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Die lange Reise der Emily Rose

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Veröffentlicht am 20. August 2023, 96 Seiten
Kategorie Sonstiges
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Die lange Reise der Emily Rose

Kapitel 1



Zu einer Zeit, in der die Menschen noch an Elfen, Trolle und Feen glaubten, lebte einmal, in einem Dorf nahe Hamburg, ein kleines Mädchen namens Emily Rose. Es war dreizehn Jahre alt und verdankte seinen Namen seinem Vater, der ein englischer Seemann war. Es begab sich nun eines Tages, dass ein großes Unglück dem Mädchen alles nahm und es von Stund an ganz alleine auf sich gestellt war. Der Dorfpfarrer, der das Kind zunächst aufgenommen hatte, überlegte lange, was nun zu tun sei. Das Gesetz schrieb vor, dass er Emily Rose ans

Waisenhaus zu übergeben hatte, doch er wusste um die Zustände dort, und so nahm er schließlich das hübsche und aufgeweckte Mädchen zur Seite. „Emily, höre mir mal bitte genau zu. Ich müsste dich morgen früh eigentlich ins Waisen-haus bringen, doch es gibt in Süd-deutschland, einem Ort namens Regens-burg, Verwandte von dir, die dich viel-leicht aufnehmen würden. Es ist sehr weit, aber es ist Frühling und du könntest es schaffen.“

Das Mädchen sah den Geistlichen mit großen Augen an und schwieg, um den Pfarrer nicht zu unterbrechen. „Du wirst viel laufen müssen, aber wenn du Glück hast, nimmt dich eine Kutsche oder ein

Fuhrwerk ein Stück mit. Und halte dich an Flüsse und Bäche. Wasser ist wichtig, zum Trinken und Waschen. Und möglich-erweise kann dich ein Boot oder Schiff ein großes Stück voranbringen.“

Der Priester wurde noch ernster, packte das Mädchen bei den Oberarmen und mahnte eindringlich: „Ganz wichtig: Du musst unbedingt wenn der Sommer vorüber ist, eine Bleibe für den Winter finden! Du kannst im Winter nicht draußen überleben! Hast du das ver-standen?“ Emily Rose nickte ernsthaft und fragte: „Wie heißen meine Ver-wandten in Regensburg?“ „Ihr Name ist Fahrenkamp. Merk dir diese beiden Namen, sag sie immer wieder vor dich

hin: Fahrenkamp und Regensburg!“

Das Mädchen nickte und wiederholte: „Fahrenkamp und Regensburg.“ Der Pfarrer nickte bestätigend und setzte hinzu: „Und halte dich von den Reichen fern. Am ehesten helfen dir Leute, die selber nicht viel haben. Geh niemals mit einem Mann mit, der alleine ist. Egal, was er sagt, egal, wie hungrig du bist: lauf weg! Wenn es sich nicht vermeiden lässt, geh mit, tu so als ob, und bei der ersten Gelegenheit läufst du fort! Und meide die großen Städte! Halte dich an Dörfer, an Bauernhöfe, ja?“

Emily Rose nickte wieder mit dem Kopf und versuchte, sich alles zu merken.

„So“, schloss der Geistliche seine Rede, „nun schlaf dich aus, und morgen früh machst du dich auf den Weg. Frag immer nach München dann hast du die richtige Richtung. Meine Haushälterin Martha näht dir heute Nacht einen Rucksack und füllt ihn mit Brot, Käse und Wurst. – Tja, mehr kann ich nicht für dich tun.“


Und so geschah es.

Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, befand sich das Mädchen bereits auf der Straße, die sie freudig aufnahm, weil sie nicht sehr schwer war und ihr nicht so weh tat wie eine voll besetzte Kutsche. Während ihre dünnen Beinchen sie stetig voran trugen, flüsterte Emily

Rose immer wieder zwei Worte vor sich hin: „Fahrenkamp. Regensburg.“ Und sie marschierte zielbewusst Richtung Süden.


Emily Rose fröstelte. Die Nächte waren noch ziemlich kalt, und das Mädchen, das sich zum Schlafen etwas abseits der Straße in ein Gebüsch verkrochen hatte, war immer wieder aufgewacht. Eigentlich war sie der Natur tief verbunden, aber die Geräusche der Nacht ängstigten sie doch sehr. Sie wusste nicht all zu viel über wilde Tiere, aber genug, um einen gehörigen Respekt vor ihnen zu haben, und sie nahm sich vor, künftig recht-zeitig eine Scheune oder dergleichen zur Übernachtung zu suchen.

