Kurzgeschichte
Das Rad

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"Das Rad"
Veröffentlicht am 02. Dezember 2025, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Ulrich Seegschütz
http://www.mystorys.de
Das Rad

Das Rad














Du hast das Rad nicht neu erfunden.

Du hast lediglich eine uralte Tür zum ersten Mal geöffnet.

Unsicher, ob du deine Jungmädchen-träume mitnehmen oder zurücklassen solltest, getrieben von dem Instinkt, das strenge Elternhaus zu verlassen.

Hungrig nach dem Leben.

Nach Liebe.


Auf der anderen Seite wartete ich; voll-jährig, drei Jahre älter und erfahrener als du, aber längst nicht abgeklärt. Ob diese Begegnung letztlich gut oder schlecht für dich war, vermag ich nicht zu sagen.

Damals war sie jedenfalls gut.

Verdammt gut!

Also für mich.


Da deine mißtrauischen Eltern gegen uns waren und dich nach der Schule abhol-ten, warteten wir einfach, bis sie schliefen.

Ach, Wie schwer musste ich mir deine ersten Küsse verdienen! Du wohntest in der Oberstadt, ich unten. Immer deine geöffnete Balkontür vor dem inneren Auge, nahm ich den kürzesten Weg und der führte mitten durch einen Wald.

Gott! Man glaubt ja nicht, wie nahe einem nachts dieser dunkle Geselle kommt! Er umfängt dich mit all seinen Schatten und jedes kleine Geräusch wirkt

so laut, dass du automatisch immer schneller gehst, um die Angst hinter dir zu lassen.

Laufen, rennen, sprinten - all das ging nicht; wegen des blöden Badezimmer-spiegels, in den man am nächsten Tag schauen musste. Schnelles Gehen war in Ordnung. Davon konnte man erzählen. "Ja, da waren ein paar Rotten Wild-schweine hinter mir her. Dann bin ich ein bisschen schneller gegangen und gut war's".


Mit der Zeit wurde mir der Weg vertraut. Der Klang des Waldes verlor seinen Schrecken und die Angst, deine Eltern könnten uns beim Knutschen erwischen,

wich mit der Zeit einer Sorglosigkeit, die der Routine entsprang und an der wohl auch die Hormone beteiligt waren.

Wir spielten Columbus und jeder ent-deckte immer wieder beim anderen etwas Neues. Wir diskutierten, philosophierten, konnten uns über Politik im Allgemeinen und den NATO-Doppelbeschluss im Be-sonderen noch aufregen und schrieben Dr. Sommer so oft, bis die Briefe zurück-kamen mit dem Vermerk: „Adressat unbekannt verzogen“.

Es ging immer um dieselbe Frage:


Wie hält man das Glück fest?



Irgendwann kam der Punkt, an dem wir alles erlebt hatten und ich brauchte mich nicht mehr durch den Wald zu kämpfen.

Es war vorbei.

Ich kann heute nicht einmal mehr sagen, wer damals Schluss gemacht hat.

Oder warum.

Vielleicht lag es daran, dass der Reiz des Verbotenen uns nicht mehr antrieb, als du erwachsen wurdest.


Es folgten all die Jahre, in denen du mich aus der Ferne über alle Hürden des Lebens getragen hast.


So viele Jahre.


All die Seelenpflaster, die du mir geschickt hast.... all die Telefonate, die Briefe, die Kurznachrichten auf dem Handy.....


Tja, was kann ich noch sagen?

Hier, wo der Schmerz zuhause ist und sich so wohlfühlt.

Dass wir nun unser Versprechen nicht mehr werden einlösen können, dass wir noch einmal, wenn wir achtzig Jahre alt sind, auf „unserer“ Bank sitzen und uns vorstellen, wie alles hätte kommen können?




Nein, du hast das Rad nicht neu erfunden, du hast es mir aufs Kreuz gebunden, und weil es so leicht war, habe ich es nie gemerkt. Nun ist es so schwer, dass es mich zu Boden drückt. Nie habe ich erfasst, wie sehr ich dich wirklich geliebt habe, während das Leben mich von dir fortgeführt hat.

Dieses Leben, das damals noch vor mir lag. So aufregend, so bunt und so prall gefüllt mit Sportwagen, fremden Län-dern, neuen Wohnungen, neuen Freunden und ja, auch Frauen.





Ich schaue mich um - zum Glück hat nie-mand beobachtet, wie ich in die Knie ge-gangen bin.

Und falls es doch jemand gesehen hat, versteht er es vielleicht.

Besonders, wenn er die Liebe kennenge-lernt hat und weiß, wie sie einem Men-schen zusetzen kann.

Versteht, dass ich an deinem Grab nicht aufrecht stehen kann.




© Ulrich Seegschütz 

02|12|2025

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Phantasus Hallo Lagadere,
in deiner authentischen Liebesgeschichte kann sich mancher wiederfinden. Sie ist bemerkenswert ehrlich.
Gruß
Phantasus
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Lagadere 

Hallo Phantasus,
Danke dir fürs Lesen, Kommentieren und Faven!

LG Ulrich Seegschütz


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Bleistift 
"Das Rad..."
In der Tat, die Zeit, sie vergeht im Sauseschritt,
...wir sausen mit...
Sehr emotional und pointiert aufgeschriebene Geschichte,
die mir gut gefallen hatte, icl. diesem wieder toll gestylten Cover... ...smile*
Beste Grüße sendet der
Bleistift :-)
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Lagadere 

Danke dir, Louis! Freu mich!

LG Uli

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