ich glaube, ich war bei ihm.“ Lena wirkte, als wollte sie widersprechen, doch dann schloss sie einfach nur den Mund und sah ihre Freundin lange an. Als sie nach Hause kam, zitterten ihre Hände noch immer. Sie war erschöpft,
als hätte sie die ganze Nacht gearbeitet. Ihre Mutter fragte, ob sie krank sei, aber Anna winkte nur ab und ging in ihr Zimmer. Dort setzte sie sich auf ihr Bett, die Hände im Schoß gefaltet. „Lasse...“, flüsterte sie. „Was hast du mir gezeigt?“ Das Licht der Lampe flackerte. Dann war wieder Stille. Und doch war da ein Gefühl...wie ein Nachhall. Ein Nachbeben. Der Blick des Jungen ließ sie nicht
los. >Tagebucheintrag Ich hab ihn gesehen. Ich bin mir sicher. Nicht geträumt. Nicht vorgestellt. Ich war dort. Wo auch immer dieses Dort ist. Sein Blick hat sich in mir eingebrannt. Er war nicht böse. Er war...leer. Voller Sehnsucht. Was will er mir zeigen? Was verbirgt sich hinter dieser Tür im Gang? Ich glaube, ich nähere mich etwas. Und es macht mir Angst. Aber ich kann nicht
aufhören. Ich will nicht mehr zurück. Ich bin mittendrin.
Der Nachmittag dämmerte in weichem Licht, als Lena an Annas Tür klingelte. Es war einer dieser Tage, an denen die Welt von außen betrachtet vollkommen wirkte...Vögel zwitscherten, die Bäume blühten und irgendwo in der Nachbarschaft lief ein Rasenmäher. Doch hinter der Tür zu Annas Zimmer lag eine andere Realität. Als Lena eintrat, fiel ihr sofort auf, dass das Fenster geschlossen und die Vorhänge halb zugezogen waren. Das Licht der Schreibtischlampe warf einen weichen Schein auf das Notizbuch,
welches offen auf Annas Bett lag. „Wow...es ist echt...still hier.“ murmelte Lena. Anna sah auf. Ihre Augen hatten einen Ausdruck, den Lena noch nie bei ihr gesehen hatte...etwas zwischen Erschöpfung, innerer Unruhe und...Erwartung. „Danke, dass du gekommen bist“ sagte Anna leise. Sie setzten sich nebeneinander auf das Bett. Eine Weile war da nur das Ticken der Wanduhr. Doch man konnte die Aufregung förmlich
spüren. Heute sollte es passieren. Lena sollte Lasse begegnen. Die beiden Mädchen gingen nocheinmal alle Notizen durch, welche Anna in ihr kleines Notizbuch geschrieben hatte. Und sie sprachen über die bisherigen Ergebnisse der Recherche. „Ich hab Angst“ flüsterte Anna. „Nicht vor ihm. Sondern davor, was passiert, wenn ich zu tief gehe. Wenn ich Dinge sehe, die ich nicht mehr vergessen kann.“ Lena nahm ihre Hand und sagte: „Dann siehst du sie nicht
allein.“ Später, als es draußen dunkler wurde, bereiteten sie alles vor und setzten sich nebeneinander auf das Bett. „Wenn du etwas fühlst....sag es mir“. flüsterte Anna. Minuten vergingen und die Stille wurde schwer, fast greifbar. Dann: ein Kältestrom. Das Flackern der Schreibtischlampe. Anna hielt den Atem an. Sie spürte ihn.
Näher als je zuvor. Bilder schossen in ihren Kopf. Blitzlichter. Ein Flur. Eine Tür. Hände, die zitternd etwas hielten....einen kleinen, matten Ring. Ein Herzschlag, schnell und panisch. Stimmen auf deutsch: „Los, schneller!“ Anna riss die Augen auf. „Er...er hat Angst. Lena, er hatte solche Angst. Und er...er versteckt etwas. Oder versteckte.“ Lena schaute Anna irritiert an. „Was meinst du?“. Lenas stimme war kaum mehr als ein
Flüstern. „Ich habe den Ring gesehen....aber ich...ich versteh es nicht. Es war nur ein Bild. Kein Wort. Nur Panik.! Dann hörten sie es beide. Ein leises Kratzen. Wie Fingernägel an einer Wand. Direkt neben dem Schrank. Lena fuhr zusammen. „War das -?!“ Anna stand langsam auf. Ihre Beine zitterten. Sie ging zum Schrank und zog die Tür auf. Nichts. Nur Kleidung. Aber da war dieses Gefühl...ein Frösteln,
das durch jede Faser ihres Körpers kroch. Sie drehte sich um. An der Wand hinter ihr, nur für den Bruchteil einer Sekunde, stand etwas geschrieben. Kaum sichtbar, schwach wie Nebel, dann wieder verschwunden: „Ich musste verstecken.“ Anna taumelte zurück. „Er...er will, dass ich es
finde“ >Tagebucheintrag Ich habe ihn gesehen. Nicht nur gespürt. Nicht nur gefühlt. Ich habe gesehen, was er gesehen hat. Einen Gang. Eine Tür. Hände. Einen Ring. Verzweiflung. Und zum ersten mal habe ich ihn verstanden. Seine Worte waren keine Worte. Sie waren Panik, Angst, Erinnerungen. Er hat etwas versteckt. Und ich glaube...er will, dass ich es finde. Nicht, weil es wertvoll ist, sondern weil es ihn befreit. Lena hat alles gesehen. Gehört.
Gefühlt. Ich bin nicht mehr allein.
