Kurzgeschichte
Das Pendel der Liebe

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Veröffentlicht am 11. September 2023, 52 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Ulrich Seegschütz/Pixabay
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Das Pendel der Liebe


Kapitel 1 Irgendwann musste der heftige Regen nachgelassen haben. Über Stunden war die Wut des Sturmes darüber, dass es ihm nicht gelungen war, mein kleines Häuschen zu packen, empor zu wirbeln, um es, samt dem kleinen, hilflosen Menschlein darin, gegen eine Felswand zu schleudern, förmlich zu spüren. Aber das kleine, schmucke Häuschen hatte bereits zwei Weltkriege und unzählige Wetterkapriolen über-standen;und so konnte es einigermaßen

gelangweilt auch diesem Unwetter die Stirn bieten. Früher hat man noch solide gebaut. N'est-ce pas? Nun die Sonne über der Provence auf-gegangen ist, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, wie Dunstschleier vom Tal heraufziehen und den Geruch feuchter Erde mit sich bringen. Eine tiefe Vorfreude bemächtigt sich meiner bei dem Gedanken, später hinab ins Dorf zu gehen, um mich mit Milche, Baguette und Eiern zu versorgen. Wlch kluge Entscheidung seinerzeit, aus der großen Stadt fortzuziehen, um hier in der ländlichen Idylle neue Kraft zu

tanken! Ach, geschätzter Leser, ich wünschte, du könntest - gerade um diese frühe Morgenstunde - den Anblick genießen, der sich mir täglich von meiner Terrasse bietet! Dort, tief unten im Tal, das kleine, bunte Dörfchen, das sich verschlafen die Augen reibt, und dort, hoch oben, die majestätischen, schneebedeckten Gipfel der Berge, die erhaben und etwas verächtlich die Krabbeltierchen, die vermeintliche Krönung der Schöpfung, dort unten beäugen und ihnen zuraunen: „Macht, was Ihr wollt, aber kommt uns

nicht zu nah!“ (Bilde ich es mir ein, oder schauen sie in letzter Zeit auch etwas ängstlich - nun, da einige, der Ewigkeit angedachten Gletscher geschmolzen sind? Hören sie MEIN Seufzen? - Oder ich das IHRE?) Und von dort oben, wo immer Winter ist, rutscht der Blick hinab, streift den letzten verbliebenen Schnee des Winters, der noch auf den Hochalmen liegt - ohne Bedauern. Zeuge der eisigen Umklammerung, mit der die Natur uns monatelang gepeinigt hat.

Schnell weiter geschaut!


Hin zu dem Grün, zu dem Leben, das nun ach so reichlich aus dem Boden sprießt!

Zu den Farben, die allerorten in so reicher Vielfalt das Grau des Winters verdrängen und vergessen machen! Ach! Laufen möchte ich! Hinstürzen zu den Wiesen! Jeden Grashalm einzeln begrüßen! Ihn willkommen heißen und ihm danken! Und ist die Sonne auch noch schwach und blass: Das Bewusstsein, dass sie nun täglich an Kraft gewinnt, die Natur zu Höchstleistungen antreibt und mich mit neuem Leben, neuen Mut beseelt, gereicht meinem Herzen zur Freude, und ich weiß: Er ist wieder da! Der

Frühling! Endlich! Kapitel 2 Karsamstag Nachdem ich mich nun also heute morgen fröhlich pfeifend aufgemacht hatte, um die Bastion "Michelle" zu erobern - sei es nun durch einen Sturmangriff oder durch Belagerung - kann ich nun, da ich vor dem Zubettgehen noch schnell zu Papier und Feder greife, mit Fug und

Recht behaupten, dass ein wunderschöner, ereignisreicher Tag sich dem Ende nähert. Michelle, die wunderschöne, junge Festung mit langen schwarzen Locken und einem Lachen, das das Gras schneller wachsen und Kühe mehr Milch geben lässt, fiel schon, bevor ich noch mein Schwert oder Geldbörse oder sonst etwas zücken konnte. Ihr Lächeln, als ich den Laden betrat, warf meine Strategie völlig über den Haufen und verwandelte mich, den Angreifer, den Eroberer, in einen stotternden, hilflosen und ängstlichen Knaben, den seine Mutter beim Griff ins

