Das letzte Wort
„Es ist vollbracht“, der Weise ließ die Feder ins Tintenfass sinken.
„Meister?“ Sein Schüler, der ihm über die Schulter geschaut hatte, zauderte.
„Was?“
Der Schüler fasste seinen ganzen Mut zusammen. „Etwas fehlt“, sagte er schließlich entschlossen. „Ihr habt das letzte Wort vergessen …“
„So, denkst du das?“, der Weise lächelte ihn an. „Es ist nicht an mir, das letzte Wort zu schreiben. Das wird jemand anders tun.“
„Aber wer sollte das sein? Ihr seid der weiseste aller Weisen. Ihr habt die
Bibliothek gegründet. Die Geschichte unserer Welt, das Gewesene und das Kommende, habt ihr aufgeschrieben. Wer sollte es komplettieren, wenn nicht ihr?“, rief der Schüler entrüstet aus.
„Ich weiß es nicht. Du vielleicht? Aber nein, es muss jemand sein, der ganz unbedarft ist.“, erklärte der weise Mann. „Aber das hat keine Eile. Solange das letzte Wort nicht aufgeschrieben wurde, ist die Geschichte nicht zu Ende.“
Es vergingen viele tausend Jahre. Die Welt war alt geworden und müde. Und noch immer fehlte das letzte Wort im Buch der Zeit
…
…bis…
Bis sich ein Mädchen in die Bibliothek verirrte. Zufällig, gedankenverloren war es dort angekommen, als es einem bunten Schmetterling gefolgt war.
Jetzt ging es staunend durch die staubigen Gänge, bis es in einen riesigen Saal kam. Er war ganz leer, nur in der Mitte gab es ein Lesepult, auf dem ein uraltes, aufgeschlagenes Buch lag.
Voller Neugierde näherte sich das Mädchen, schaute sich das Buch ganz genau an. Die Geschichte war fast fertig, einzig das letzte Wort fehlte.
Wie von einer unsichtbaren Macht gezogen nahm es die Feder aus dem
Tintenfass.
Aber was sollte es schreiben?
Es dachte nach. Schmetterling – natürlich, schließlich hatte er es hergeführt hatte?
Es setzte die Feder an.
Nein – plötzlich hatte es das Gefühl, dass dies nicht das richtige Wort war.
Vielleicht Magie? Dieser Ort schien mit Magie durchtränkt zu sein.
Wieder setzte es die Feder auf das Papier, wieder hielt es inne.
Ein kühler Wind kam auf, das Mädchen fröstelte. Plötzlich sehnte es sich nach seinem Zuhause. Es dachte an seine Eltern, die es behütet, beschützt und getröstet hatten, wann immer es nötig
war. Auch an seine Geschwister, mit denen es zwar wunderbar zanken konnte, die aber immer zu ihm standen dachte es.
Plötzlich wusste es, was zu tun war.
Entschlossen setzte es die Feder auf das Papier und schrieb das Wort auf, das ihm einzig richtig erschien:
„Liebe“
>