Ich glaube, es beginnt jetzt erst wirklich.
Die Sonne war längst aufgegangen, doch Anna hatte kaum ein Auge zugemacht. Immer wieder hatte sie sich die flüchtige Vision vor Augen geführt: Der Gang, die zittrigen Hände, der Ring. Und vor allem die Schrift an der Wand: Ich musste verstecken. Es ließ sie nicht mehr los. Lena saß ihr gegenüber am Frühstückstisch, die Hände um eine dampfende Tasse Tee geschlossen. Ihre Augen waren gerötet, ob vor Müdigkeit oder wegen der aufwühlenden Ereignisse des Vorabends, wusste Anna nicht
genau. „Ich hab drüber nachgedacht“ begann Lena leise. „Was, wenn das, was du gesehen hast, nicht nur eine Erinnerung ist? Sondern eine Art Wegweiser?“ Anna sah sie an. „Du meinst, ein Hinweis?“ Lena nickte. „Er will dir etwas zeigen. Vielleicht etwas, das mit seinem Tod zu tun hat. Oder mit dem, was er nicht abschließen konnte.“ Anna schwieg. Der Ring. Die Worte. Die
Panik. „Es war, als hätte ich für einen kurzen Moment in seine Seele gesehen“, flüsterte sie. „Aber nur ganz kurz. Wie ein Riss in der Zeit.“ Lena stand auf und ging zum Fenster. Draußen sang ein Vogel. Ein fast zynisches Bild angesichts der Dunkelheit, die in Annas Brust wohnte. „Ich habe eine Idee“, sagte Lena nach einer Weile. „Lass uns herausfinden, ob es einen Jungen namens Lasse wirklich gab. Vielleicht...kann man etwas in alten Archiven finden. Zeitungsberichte,
Opferdatenbanken...irgendetwas.“ Anna zog die Stirn zusammen. „Aber er hat mir doch keinen Nachnamen genannt. Nur...die Nummer 200212.“ Lena drehte sich langsam um. „Dann suchen wir nach der Nummer!“ Am Nachmittag saßen sie in der Stadtbibliothek, in einem stillen Nebenraum, ihre Laptops aufgeklappt. Anna war nervös. Die Bildschirme flackerten im dumpfen Licht des Raumes, der Staub tanzte im Schein der Lampen. Sie fühlte sich wie ein Eindringling in etwas, das lange hätte ruhen
sollen. Sie begannen mit allgemeinen Recherchen: KZ-Opfer, Häftlingsnummern, medizinische Experimente, Lagerkarteien. „Block 10“ murmelte Anna irgendwann. „Das ist der Ort, den ich in den Bildern gesehen habe. Ich hab's irgendwie...gewusst. Ich hatte es nur noch nicht verstanden.“ Lena tippte die Worte ein. Block 10, medizinische Experimente,
Konzentrationslager. Die Ergebnisse waren erschütternd. Anna lehnte sich zurück, ihre Lippen bebten: „Gott...“ fuhr es zitternd aus ihrem Mund. "Sie haben dort Versuche gemacht. Sterilisation, Infektionen, Drogen. Oft ohne Betäubung“ las Lena leise. „Viele Kinder waren darunter.“ Zum ersten Mal rollten Lena Tränen durch das Gesicht. Anna fühlte einen kalten Schauder über ihren Rücken laufen. Sie schloss für einen Moment die Augen...und da war
er. Nicht als Gestalt, nicht als Stimme. Sondern als Gefühl. Als dumpfer Schmerz in ihrer Brust. Als Kälte, die sich an ihr Herz legte. Angst, Scham und eine tiefe, bohrende Schuld. Als sie die Augen öffnete, war ihr Blick klarer als sonst. „Er war einer von ihnen“, flüsterte sie. „Ein Kind, vielleicht etwa 16 oder 17 Jahre alt. Und irgendetwas ist damals passiert. Deshalb musste er den Ring verstecken.“ Am Abend, zurück in ihrem Zimmer,
legte Anna das Notizbuch vor sich hin. Sie nahm den Stift, schlug die erste freie Seite auf und begann zu schreiben. Nicht an Lasse, sondern an sich selbst. Doch kaum hatte sie den ersten Satz niedergeschrieben, flackerte die Schreibtischlampe. Einmal. Zweimal. Dann war da wieder dieses Summen in der Luft. Ein leichtes Vibrieren, wie das Rauschen von Stimmen unter Wasser. Anna legte den Stift weg und setzte sich aufrecht hin. Und wartete. Es dauerte. Minuten vergingen. Dann, aus der Tiefe kam etwas. Keine Worte.
Keine Bilder. Sondern ein Laut...ein einzelner, verzerrter Klang. „V...rzeih...“ Die Stimme war brüchig. Zerrissen. Schmerzhaft. Anna schnappte nach Luft. Es war, als würde ein brennender Nebel durch sie strömen. Sie fühlte Trauer. Schuld. Hoffnung. Und etwas anderes...Flehen. Vergebung. Nicht für das, was er getan hatte. Sondern für das, was er nicht hatte
verhindern können. >Tagebucheintrag Er war wieder da. Wieder. Und heute...war er mir näher als je zuvor. Nicht als Bild. Nicht als Vision. Sondern als Gefühl. Als ob er in mir wohnt, in meinen Gedanken. Er hat mich nicht erschreckt. Nicht wirklich. Aber ich habe Angst. Nicht vor ihm, sondern vor der Wahrheit. Block 10, Experimente, Kinder...sein Schweigen ist lauter als alle Worte. „Verzeih“ hat er gesagt. Ich weiß nicht, wofür. Aber ich glaube...ich werde es
erfahren.