Portemonnaie erwischt hat. Als dann noch ihre Stimme durch den Raum flog, jeden Winkel des kleinen Ladens mit Liebreiz erfüllte und mich gnadenlos ins Zeitalter der ersten Verabredungen zurück schoss, war an Begriffe wie Eroberung, Aushungern, Unterwerfung oder Niederlage überhaupt nicht mehr zu denken! Diese Stimme! Obwohl sie nur nach meinen Wünschen fragte, schien es mir doch so, dass sie in mir die uralte Frage nach dem Sinn des Lebens wachrief. Konnte es einen schöneren Lebensinhalt geben, als diesen Engel zu liebkosen und fortan, für den Rest des Lebens, zu

verwöhnen, zu lieben und ihm zu dienen? Peinlichkeiten bleiben einem ja besonders lange und ausgeprägt in Erinnerung, und so habe ich mein hilfloses Stammeln, als ich Michelle vorschlug, ihr nach der Arbeit die Gegend zu zeigen, noch allzu deutlich in den Ohren. Schnell an etwas anderes gedacht! Und was wäre geeigneter, als darüber zu berichten, wie der späte Nachmittag, an dem Michelle und ich durch unser Tal spazierten, einen Wald durchstreiften und redeten und lachten, wie im Fluge

verging? Viel zu schnell wurde es Abend, und sie musste gehen. Zurück blieb ein angebissener Apfel, den ich, einem teuren Schatz gleich, vorsichtig aufgenommen und hier auf den Schreibtisch gelegt habe. Später werde ich ihn mit hinüber ins Schlafzimmer nehmen. Auch ich bin nun todmüde, und wenn ich gleich lächelnd ins Bett falle, wird vor den süßen, ja, vielleicht wagemutigen Träumen, die mich sicherlich durch die Nacht begleiten werden, nur ein Gedanke meinen verwirrten Kopf

ausfüllen: "Werde ich sie morgen wiedersehen?" Kapitel 3 Ostersonntag Es ist noch dunkel. Die Nacht ist schlecht verlaufen. Entgegen meiner Wünsche, habe ich nicht von Michelle geträumt. Stattdessen wimmelte es von

schrecklichen Gestalten und Missgeschicken, die mir widerfuhren. Bedrückt wachte ich auf. Mein erster Gedanke galt Michelle. Mein zweiter der Tatsache, dass ich fast zwanzig Jahre älter war als sie. War nicht alles sinnlos? Machte ich mir nicht vollkommen überflüssige Gedanken über sie und mich? Aufgrund meines schlechten Gemütszustandes schien aber eines nun festzustehen: Ich hatte mich in sie verliebt. Ich bin deprimiert und schreibe später

weiter - bekomme jetzt doch keinen klaren Gedanken aufs Papier. Mittlerweile ist es hell. Durch die geöffneten Fenster dringt das Zwitschern der Vögel, und vor mir steht eine große Tasse dampfenden Kaffees, und ich kann zum Glück behaupten, dass es mir wesentlich besser geht als heute morgen! Verscheucht sind die Dämonen der

Nacht, die Selbstzweifel und die bohrenden Fragen. Es ist wahr, ich bin um so vieles älter als Michelle, aber davon war bei unserem gestrigen Zusammensein nichts zu spüren gewesen. Heute wird sich alles entscheiden. Ich hatte sie extra nicht eingeladen - der nächste Schritt musste von ihr kommen! Ich seufze bei dem Gedanken, wie lang der Tag sich hinziehen würde, falls sie nicht.... Nachdenklich nippe ich an meinem Kaffee und blicke nach

draußen. Wird sie kommen? Derselbe Tag Das Wetter hat sich im Laufe des Tages verändert; Regen prasselt aufs Dach und ein heftiger Wind rüttelt an den Fensterläden. Mit Besuch war heute wohl nicht mehr zu

rechnen. Unmittelbar nach diesem Gedanken klopfte es an der Tür. Giselle, die Wirtin aus dem Ort, langjährige Freundin und Vertraute, die sich monatelang nicht hatte blicken lassen, drängte sich herein, schimpfte wie ein Rohrspatz auf den Regen und stellte den Korb, den sie bei sich trug, auf den Küchentisch. Wortlos reichte ich ihr ein Handtuch und sah zu, wie sie ihre blonde Lockenpracht trocken rieb. Mir war klar, dass sie von Michelle erfahren haben musste. So sind Frauen! Sobald eine andere auftaucht, erwacht ihr

