Kurzgeschichte
Verirrte Seelen - Der Flaschenvater

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"Verirrte Seelen - Der Flaschenvater"
Veröffentlicht am 08. Februar 2025, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Ulrich Seegschütz/Pixabay
http://www.mystorys.de
Verirrte Seelen - Der Flaschenvater

Verirrte Seelen - Der Flaschenvater

Verirrte Seelen - Der Flaschenvater


Mein Vater war ein ganz normaler Mann. Schule, Ausbildung, Beruf. Hochzeit. Familie, Urlaub, Geburtstage. Er war fleißig, pünktlich und zuverlässig. Bis er arbeitslos wurde. Eine neue Seite in unserem Familienbuch wurde aufgeschlagen: Das Familienmit-glied Alkohol zog ein. Und es machte uns alle krank.






















„Brumm! Röhmmmm!“ Begeistert steuerte ich meinen Spielzeug-Truck, der unter dem Weihnachtsbaum gelegen hatte, um leere Kartons und zerrissenes Geschenkpapier herum. Meine kleine Schwester Monika, die verzückt mit ihrer neuen Puppe spielte, beobachtete mich argwöhnisch und drückte ihr Geschenk fest an sich, damit es nicht Bestandteil meines ersten Verkehrsunfalls wurde. Das reizte mich irgendwie, und so fuhr ich mit dem Lastwagen über ihr Bein und kam der Puppe bedrohlich nahe. Ängstlich sprang Moni auf und brachte sich in Sicherheit. Mein hämisches Lachen folgte ihr.

Anschließend lenkte ich den Plastikwagen krabbelnd über den Wohnzimmerteppich in Richtung meiner Eltern, die auf dem Sofa saßen und uns Kindern zugesehen hatten, wie wir die Geschenke ausgepackt hatten. Meine Mutter, deren Weihnachtsgeschenk in ihrem Bauch heranwuchs, hob lächelnd die Füße. Mein Vater, der sich in letzter Zeit immer öfter an eine Bierflasche klammerte, sah mich grimmig an. Ich verstand: Sackgasse! Ich umfuhr das Hindernis und wollte gerade auf die Autobahn Richtung Küche, als ich mich etwas ungeschickt bewegte, stolperte und gegen Vaters

Beine fiel. Er schlug mir so heftig ins Gesicht, dass ich mit dem Kopf gegen den Wohnzimmertisch stieß. Ich musste ohne Abendbrot ins Bett. Draußen wurde es dunkel und Weihnachten war vorbei.






In den folgenden Jahren trank Vater immer mehr, und wir Kinder gewöhnten uns an seine Schläge. Damit die Nachbarn nichts von seiner Trinkerei mitbekamen, mussten wir die leeren Schnapsflaschen heimlich in der Umgebung entsorgen. Mutter lächelte nur noch selten. Eigentlich nur noch kurz nach der Geburt von Stefanie, soweit ich mich erinnern kann. Manchmal hörte ich sie nachts wimmern. Was mehr schmerzte als Vaters Schläge. Aber mir blieb nichts anderes übrig, als ins Kissen zu weinen.

Zu meinem fünfzehnten Geburtstag hätte ich eigentlich ein neues Kissen gebraucht, doch ich bekam mein lang ersehntes Fahrrad geschenkt. Nachdem ich damit bei meinen Freunden gewesen war, kam ich etwas atemlos zuhause um die Ecke gebogen, sah meinen Vater zu spät, wie er betrunken an der Hauswand lehnte und fuhr in an. Halb zerrte er mich die Treppen hinauf, halb stützte er sich auf mich. Es dauerte eine Weile, bis wir in der Wohnung waren. Ich hatte es nicht eilig - ich wusste ja, was mich erwartete.

Später, im Kinderzimmer, versuchte ich, mit den Händen meinen Kopf zu schützen. Was mir aber nur so mittelprächtig gelang. Ich musste ohne Abendessen ins Bett. Draußen wurde es dunkel und mein Geburtstag war vorbei.









Ein paar Monate vergingen.

Der Alkohol begann, nicht nur Vaters Seele, sondern auch seine Organe zu zerfressen, Wir Kinder besuchten ihn kein einziges Mal im Krankenhaus. Und während er dort so lag und litt, führten wir zuhause so etwas wie ein normales Familienleben. Ja, nach einigen Tagen plapperten wir bei Tisch tatsäch-lich alle durcheinander. Hielten aber gelegentlich inne, schauten auf den leeren Stuhl am Kopfende des Tisches und verspürten kurz etwas Angst.


Relativ kurz war auch die Zeit, die Vater im Krankenhaus verbrachte. Eines Tages sah er die Sonne nur noch auf- aber nicht mehr untergehen. Es dämmerte gerade, als er röchelnd und sabbernd für immer die Augen schloss. Draußen wurde es dunkel und unser Leiden war vorbei.

© Ulrich Seegschütz 2014|2018

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Enya2853 Lieber Uli
Puh, heftig. Gerade die fast sachlich anmutende Knappheit des Ausdrucks berührt sehr. Emotionen rüberzubringen, ohne unnötige Worte zu machen, ist schon toll.
Die bedrückende "Karriere" eines Alkoholikers, der nicht aus seiner Haut herauskann und das daraus resultierende Leiden der Angehörigen, die Ohnmacht - ein eindrucksvolles Beispiel, das für viele stehen mag.
Chapeau, Uli.

Liebe Grüße
Enya
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Lagadere 

Danke dir, liebe Enya!
In diesem Fall sehe ich den Vater als frustriert, schwach und überfordert. Gibt es nicht so einen Spruch: "Unter Druck zeigt sich der Charakter"?
Da wachst du eines Tages auf, denkst an die Träume, die du mal hattest, die Vorstellungen vom Leben- vielleicht das Nacheifern von Vorbildern- und nun sitzt du da, arbeitslos, drei Kinder, und hast Angst, dass du vielleicht keinen neuen Job findest, und, und, und.... da sucht man natürlich nach Auswegen und will den Druck, der sich innerlich aufbaut, irgendwie los werden. Aber:
So sehr ich auch die Fahne der Freiheit - auch und besonders, was die eigenen Entscheidungen angeht - hoch halte: Als Familienvater trägt man eben auch die Verantwortung für andere und dann krempelt man die Ärmel hoch und lässt sich nicht einfach fallen!

Ich hab gut reden, lach, ich hatte nie Verantwortung für andere zu schultern. Hier greifen Vorurteile - und die waren schon immer die einfache Variante für Lösungen :-)

Ich danke dir und freu mich :-)

LG Uli


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Eichenlaub 
Lieber Uli,

oh,oh, mir schmerzt das Herz beim Lesen, wenn das eine wahre Lebensgeschichte wäre.
Der Vater kam irgendwie nicht mehr mit sich zurecht, obwohl er es vielleicht wolte. Der Alkohol betäubte das wenig innerliche gute Gefühl und daher rastete er, bei jeder Kleinigkeit, schnell mal aus.

Aber als "Kurzgeschichte" hast Du es Dir vielleicht nur ausgedacht.
Sehr ergreifend und lebensnah beschrieben.

Lieben Gruß
Gerlinde
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Lagadere 

Liebe Gerlinde,
ich schreibe NUR fiktive Geschichten. Ich glaube, es gab nur eine Ausnahme, als es um meinen Schäferhund ging, der eine ziemlich bewegte Zeit hinter sich hatte, als ich ihn bekam.

Tja, der Alkohol und was er aus Menschen machen kann....
Da könnte man viele Geschichten darüber schreiben....

Danke Dir und
einen schönen Sonntag für Dich!

LG Uli

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