Und ich glaube auch...ich werde ihm verzeihen können. Wenn ich den Weg finde. Wenn ich den Ring finde. Wenn ich ihm Frieden bringe.
Der Regen prasselte gegen das Fenster, rhythmisch, ja beinahe beruhigend. Anna lag auf dem Bett, die Decke bis zum Kinn gezogen. Draußen war die Welt grau, die Bäume schwankten im Wind, wie trauernde Schatten. Sie lag ruhig da, doch in ihr tobte ein Sturm. Sie hatte heute nicht zur Schule gehen können. Ihre Gedanken waren zu laut gewesen. Lenas besorgte Nachrichten hatte sie nur kurz beantwortet. „Ich brauche heute Zeit. Ich schreibe dir
später.“ Annas Mutter war auf einer Konferenz, ihr Vater wie immer im Büro. Das Haus war still, nur das Ticken der Wanduhr, das tropfende Geräusch vom Badezimmerhahn waren zu hören. Doch etwas fühlte sich anders an. Es war nicht das erste mal, dass sie Lasse spürte. Aber diesmal war es nicht nur die Ahnung, nicht nur das schneidende Gefühl in der Brust oder das Echo vergangener Schreie. Diesmal war es ein Rufen. Drängend.
Zerrissen. Und dann war er da. Und Anna fror. Sie richtete sich langsam auf und setzte sich an die Bettkante. „Bist du da?“ flüsterte sie. Keine Antwort. Aber das Licht der Schreibtischlampe begann zu flackern. Nicht wild. Sondern rhythmisch. Zwei kurze Blitze. Pause. Ein langer. Wieder zwei kurze. Dann
einer. Anna stand mit zitternden Knien auf und ging zum Spiegel. Er war vollständig beschlagen. Aber langsam begann sich etwas darin zu formen. Nicht mit einem Finger gezogen...es war, als würde der Nebel sich selbst zur Seite schieben. Ein Name. LASSE
Anna schnappte nach Luft. Ihre Hand bebte, als sie das Glas berührte. Es war
eiskalt. Plötzlich durchzuckte sie ein Schmerz, ein Schrei. Aber nicht ihrer. Sie hörte ihn nur in sich. Spürte ihn. Ein Raum. Kalt. Steinwände. Ein Junge, zusammengesunken. Die Hände über dem Kopf. Er weinte nicht. Er konnte es nicht mehr. Sein Körper war still, aber seine
Augen...diese Augen brannten in ihr. Hohl, schmal, vor Hunger eingefallen, aber wach. Wach vor Angst. Dann schwere Schritte. Eine Tür, die sich öffnete. Licht, das ihn blendete. Ein Schatten im Türrahmen. „LOS, DU BIST DRAN!“ Anna taumelte zurück. Der Spiegel splitterte nicht, aber sie sah, wie sich im
Glas eine dunkle Silhouette zeigte...für den Bruchteil einer Sekunde. Ein verzerrtes Gesicht. Kein Monstrum. Kein Dämon. Nur Schmerz. Reiner, unverhüllter Schmerz, Dann war es vorbei. Die Luft wurde wieder leichter. Die Schatten krochen zurück an ihre gewohnten Plätze. Die Lampe leuchtete ruhig. Doch Anna weinte. Ohne zu wissen, warum genau. Und irgendwo in sich hörte sie ihn: „Angst...so kalt...muss
weg...“ Nicht mehr. Kein Zusammenhang. Nur diese Bruchstücke. Aber Anna wusste nun: Er war nicht nur ein Geist, der ihr Rätsel aufgab. Er war ein Mensch gewesen. Ein Kind. Ein Opfer. Und seine Schreie hatten nie einen Ort gefunden, an dem sie gehört worden waren. Bis jetzt. >Tagebucheintrag Ich habe ihn heute wieder gesehen.
Gesehen, was hinter seinen Augen liegt. Sein Schmerz hat sich in mich gegossen, wie Blei. Und es tut so weh. So sehr.
Ich habe das Gefühl, als würde ich langsam zu ihm werden. Seine Bilder in meinem Kopf, seine Worte in meinem Herzen. Ich habe Angst, was das mit mir macht. Aber ich kann ihn nicht allein lassen. Nicht mehr.
Ich glaube, er vertraut mir nun vollkommen. Und ich fürchte, das bedeutet, das ich Dinge sehen werde, die ich nie sehen wollte.