Ehrgeiz! "Hallo, du! Ich hab' dir etwas Suppe gebracht. Außerdem soll ich dir von der Kleinen aus der Bäckerei etwas ausrichten. Sie war auf dem Weg zu dir. Heute Vormittag schon. Dann wollte sie den Weg abkürzen, ist über den kleinen Bach gesprungen und hat sich den Knöchel verstaucht. Zum Glück sind heute bei dem schönen Osterwetter vormittags einige Spaziergänger unterwegs, wer weiß, wie lange sie sonst dort auf der Wiese gelegen hätte." Sie war auf dem Weg hierher gewesen! Mein Puls ging schneller. "Geht es ihr gut? Hat sie etwas gesagt?",

drängelte ich. "Ja, ja - es geht ihr gut. Ich soll dir sagen, dass es ihr leid tut, und sie hätte sich schon so darauf gefreut, dich zu sehen." Giselle legte den Kopf schief und sah mich forschend an. „Läuft da etwas zwitschern euch?“ „Quatsch, die ist doch viel zu jung. Aber du musst aus den nassen Sachen heraus! In meinem Schlafzimmer hängt ein Bademantel, den kannst du anziehen." "Ich krieg's schon noch heraus, mein Lieber!", flötete sie und verschwand im Schlafzimmer. Bis sie zurück kam, war der Kaffee

fertig. Ich deckte den Tisch, setzte mich vor meine dampfende Tasse und sah zur Schlafzimmertür. Giselle kam wieder herein. Der Bademantel war ihr etwas zu groß und klaffte über der Brust auseinander. "Oh! Kaffee! Der kommt genau richtig!", rief sie und setzte sich mit untergeschlagenem Bein auf die kleine Holzbank. So, wie sie es immer tat. Als sie sich vorbeugte, um nach der Milch zu greifen, öffnete sich ihr Bademantel vollends. Giselle bemerkte meinen Blick, lächelte

und spielte mit dem Porzellan-Kännchen, in dem die frische Milch schwappte. Sie machte keine Anzeichen, ihren Bademantel zu ordnen. Langsam, den Blick nicht von ihr lassend, stand ich auf, ging um den Tisch herum, knabberte an Giselles Ohr und flüsterte: „Du machst mich immer noch verrückt!“. Dann packte ich Giselle bei den Schultern und küsste sie. Und nun war es an mir, zuzuhören. Ihr Körper hatte mir soviel zu erzählen und ich war ein mehr oder weniger geduldiger, aber auf jeden Fall ein aufmerksamer Zuhörer. Einmal, als sich Michelles Bild zwischen

uns schob, war ich kurz abgelenkt, aber dann wackelte der Küchentisch so heftig, dass ich rasch alle Fremd-Bilder verscheuchte und nur noch Giselle vor Augen und in den Ohren hatte. Das Milchkännchen kippte um. Die Milch floss langsam über die Tischplatte und tröpfelte auf den Fußboden. Kapitel 4 Dienstag, 10.

April Es ist sehr früh. Giselle schläft noch. Bevor ich das Schlafzimmer leise verließ, zog ich noch die Decke über Giselles Schulter. Sie friert doch so leicht. Nun, da ich mich ihrer drallen Gegenwart entzogen habe, reut es mich, dass ich ihren lockenden Augen nachgegeben habe. Mit Giselle verhält es sich merkwürdig: In ihrer Nähe bin ich von der Sexualität,

die sie ausstrahlt, völlig gefangen. Giselles Koketterie zieht mich dermaßen in ihren Bann, dass nichts anderes mehr zählt, als der Wunsch, ja, die blanke Gier, sie zu berühren, anzufassen und von ihr angefasst zu werden. Mit jedem Meter, der uns trennt, schwindet ihre Anziehung. Vorsichtig stehe ich auf, gehe zum Fenster und schaue nachdenklich in die Dämmerung. Es hat endlich aufgehört zu regnen. Im Radio hatten sie gemeldet, dass dieses Jahr das Osterfest eines der kältesten war. Wie, um diese Nachricht zu

bestätigen, kleben Eiskristalle an den Ecken der Fensterscheibe vor mir, in der sich mein trauriges Gesicht spiegelt. Der Wind hat ebenfalls nachgelassen. Einige Äste der Bäume ragen wie mahnende Finger in den Himmel. Als klagten sie mich an. Als wüssten sie um meinen Verrat an Michelle. Bei dem Gedanken fröstelt es mich. Ich husche ins Schlafzimmer und begebe mich in Giselles Bannmeile. Bevor ich ins tiefe Wasser hinabgezogen

