Kurzgeschichte
Duell

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Veröffentlicht am 11. September 2023, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Pixabay
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Duell





Lesen sich fiktive Geschichten anders? Wird eine wahre Geschichte

nach dreißig Jahren fiktiv? Wäre ich auch ohne Gott Atheist geworden? Würde sie heute noch leben, wenn wir uns nicht so oft gestritten hätten? Wahr ist, dass ich Atheist bin.

Wenn ich die Ohren schließe, höre ich ihre Schreie. Bilde mir ein, sie "Oh! Mein Gott! Mein Gott!" kreischen zu hören. Höre ihre Entsetzen, als das Brückengeländer dem aufprallenden Kleinwagen nachgibt. Quietschgelbe Lacksplitter werden abgeschabt und vom Sturm emporgewirbelt. Ich höre den sechzig Meter tiefen Abgrund auf sie zukommen. Höre ihre Todesangst. Ihr schreckliches Alleinsein in den letzten Sekunden,
























Wenn ich die Augen schließe, sehe ich den Aufprall. Sehe ihr gerade erwachsen gewordenes Leben in alle Richtungen erlöschen. Sehe die entsetzt aufgeris-senen Gesichter der anderen Autofahrer oben auf der Brücke, die sich die Ohren zuhalten, um sich nicht selbst wimmern hören zu müssen. Ich sehe den Sturm, der vorsichtig über das zerborstene Geländer in die Tiefe schaut, um sein Werk zu betrachten. Ich sehe ihn höhnisch grinsen.

Wie er es wohl genossen hätte, wenn ihm jemand von den beiden Kindern erzählt hätte, denen die schlimmsten Stunden ihres kleinen Lebens bevorstanden?


Er weiß es nicht, denn WER hätte es ihm erzählen sollen?
















Wenn ich den Wind auf meiner alten Haut fühle, werde ich unruhig.

Wie jedes Mal.

Blicke suchend in alle Richtungen. Und nach oben - zu ihr.


Wenn ich fühle, wie der Wind stärker wird, beschleunigt sich mein Schritt. Ich vergrabe die Hände in den Hosentaschen. Balle sie zu Fäusten. Und bin ganz Ohr. Wenn ich fühle, wie der Sturm die Wol-ken vor sich herschiebt, mit Leichtigkeit die Bäume biegt und mich zum Stolpern bringen will, dann beginne ich zu laufen. So gut es noch geht.


Ich fühle die Dunkelheit des dichten Regens. Mit offenen Augen renne ich dem Sturm entgegen. Immer schneller. Ich schreie ihn an.

Immer wieder.

Immer lauter.

Wütend. Hasserfüllt

Bis ich erschöpft und weinend auf die Knie falle. Ich fühle, wie die Kraft mich verlässt und ich nicht mehr schreien kann. Wie ich innerlich weiteschreie. Ich MUSS schreien, denn ICH! ICH habe ihm so viel zu erzählen!






Wenn mich die Einsamkeit erdrückt, wenn ich im Schlafzimmer auf dem Boden sitze, ihre sinnlos gewordenen Kleider an mein Gesicht drücke, sehe ich ihr Lachen, höre ihre blauen Augen mich anstrahlen und fühle ihre Gegenwart.


Wird es früher dunkel, werde ich unruhig. Die ersten Windböen zerfled-dern das Geflecht aus Einsamkeit, Wut und Hass.

In ein paar Jahren, wenn ich nicht mehr laufen und den Sturm bekämpfen kann, werde ich im Rollstuhl auf dem Balkon sitzen und auf den Sturm warten. Wenn der Wind stärker wird und mir die

Einsamkeit aus den Knochen drückt, werde ich aufgeregt auf den dunklen, regennassen Sturm warten. Er macht meine Einsamkeit erträglich. Er lässt mich ihr auf eine perverse Art nahe sein. Ich brauche meinen Sturm. Ich werde ihm - vielleicht zum letzten Mal ohne sie - meine Wut entgegenschreien. Oder mit schwacher Stimme krächzen.


Oder flüstern, denn ich habe IHR so viel zu erzählen!




© Ulrich Seegschütz Jan|2012

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