Wochen vergingen, in denen Anna merkte, dass die Kräfte von Lasse langsam schwanden. Er gab ihr nicht mehr so viel, und doch, ließ er sie wissen, das er immer noch da war. Anna saß auf ihrem Bett, die Knie an sich gezogen, und starrte auf die dunkle Ecke ihres Zimmers. Sie konnte Lasses Worte nicht als ganze Sätze fassen....nie. Es waren Bruchstücke, rohe Fetzen aus Schmerz und Angst. „...Hilfe...“ , „...Frieden...“ , „...nicht gehen...“ , „...Ring...“ , „...Block
10...“ Diese Fragmente hatten sich in Annas Herz gebohrt, wie eine Melodie, die nicht verstummen wollte. Sie verstand immer mehr, das Lasse mehr wollte als nur gehört werden. Er bat sie....er flehte sie an, ihm zu helfen. Anna fühlte, wie die Unruhe in ihr hervorkam. War sie bereit für das, was er von ihr verlangte? Konnte sie überhaupt helfen? Was bedeutete es, einer Seele Frieden zu schenken, die so tief in Dunkelheit gefangen war? Die Verzweiflung von Lasse lag greifbar in der Luft. Anna konnte es fast fühlen, wie ein schwerer Stein, der auf ihrer
Brust lag. Jedes Wort, was sie empfing, schien von seiner Qual erzählt zu sein....von der Angst vor einem namenlosen „Doktor“, vor dem „Befehl“, vor seinem unausweichlichen Tod. Sie spürte auch die Liebe, die er noch für das Leben hatte, trotz allem. Und den Schmerz, den Verlust von allem, was menschlich und wertvoll war. Annas Augen füllten sich mit Tränen und sie fühlte, wie ihr Herz zersprang. Nicht nur aus Mitleid, sondern auch, weil sie wusste, das Lasse ihr vertraute, auch wenn er nur bruchstückhaft sprach. Und dieses Vertrauen war ein Geschenk...schwer wie eine Bürde, aber
kostbar. Ihre Gedanken rasten: „Wie kann ich ihm helfen? Wie finde ich den Ring? Was, wenn ich scheitere?“ Die Antworten schienen unerreichbar, verborgen im Dunkel von Block 10, dem Ort seines letzten Leidens. Anna merkte, dass die Zeit drängte. Die zarten, aber klaren Impulse, die Lasse ihr schickte, waren keine Zufälle mehr. Ihre Gedanken kehrten zurück zu Lena, zu ihrem sicheren Hafen. Sie musste sich aussprechen, den Schmerz teilen, um nicht daran zu
zerbrechen. >Tagebucheintrag Ich habe endlich verstanden, dass Lasse mich um Hilfe bittet. Er kann nicht mit ganzen Sätzen sprechen, nur durch Bruchstücke...Worte voller Schmerz und Verzweiflung. Es ist, als würde er durch die Zeit schreien, gefangen in einer Dunkelheit, die ich mir kaum vorstellen kann. Ich fühle seine Angst, seinen Kummer, die Wunden, die nie heilten. Und ich fühle eine tiefe Liebe zu seinem Flehen...eine Liebe zum Leben, die
selbst der Tod nicht zerbrechen kann.
Ich will und werde nicht weglaufen, denn Lasse vertraut mir. Ich darf ihn nicht allein lassen.
Die Verzweiflung in Anna wuchs immer und immer weiter. Lena und sie recherchierten seit Tagen und Wochen ohne Pause. Zeitungsartikel, Bücher, Onlinedatenbanken. Und es schien unausweichlich, dass sie diesen Ort besuchen müssten...diesen Ort des Schmerzes, der Trauer...diesen Ort des Todes. „Lena, ich habe das Gefühl, wir drehen uns im Kreise.“ sagte Anna traurig. Lena holte tief Luft. Sie wusste mittlerweile, was in Anna los war. Seit
diesem Abend, an dem sie Lasse das erste mal wirklich wahrnahm. Anna flüsterte: „Was soll ich tun? Wie kann ich ihm helfen? Es ist, als würde er auf etwas warten...etwas, was mit dem Ring zu tun hat. Ich verstehe es nicht.“ Lena schaute sie verständnisvoll an, dann sagte sie: Weißt du, manchmal sind es solche Gegenstände, solche Symbole, die noch an der Welt hängen und eine Seele nicht loslassen. Der Ring zum Beispiel...so etwas kann viel bedeuten, eine Erinnerung, ein Versprechen, ein Teil von ihm
selbst.“ Anna sah sie überrascht an. „Du meinst, wenn ich den Ring finde...und vielleicht auch sein Grab oder ein Zeichen von ihm....könnte das ihm helfen?“ „Genau“ antwortete Lena und drückte Annas Hand. „Es ist, als würde die Seele erst dann Ruhe finden, wenn die Welt da draußen mit ihr Frieden schließt. Wenn wir seinen Ring finden und seinen letzten Ort kennen, dann kann das ein Anker sein, um ihn loszulassen.“ Anna schluckte schwer, während ein Gefühl von Hoffnung und Verantwortung
zugleich in ihr aufstieg. „Aber wie sollen wir das schaffen? Wir wissen ja nichteinmal, wo wir anfangen sollen.“ sagte Anna traurig. Lena lächelte schwach. „Wir finden einen Weg...zusammen. Du bist nicht mehr allein, Anna. Und manchmal reicht es, einfach den ersten Schritt zu wagen, auch wenn man ihn nicht versteht.“ Die beiden Mädchen schwiegen eine Weile und in Annas Herz keimte eine neue Kraft. Vielleicht war da ein Weg. Vielleicht
konnte sie Lasse wirklich helfen. Und vielleicht...nur vielleicht, würde seine Seele endlich Frieden finden. >Tagebucheintrag Heute habe ich mit Lena gesprochen. Es war schwer, alles herauszulassen. Und es ist schwer, zu wissen, wie zerbrechlich die Verbindung zu Lasse ist, wie dunkel und rätselhaft. Aber ihre Worte haben mich berührt. Ein Ring, ein letzter Ort...das könnte wirklich der Schlüssel sein. Ich werde es schaffen, auch wenn meine
Angst groß ist. Aber ich werde es schaffen...für Lasse. Für mich.
Ich bin nicht mehr allein.