werden kann, aus dem ich nicht allein, sondern nur mit Giselle wieder heraus komme, stopfe ich einen Teil der Decke zwischen die Frau und mich, um nicht mit meiner Haut die ihrige zu berühren. Langsam wird mir warm. Merkwürdigerweise nicht von der Decke, oder von der Nähe der nackten, schlafenden Versuchung , sondern von den Gedanken an Michelle. Als ich wieder aufwachte, war ich allein. Giselles Seite des Bettes war schon kalt. Ihr Kopfkissen roch noch schwach nach

ihr. Ich weiß nicht, warum ich mein Gesicht hineinpresste und weinte. Kapitel 5 Der nächste Tag Ich liebte diese frühen

Morgenstunden. Wenn es draußen so ruhig war. Und in mir. An diesem Tag jedoch waren die Umstände ein bisschen anders als sonst. Mein schlechtes Gewissen redete unaufhörlich auf mich ein. Unterstützt von meinem Verstand, der stets Sätze dazwischen rief, wie: "Und außerdem ist da noch der Altersunterschied!", oder: "Sie ist so jung und unschuldig, während DU, na, komm, sei ehrlich...." Um Ordnung in mein Gedanken- und Gefühlschaos zu bringen, setzte ich mich

an den Küchentisch und griff zu meiner Feder. Meine Gefühle und die Geschehnisse um mich herum aufzuschreiben, hat sich schon immer als hilfreich erwiesen, um mich und meine kleine Welt in Balance zu bekommen mit der – wie es Hermann Hesse einmal ausdrückte – Außenwelt. Wenn ich "Feder" sage, meine ich übrigens einen teuren Montblanc-Füller, den mir einmal meine Frau zum Geburtstag geschenkt hatte. Automatisch tauchten die entsprechenden Bilder in meinem Kopf auf. "Oh!", entfuhr es mir und mein

Gedankengang stockte. Will da etwa mein Unterbewusstsein meine Gedanken auf meine Ex-Zicke lenken? Weg von der quälenden Grübelei, die wie ein Unkraut das zarte Michelle-Gänseblümchen und die schon gut verwurzelte Giselle-Rose im Garten meiner Gedanken zu überwuchern drohte? "Jesus!", rief ich überrascht aus. "Erst mein Gewissen, dann der Verstand und nun auch noch mein Unterbewusstsein!“ Langsam wurde es arg voll in meiner kleinen Hütte! Als wäre der Füller aus heißem Metall, warf ich ihn angewidert auf den Tisch und lehnte mich mit vor der Brust

verschränkten Armen zurück. "Recht so!", raunte der Verstand. "Hör nicht auf Dein Unterbewusstsein! Höre auf mich! Was glaubst Du wohl, warum ausgerechnet Dein Herz heute nicht in unser Konzert mit einstimmt! Müsste es nicht im Gegenteil sogar die erste Geige spielen?" "Hm", grunzte ich nachdenklich. Ich hatte mich, ehrlich gesagt, auch schon etwas gewundert.Schließlich schlug mein Herz seit geraumer Zeit nur noch für Michelle. SIE war es gewesen, die dafür gesorgt hatte, dass mein Lebensmuskel kein belangloses,

einsames Blut mehr durch einen vom Glück verlassenen Körper pumpte, sondern frischen, lebenslustigen roten Saft durch die verdorrten Adern presste! Neugierig lauschte ich in mich hinein, wobei ich intensiv an Michelle dachte. In diesem Moment klopfte es an der Tür. "MICHELLE!", rief mein Herz jubelnd aus und klopfte im selben Rhythmus zurück. Freudig lief ich zur Tür und ließ Gewissen und Verstand samt Unterbewusstsein irritiert am Tisch zurück. Ich nahm nur das Herz mit, das nun so laut pochte, dass ich nicht mehr genau

sagen konnte, ob das Klopfen von innen oder außen kam. Bevor ich öffnete, verharrte ich einen Moment lang und atmete tief durch. Mein Herz sah mich ungeduldig fragend an. "Was is nu? Willste nich aufmachen?" Ich fand noch die Zeit, um zu murmeln: "Sehr wohl, mein Herrz!" Dann öffnete ich die Tür. Kapitel