Der Morgen war kühl und grau, als Anna und Lena sich in der kleinen Stadtbibliothek trafen. Sie hatten sich verabredet, um ihre Suche und Recherche zu vertiefen. Die schweren Holztische, die hohen Bücherregale und der Geruch von altem Papier schufen eine Atmosphäre, die Anna überraschend beruhigte. Hier, zwischen den staubigen Seiten und den Geschichten längst vergangener Zeiten, hofften sie, ein Stück von Lasse zu finden...das letzte Puzzleteil, welches seine Seele endlich zur Ruhe bringen
könnte. Lena hatte einen Rucksack voller Notizbücher und vollgeschriebenen Zetteln mitgebracht. „Ich habe letzte Nacht nicht wirklich viel geschlafen“ gestand sie mit einem müden Lächeln. „Ich habe versucht, alle Informationen, die wir haben, zu ordnen und zusammenzutragen. Vielleicht finden wir heute irgendetwas, was uns weiterhilft.“ Anna nickte und flüsterte: „Ich glaube, Lasse will, dass wir verstehen, was ihm passiert ist. Das wir seine Geschichte
erzählen.“ Sie durchblätterten gemeinsam alte Zeitungsartikel, historische Berichte über das Lager, über Block 10. Eine Straf- oder Isolationszone, sagen die Dokumente. Menschen, die dort festgehalten wurden, verschwanden oft spurlos. Die Stunden vergingen, während sie Seite um Seite durchforsteten. Lena suchte zwischenzeitlich auch die Onlinearchive und Datenbanken ab, welche sie sich von der Bibliothekarin haben geben
lassen. Und so langsam bekamen die beiden Mädchen ein Bild von Lasse... Ein Junge, Häftlingsnummer 200212, ein Name, der in keinem offiziellen Verzeichnis auftauchte. Jemand, der den Mut hatte, trotz Angst kleine Zeichen zu hinterlassen...Hinweise, die Anna und Lena jetzt zu entschlüsseln versuchten. „Er war 16, als er dort hin kam.“ flüsterte Anna und sah zu Lena. „Jung, vielleicht wie wir. Mit Hoffnungen und Träumen, die dort zerstört
wurden.“ Lena nickte, die Augen voller Tränen. „Und dieser Ring...vielleicht war es sein letztes Stück Menschlichkeit, das einzige, was ihm keiner nehmen konnte.“ Anna fühlte, wie sich die Schwere in ihrer Brust verdichtete. Dieses Stück aus Eisen und Erinnerung war für Lasse mehr als nur ein Gegenstand. Es war sein letzter Funke Leben, der ihn an die Welt band. „Was, wenn wir ihn wirklich finden? Anna schluckte. „Was, wenn wir ihm damit wirklich helfen
könnten?“ Lena nahm Anna in den Arm und sagte: „Dann wird er nicht mehr verloren sein. Dann wird seine Geschichte weiterleben...durch uns.“ Ein leises Flüstern schien durch den Raum zu ziehen, ein Hauch von Hoffnung, der die Dunkelheit berührte. >Tagebucheintrag Lena und ich haben heute die Puzzleteile angefangen, zusammenzufügen. Es ist, als würden wir Lasse Stück für Stück
kennenlernen...diesen Lasse, der so viel gelitten hat.
Es ist schwer, so viel Schmerz in nur wenigen Zeilen zu spüren. Aber es macht mich auch stärker. Ich will seine Geschichte erzählen. Und ich will, dass er Frieden findet.
Ich glaube, wir sind ihm schon sehr nahe.
Es war, als würde die Welt den Atem anhalten. Der Himmel weinte an diesem Tag und der Regen schien nicht nur die Straßen zu benetzen, sondern auch die Haut zu durchdringen. Nach wochenlangen Nachforschungen, Recherchen und schlaflosen Nächten standen sie nun hier...vor den Toren des Archivs der ehemaligen Lagerverwaltung. Ein Ort, der Erinnerung atmete. Ein Ort, an dem man das Echo der Vergangenheit in den Wänden spüren
konnte. Anna war nervös. Ihre Hände zitterten leicht, als sie mit Lena die letzten Notizen durchging. Sie hatten in den letzten Tagen unermüdlich gearbeitet. Sie hatten Briefe gelesen, alte Aufzeichnungen verglichen, Überlebendenberichte durchforstet. Sie hatten Spuren verfolgt, Hinweise gesammelt, kaum geschlafen und gegessen, getrieben von einer Sehnsucht, die weit über ihre jugendliche Vorstellungskraft hinausging. Heute sollte sich alles
verändern. Sie betraten das Archiv. Ein Mann, dessen graues Haar und die faltige Haut Geschichten aus einer anderen Zeit erzählten, begrüßte die beiden Mädchen und führte sie in ein staubiges Büro. Dort saß ein älterer Herr mit silbernen Haar und ernsten Augen. Er war Historiker, spezialisert auf die Nachkriegsaufarbeitung des Lagers. Anna breitete all die Notizen vor sich aus, die Lena und sie gesammelt hatten. Ganz oben lag ein Zettel, unscheinbar und doch so kraftvoll. Auf ihm stand
geschrieben: 200212 „200212“ murmelte der Mann. „Ich glaube, ich habe diese Nummer schoneinmal gelesen“ Er blätterte durch eine vergilbte Akte, dann holte er ein weiteres, schweres Buch aus dem Regal...eine Sammlung von Interviews, die in den 1950ern mit Überlebenden geführt wurden. Seine Finger zitterten leicht, als er eine Stelle markierte und vorlas:
>Ich erinnere mich an einen Jungen, Lasse hieß er. Er war vielleicht 15 oder
16 Jahre alt, sehr schmal, immer mit einem Stück Stoff in der Hand, als hätte er etwas darin versteckt. Er sprach kaum, aber seine Augen...sie waren wie stumme Schreie. Als sie ihn für Block 10 auswählten, wusste jeder, dass er nicht zurück kommen würde. Er weinte nicht. Er meinte nur, er hätte noch etwas zu erledigen. (Auszug aus dem Zeitzeugenbericht von Häftling Ernst W. - 1954)< Anna stockte der Atem. Ihr Blick fiel auf Lena, die den Tränen nahe war. Der Historiker blätterte weiter. „Es gibt
noch einen Bericht. Von einem ehemaligen Aufseher, anonym geblieben. Er wurde nie verurteilt, aber 1971 hat er ein Geständnis abgelegt, das nie veröffentlicht wurde. Hier steht:“ >Block 10 war kein Ort für Kinder. Aber wir bekamen manchmal solche Anweisungen. Der Junge mit der Nummer 200212...er fiel auf. Nicht durch Widerstand, sondern durch Würde. Er weigerte sich, zu schreien. Kurz bevor er hineingeführt wurde, drehte er sich nochmal um und berührte die Wand, als würde er sich verabschieden. Ich habe Jahre gebraucht, um das zu vergessen...und ich habe es nie
geschafft< Anna spürte, wie ihr Herz schmerzte. Ihre Finger krampften sich um die Kante des Holztisches. Auch Lena konnte ihre Emotionen nicht mehr verbergen und versteckte ihr von Tränen gezeichnetes Gesicht hinter ihren Händen. Alles ergab nun einen Sinn: Die zerbrochenen Worte, der Ring, die Wand. Lasse hatte in einem letzten Akt des Widerstands ein Stück seiner selbst versteckt...seine Liebe, seine Hoffnung. Eine Verbindung zu einer Zeit, in der er noch Mensch war, kein
Häftling. Der ältere Herr stand auf und zog eine Kiste aus dem Regal, öffnete sie und suchte vorsichtig etwas. Dann setzte er sich wieder, öffnete eine kleine Schachtel und sagte: „Das ist der Ring von Häftling 200212...Lasse. Der Ring wurde vor kurzem bei Rastaurierungsarbeiten im Keller von Block 10 entdeckt. Er lag tief in der Mauer, gut versteckt. Die Geschichte dieses jungen Mannes ist hier im Archiv dokumentiert, aber der Ring...der Ring verbindet alles mit dem Menschen
dahinter.“ Die beiden Mädchen, von Emotionen erschüttert, konnten es kaum glauben. Anna streckte die Hand aus, wollte den Ring berühren, doch gleichzeitig hatte sie Angst, das der Moment zerbrechen könnte. Lena nahm Anna in den Arm. „Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen und trotzdem noch Hoffnung haben?“ fragte sie mit tränenerstickter Stimme. „Er war 17 Jahre alt, als er starb.“ begann der Historiker. „Gerade ein junger Mann, der unfassbares Leid ertragen musste. Er wurde für medizinische Experimente ausgewählt
und hat schreckliche Qualen erlitten.“ Der Ring war kein besonderer. Ein einfacher Silberring, abgenutzt mit kaum sichtbaren Gravuren. Die Mädchen saßen noch lange schweigend da, jeder Atemzug schwer von der Last der Geschichte, die sie nun in ihren Herzen trugen. Anna fühlte eine tiefe Verbindung zu diesem Jungen Mann, dessen Leben so brutal zerrissen worden war. „Ich kann es nicht fassen...dass er so jung war. So zerbrechlich. Und doch so stark.“ sagte Lena
leise. Anna nickte und wischte sich die Tränen ab. „Und jetzt liegt dieser Ring hier. Ein Stück von ihm, das auf seine Ruhe wartet. Ich muss ihn finden....ich muss ihm helfen.“ Sie spürte, wie der Schmerz des Verlusts und die Hoffnung auf Frieden in ihr wuchsen...eine Mischung, die sie zugleich zerbrach und stärker machte. >Tagebucheintrag Wir waren dort. Und wir haben Lasse und den Ring gefunden. Der Ring ist das
letzte Hab und Gut eines jungen Mannes, der mit 17 Jahren gestorben ist, nach dem er Dinge ertragen musste, die ich mir nicht vorstellen kann. Sein Schmerz ist wie ein Schatten, der mich verfolgt, und doch fühlt es sich an, als ob er durch mich spricht...als wolle er endlich frei sein. Ich fühle seine Angst und seine Verzweiflung sehr, aber auch seine stille stärke. Ich kann nicht anders, als zu weinen, weil ich weiß, dass er so sehr Frieden verdient hat. Lena hat den Mann vom Archiv gefragt, ob sie den Ring fotografieren darf. Sie
durfte. Wir werden eine Kopie anfertigen lassen, und dann kann Lasse endlich frei sein und seine letzte Ruhe finden. Aber Lena und ich werden ihn niemals vergessen. Uns steht eine letzte Reise bevor...