6 Es war Giselle, die die mittlerweile schon recht hoch stehende Sonne verdeckte. Ihr: "Entschuldige, ich habe meinen Schal gestern vergessen", hörte ich kaum. Sie sah umwerfend aus! Der lange schwarze Rock, der so gut zu ihren blonden Locken passte, der breite Ledergürtel, der sich an Giselles Hüfte schmiegen durfte, das blass blaue Jeanshemd, das an den richtigen Stellen spannte, der große, helle Strohhut, der

das gebräunte, hübsche Gesicht seiner Trägerin betonte - es war, ja - als ob Giselles Körper sich 35 Jahre lang auf diesen einen, besonderen Moment vorbereitet hätte! Da ihre Entschuldigung noch in meinen Ohren schwang, trat ich zur Seite und Giselle tänzelte an mir vorbei, um ihren "vergessenen" Schal aus dem Schlafzimmer zu holen. Zurück blieb ein aufregender Geruch, der nur langsam von der einströmenden, frischen Luft von draußen verdrängt wurde. Ich kannte den Duft nicht, für den sich Giselle an diesem Tag entschieden hatte.

Vielleicht war er neu und sie hatte ihn sich aus Paris schicken lassen. Ich dachte über den Namen des Parfüms nach. Vielleicht "Ekstase" oder "Versuchung". Wahrscheinlicher aber war, dass es "Gib auf! Folge mir und unterwirf dich – und du wirst es nie bereuen!" hieß, denn genau das tat ich. Zwei

Mal. Kapitel 7 Donnerstag, 12.April 06:OO Uhr Giselle ist immer noch zu Gast. Als gestern das schwere Erdbeben vor Sumatra einen Tsunami befürchten ließ,

der zum Glück ausblieb, musste ich etwas schmunzeln, weil Giselle ebenfalls wie eine Welle mein kleines Häuschen geflutet und mich in einem Strudel aus Emotionen und Begierde mitgerissen hatte. Weswegen ich auch gar nicht dazu kam, irgend etwas schriftlich festzuhalten. Als ich aufwachte, lag Giselle neben mir, beobachtete mich und lächelte. "Du liebst sie." "He! Lass mich doch erst mal wach werden!", lachte ich und fügte hinzu: "Außerdem haben wir uns gerade einmal gesehen. Und, vergiss nicht: Ich bin fast zwanzig Jahre älter als

sie!“, "Du liebst sie." Ihr Lachen war nun verschwunden. Mit ernster Miene forschte sie in meinen Augen. "Ich brauche jetzt einen Kaffee!", rief ich und sprang aus dem Bett. "Du kannst liegen bleiben. Ich rufedich, wenn das Frühstück fertig ist. - Und bedeck ich!", grinste ich, "Du machst mich ja ganz wuschig!" Giselle lachte, warf sich auf den Rücken und zog die Decke weg. Mein "Biest!" hallte noch durch den Raum, als ich schon fast in der Küche

war. Als ich später noch einmal ins Schlafzimmer ging, um Giselle etwas zu fragen, blieb ich überrascht in der offenen Tür stehen: Sie kniete vor dem Bett und betete! Ich war tief berührt von diesem friedlichen Anblick. Giselle hatte sich mittlerweile angezogen und sah aus wie ein kindlicher Engel, wie sie da mit todernster Miene und gefalteten Händen die Lippen bewegte. Sie sprang schnell auf, lächelte etwas

verlegen und strich sich den Rock glatt. Ich vergaß meine Frage, trat auf sie zu und verschloss ihren Mund, der sich gerade erklärend öffnete, mit einem Kuss. Liebevoll strich ich über ihre Haare und drückte sie an mich. Dann nahm ich sie an die Hand und zusammen betraten wir die Küche. Während ich mit Kaffee und kochendem Wasser hantierte, lehnte sich Giselle an meinen Rücken und umarmte mich. Etwas hatte sich

verändert. Aber so sehr ich beim Frühstück auch in ihren Augen suchte - ich fand nichts. Sie war vielleicht ernsthafter geworden. Oft sahen wir uns an, sprachen aber nicht viel. Eigentlich hatte ich angenommen, dass Giselle nach dem Frühstück wieder gehen würde, aber sie machte keine Anstalten, aufzubrechen. Und ich sagte auch nichts. Genoss ihre Gegenwart, ihren hübschen Anblick und die Vertrautheit, die in vielen Jahren der Freundschaft zwischen uns entstanden