Zwei Wochen später, die Nacht hatte längst das Haus umhüllt, saß Anna immer noch an ihrem Schreibtisch. Vor ihr stand ein kleines, mit Samt bezogenes Kästchen...Die Kopie von Lasses Ring, den Lena und sie in Auftrag gegeben hatten. Dieses kleine Symbol war für sie nun zu einem kostbaren Anker geworden. Ein stiller Schwur, dass sie Lasses letzten Wunsch erfüllen würden. Die Luft im Zimmer war still, nur das leise Ticken der Uhr und das sanfte
Flüstern des Windes an den Fenstern begleiteten sie. Anna spürte, wie sich eine tiefe Ruhe über sie legte, und doch war ihr Herz voller Spannung und unbändiger Sehnsucht. Sie schloss die Augen und suchte nach Lasse. Nach seiner Präsenz, die sich in der letzten Zeit nur noch zögerlich, fast zaghaft, aber mit unaufhörlicher Beharrlichkeit in ihrem Leben eingefunden hatte. Zuerst war es nur ein scheues Flimmern gewesen, ein Hauch von Worten, die wie Puzzlestücke in ihren Gedanken
auftauchten. Doch jetzt war da mehr. Ein zartes Band, das sich gesponnen hatte. Ein sanftes Licht in der Dunkelheit. Langsam, fast wie das Öffnen eines schweren Schleiers, kamen die Worte. Nicht mehr nur Bruchstücke. Es waren Gedanken, Gefühle...kleine Botschaften, die sich mit jeder Sekunde mehr formten. „Danke...Anna...für...hören...“ Das Flüstern war rau, schwach, als käme es aus einer anderen Welt. Anna fühlte die Erschöpfung, die Traurigkeit und die unermessliche Dankbarkeit, die darin lagen. Sie schrieb jede Silbe mit
zitternden Händen auf. Es war, als wäre jeder Buchstabe ein lebendiges Fragment aus Lasses Seele. „So....lange....allein....nun....frei...“ Die Tränen liefen ihr unwillkürlich über die Wangen. Nicht nur wegen der Worte, sondern auch wegen des unglaublichen Geschenks, das Anna hier empfing: Vertrauen. Das Vertrauen eines Menschen, der so viel Leid erfahren hatte, der so viele Qualen durchlitten, dass seine Seele kaum noch Kraft zum Sprechen hatte. Sie Atmete tief ein und versuchte, ihre
eigene Aufregung zu bändigen. „Du...gibst...Kraft...“ flüsterte Lasse. Anna antwortete sanft: „Ich bin bei dir, Lasse. Du bist nicht mehr allein. Ich werde dich begleiten, solange du mich brauchst.“ Der Kontakt blieb fragil, fast zerbrechlich. Lasse konnte nicht einfach sprechen, er musste jeden Botschaft mühsam formen, mit der kleinen Kraft, die ihm noch
blieb. „Weg...schwer...Dank...dir...Hoffnung...“ Anna spürte, wie das Gewicht der Geschichte auf ihr lastete...die Verantwortung, das Vermächtnis, das ihr anvertraut wurde. Aber auch die Liebe, die in diesen kurzen Worten lag. Eine Liebe, die sich durch die Zeit und den Tod hindurchzog. Und plötzlich wurde ihr bewusst, wie sehr dieser Kontakt auch sie veränderte. Früher war sie das Mädchen gewesen, das unbeschwert durch den Alltag ging. Gute Noten, Freunde, Pläne für die
Zukunft. Doch jetzt war da etwas anderes. Eine Schwere und zugleich eine tiefe Verbundenheit, die sie nicht mehr losließ. Sie sah zu Lena, die schweigend neben ihr saß und ihr Verständnis zeigte. Lena war der Fels in der Brandung, der sichere Hafen in all dem Sturm. „Ich fühle, dass er mehr sagen will“ hauchte Anna. „Aber es fällt ihm schwer.“ Lena nickte. „Es ist, als ob er nicht die Kraft hat, seine ganze Last in Worte zu
fassen.“ Anna legte die Hand auf das Samtkästchen. „Der Ring...er ist nicht das Ende, sondern der Anfang.“ Dann kehrte wieder zaghaft die Stille ein. „Wir finden den Weg, Lasse. Ich verspreche es dir.“ Die Uhr tickte weiter, während Anna und Lena sich schweigend ansahen. Sie wussten beide, dass sie am Anfang einer Reise standen, die ihr Leben für immer verändern
würde. >Tagebucheintrag Es ist, als würde ich Tag für Tag ein Stück von Lasse finden...in seinen zarten Worten, in seinem Schweigen und in der Kraft, die er mir schenkt. Die Kopie des Rings liegt neben mir. Er ist mehr als ein Stück Metall...er ist eine Brücke zu einer Seele, die nach Erlösung schreit. Manchmal fühle ich mich erschöpft, als ob ich die Last seiner Geschichte mittragen müsste. Aber ich will nicht
aufgeben. Nicht jetzt.
Lena ist bei mir,sie hält mich, wenn ich nicht mehr weiter weiß. Ohne sie hätte ich das nicht geschafft.
Ich spüre, das Lasse mir vertraut. Und das ist das kostbarste Geschenk.
Der Flug nach Jerusalem war ruhig, doch in Annas Brust pochte ein Sturm aus Emotionen. Neben ihr saß Lena, beide in stiller Übereinkunft. Die Worte waren überflüssig geworden. Tage, Wochen, Monate hatten sie zusammen verbracht...auf einer Reise, die längst nicht nur eine Suche nach der Vergangenheit war, sondern eine Suche nach Menschlichkeit, nach Vergebung und Erlösung. Die Sonne senkte sich langsam über der heiligen Stadt, tauchte die uralten Steine
in ein goldenes Licht. Anna spürte, wie ihre Knie weich wurden, als sie mit Lena durch den verwinkelten Friedhof schritten, wo Lasse seine letzte Ruhe gefunden hatte. Die Grabstätte war schlicht, nur ein einfacher Stein, auf dem eingraviert stand: LASSE Geboren 1927 Gestorben 1944
Anna hielt den Ring fest in ihrer Hand, die Kopie des kleinen, wertvollen Rings,
der mehr war als ein Schmuckstück. Er war das letzte Stück einer verlorenen Geschichte, ein Schlüssel zu Lasses Seele. Sie kniete sich nieder und Lena tat es ihr gleich. Ihre Finger zitterten, als sie den Ring sanft auf den Stein legten. Für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Anna schloss die Augen und ließ die Erinnerung fließen...die Wochen des Wartens, das Flüstern der Worte, die Angst und die Hoffnung, das Licht und die
Dunkelheit. „Ich habe dich gehört, Lasse.“ flüsterte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch im warmen Abendwind. „Ich werde dich niemals vergessen.“ versprach sie. Ihre Hände legten sich sanft auf den kalten Stein. Tränen rannen über ihr Gesicht, doch sie fühlte keinen Schmerz...nur eine unbeschreibliche Erleichterung. „Deine arme, alte Seele darf nun endlich ihre verdiente Ruhe
finden.“
Ein sanfter Wind strich über die Gräber, wie eine Antwort. Anna öffnete die Augen, sah Lena an, und in diesem Blick lag stille Gewissheit. Sie hatten das unfassbare geschafft....sie hatten Lasse eine Stimme gegeben und ihm Frieden gebracht.
Noch lange saßen sie dort, im goldenen Licht Jerusalems, zwei Mädchen, die durch ihre Liebe und ihren Mut eine Seele befreit hatten.
Die Sonne war bereits untergegangen, als Anna und Lena in ihr kleines Apartment zurückkehrten. Die Reise hatte Spuren hinterlassen...nicht nur in ihren Herzen, sondern auch in ihrem Leben. Anna spürte eine tiefe Ruhe, die sich langsam in ihr ausbreitete. Wochenlang hatte sie mit Lasses Geist gerungen, seine Vergangenheit gefühlt, seinen Schmerz getragen. Nun war etwas zu ende gegangen, und gleichzeitig begann etwas neues. Sie setzte sich ans Fenster und blickte
hinaus in die leuchtende Nacht. Ihre Gedanken schweiften zurück zu den Tagen, wo alles begann...ein flüchtiges Flüstern in der Dunkelheit, die schüchterne Präsenz einer verlorenen Seele. Die Freundschaft zu Lena war dabei zu einer unzerbrechlichen Stütze geworden, ein Anker in stürmischen Zeiten. Lena war mehr als nur eine Freundin geworden...sie war Vertraute, Mitstreiterin, Schwester im Geiste. „Wie geht es dir?“ fragte Lena leise und setzte sich neben
sie. Anna lächelte schwach. „Ich weiß es nicht genau. Irgendetwas in mir hat sich verändert. Vielleicht ist es Frieden.“ Lena nickte. „Du hast das richtige getan. Für Lasse...und auch für dich.“ In den folgenden Wochen begann Anna, ihre Erlebnisse aufzuschreiben. Aus den Gesprächen, den Erinnerungen und dem Gefühl entstand ein kleines Buch...ein Vermächtnis an jene, die vergessen wurden. Sie wollte, das Lasses Geschichte weiterlebt, das niemand seine Stimme
verliert. Manchmal spürte Anna ein leises Flüstern, als wäre Lasse noch immer ganz nah. Doch nun war es kein flehen mehr, sondern eine stille Dankbarkeit. Sie wusste, dass sie nie wieder die selbe sein würde. Die Begegnung mit Lasse hatte ihr Leben tief berührt und ihre Seele geöffnet. Und während die Welt um sie herum weiterging, begann für Anna ein neuer Weg...einer voller Mut, Mitgefühl und der Kraft, das Unsichtbare sichtbar zu
machen.
>Tagebucheintrag
Manchmal denke ich, es war nur ein Traum.
Doch dann spüre ich es...die Wärme, das leise Flüstern, das mich begleitet.
Lasse ist frei.
Und ich?...Ich bin bereit, weiterzugehen.
Wenn ich an Lasse denke...an diesen jungen Mann mit der Nummer 200212..., sehe ich nicht nur eine Zahl. Ich sehe ein Gesicht, das niemals wirklich gesehen wurde. Ich höre eine Stimme, die so lange schweigen musste. Und ich spüre eine Seele, die nach all dem Schmerz endlich Frieden sucht. Lasse steht stellvertretend für all die Millionen Menschen, deren Geschichten im Dunkel der Vergangenheit verloren gegangen sind. Für die, die keinen Namen mehr haben, keinen Ort, an dem sie willkommen sind. Für die, deren
Träume brutal zerbrochen wurden...und deren Leid oft nur in Zahlen erfasst wird. Doch hinter jeder Zahl steckt ein Mensch. Ein Mensch mit Hoffnungen, mit Liebe, mit Angst. Ein Mensch, der geliebt hat und geliebt wurde. Ein Mensch, der so wie wir, gewusst hatte, wie wertvoll das Leben ist. Dieser Roman ist mein Versuch, Lasse eine Stimme zurückzugeben, Ihm zuzuhören, ihn zu verstehen...und ihn nicht vergessen zu lassen. Denn indem wir seine Geschichte erzählen, geben wir auch all den anderen
eine Stimme. Wir holen sie aus dem Schatten, lassen sie nicht mehr allein sein. Ich wünsche mir von Herzen, dass jeder, der diese Seiten liest, spürt: Lasse ist mehr als eine Zahl. Er ist ein Stück von uns allen. Ein Teil unserer gemeinsamen Menschlichkeit. Und vielleicht...nur vielleicht...finden wir durch das Erinnern selbst ein wenig Frieden. Für ihn. Für uns. Für die, die noch kommen. MÖGE LASSES SEELE NUN ENDLICH
RUHEN.
UND MÖGEN WIR NIEMALS AUFHÖREN, ZUZUHÖREN.