war. Der Tag verging. Bei schönstem April-Wetter gingen wir spazieren, redeten über die Vergangenheit, die Gegenwart - aber nicht über die Zukunft. Später kochten wir gemeinsam, tranken Wein und lachten. Abends saßen wir noch lange zusammen und schwiegen. Dann schlief ich mit ihr und sie mit mir. Es war anders als

sonst. Kapitel 8 Freitag, 13. April 05:25 Uhr Als ich gestern Morgen erwachte, war ich etwas irritiert. Meine rechte Hand und Giselles linke Brust bildeten normalerweise eine Einheit, wenn wir schliefen, oder im Begriff standen, einzuschlafen. Nun war meine Hand

leer. Aus der Küche hörte ich Geräusche. Ich rief nach Giselle. Als ob sie nur darauf gewartet hätte, wehte ihr Lächeln herein und sie schmiegte sich in mich hinein. "Guten Morgen, mein Held", hauchte sie mir ins Ohr. "Guten Morgen, du Frühaufsteherin", lächelte ich zurück und ließ meine Hände zu ihrem Po gleiten. Überraschenderweise entzog sie sich mir, gab mir noch einen flüchtigen Kuss und erhob sich. "Ich lauf' mal schnell in den Ort - Frühstück und neue Kleider holen,

ja?" "Soll ich mitkommen?" "Nein, schlaf du noch etwas - ich beeile mich." Hastig griff ich noch mal nach ihr, zog ihren Kopf zu mir herunter und küsste sie. "Mach schnell!" "Oui! Oui!", kicherte sie und sprang hinaus. Trotz ihres Lachens schien sie angespannt gewesen zu sein. Mit diesem Gedanken schlief ich wieder

ein. Als Giselle wiederkam, saß ich am gedeckten Küchentisch und pustete in die heiße Kaffeetasse. Giselle setzte ihre Einkäufe ab, küsste mich flüchtig und verschwand in der Küche. Sie machte immer noch einen angespannten Eindruck auf mich. Etwas später, als sie mir beim Frühstück gegenüber saß, erfuhr ich den Grund. „Wir müssen

reden“. Ihre ernsten Augen forschten neugierig, ja, fast ängstlich in meinem Gesicht. „Ja“, entgegnete ich ruhig nach einer Weile. „Aber nicht hier“. Es schien mir nicht richtig, in dieser Umgebung, in der ich so viele liebevolle Gedanken an Michelle gehabt hatte, mit Giselle zu sprechen. Stumm räumten wir etwas später den Tisch ab und klapperten zusammen das Geschirr weg. Stumm zogen wir unsere Jacken an und verließen das

Haus. Und stumm, mit einem Lächeln, nahm ich Giselles Hand und gemeinsam gingen wir in Richtung des kleinen Waldes, der sich an den Fuß eines riesigen Berges schmiegte. Zu „unserem“ Platz. Hier endet nun die Geschichte von Jean-Jaques Surmont und Giselle Brascon. Ich weiß nicht, worüber die beiden sich so ernsthaft unterhalten haben - aber es ist nicht besonders schwer, es sich

vorzustellen, N'est-ce pas? Und Michelle? Sie ist irgendwann fortgezogen. Nach Paris, wie man sagte. Dort lebt sie, als Riese, weil sie die Liebe gesehen hat, über den 7 Bergen bei 7 Millionen Zwergen. Und die beiden Verliebten blieben nicht lange stumm. Sicher sprachen sie sehr lange miteinander. Und als sie leer geredet waren, haben sie sich bestimmt lange und innig geküsst. Haben Hand in Hand auf „ihrer“ Bank

gesessen. Wie Teenager. Und wie Teenager haben sie wahrscheinlich getuschelt, geschnäbelt, gekichert, gelacht und ganz sicher ist das Geräusch ihrer lachenden Glückseligkeit, gedämpft durch die vielen Bäume, bis zu den Bergen gedrungen und von dort als schwaches Echo zurückgeworfen worden. Und wenn ich die Augen schließe, höre ich es. Und wenn SIE die Augen schließen, können Sie es ebenfalls hören. Es ist das Geräusch, für das wir alle

leben. FIN © Ulrich Seegschütz Sep|2019

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