Noch vor Sonnenaufgang beschloss Emily Rose, dass es besser wäre, sich wieder auf den Weg zu machen. Plötzlich hörte sie Geräusche, die sich rasch näherten. Erschrocken hielt sie damit inne, ihr Kleidchen von Gras und Schmutz zu befreien und lauschte. Keine Frage: jemand oder etwas kam da auf sie zu! Ein leises Winseln ließ sie jedoch erleichtert aufatmen. Ein kleines Hünd-chen sprang an ihr hoch und Emily Rose hockte sich hin, begrüßte den morgend-lichen Gast und rief fröhlich: „Na? Wo kommst du denn her? Möchtest du mich begleiten?“ Der Mischling kläffte kurz, als ob er sie verstanden hätte, und so

fanden sie sich beide bald auf der Straße wieder , die vom Tau der vergangenen Nacht noch feucht war. „Weißt du“, erzählte Emily Rose dem neuen Reisegefährten, „ich bin auf dem Weg nach Süddeutschland. Das ist ziemlich weit.“ Das Gesicht des kleinen Hundes wurde länger. „Ich muss fast bis nach München. Wie schön, dass ich jetzt einen Beglei….“ Sie unterbrach sich, denn nachdem das Tier das Wort München vernommen hatte, jaulte es auf, klemmte den Schwanz ein und gab Fersengeld!

Verwundert sah Emily Rose dem Hünd-chen nach, und als es sich wieder umdrehte, um weiter zu marschieren,

erblickte sie einen Mann, der einen Wanderstab über der Schulter trug, an dem ein Beutel baumelte. Und der Mann, der irgendwie düster aussah, kam direkt auf sie zu! Emily Rose erinnerte sich an die Worte des Pfarrers und lief so schnell sie konnte davon. Nach Luft ringend, erreichte sie einen Wald und hetzte weiter über Steine und Äste. Sie rannte mal links, mal rechts, und als sie nicht mehr weiter konnte, verharrte sie hinter einem großen Baum und lauschte ängst-lich, ob der Mann ihr gefolgt war. Aber es war nichts zu hören, und nach einer Weile setzte sie ihren Weg fort. Sie wollte einen Bogen schlagen, um wieder auf die Straße zu kommen, stellte aber

bald fest, dass sie sich verlaufen hatte. Sie fühlte, wie eine leichte Panik sich bemerkbar machte und ließ sich erst einmal auf einem Baumstamm nieder, öffnete ihren Rucksack und aß etwas.


Frisch gestärkt wanderte sie einfach weiter in die Richtung, in der sie die Straße vermutete. Etwas später lichtete sich der Wald, aber statt der Straße, näherte sie sich einer großen Schlucht, die so tief war, dass ihr Angst und Bange wurde. In einem Anflug von Verzweif-lung hockte sie sich auf den Boden, verschränkte die Arme auf den Knien und weinte. Glaubte sie doch sicher, nun verloren zu sein. In ihre düsteren

Gedanken hinein erklang plötzlich ein Rauschen und ein Schatten glitt über sie hinweg. Emily Rose erblickte einen riesigen Ballon über sich und jemand rief: „He! du da! Du Mädchen!“ Emily Rose starrte überrascht zu einem Mann, der sich in einem Korb unter dem Ballon befand und offenbar mit ihr sprach. Langsam senkte sich der Ballon und Emily Rose konnte den Ballonfahrer nun besser mustern. Er sah ganz gewöhnlich aus: Er war eher klein und wirkte nett und harmlos. Emily Rose hätte der Begegnung mi dem Mann also beruhigt entgegensehen können – wenn da nur nicht die Sache mit den beiden Köpfen gewesen wäre!


Kapitel 2 - Der Ballon-Fährmann



Der Mann lachte, als er sah, wie das Mädchen bei seinem Anblick erschrak und rief: „Warte einen Moment! Ich tu dir nichts!“ Der Ballon landete sanft und der kleine Mann kletterte hurtig aus dem Korb, sicherte den Ballon mit einem langen Seil und näherte sich vorsichtig dem Kind.

„Keine Angst! Ich bin Hubert Humper-dink. Ich bin Ballon-Fährmann und die beiden Köpfe hab ich nur, weil ich immer beide Seiten der Schlucht fest im Blick haben muss. Weißt du, ein falscher

Moment, einmal nicht aufgepasst und schon erwischt man die falsche Luft-strömung – und dann geht’s ab, meine Liebe!“ Er lachte und Emily Rose, die nun keine Angst mehr hatte, knickste brav und stellte sich ebenfalls vor.


Nachdem sie ihre Geschichte erzählt hatte, erwiderte Hubert Humperdink bedauernd: „Ich würde dich gerne ein Stück weit nach Süden bringen, aber mein alter Ballon taugt nur noch für den Fährdienst. Immerzu bringe ich Leute nach drüben. Obwohl…“, er kratzte sich nachdenklich am Kopf, „ich weiß gar nicht, was die da drüben wollen….. es sieht dort genauso aus wie hier. Es ist

halt „drüben“, und das auch nur, wenn man hier ist. Ist man drüben, ist diese Seite hier drüben. Verrückt! Verstehst du?“ Emily verstand kein Wort, nickte aber höflich. „Kannst du eigentlich be-zahlen?“, setzte der kleine Mann hinzu. „Ich habe leider überhaupt kein Geld – nur etwas Wurst und Käse.“ Hubert stemmte die Arme in die Hüften und rief aus: „Da hast du aber Glück! Der Preis für eine Überfahrt beträgt exakt ein Stück Wurst!“ Emily Rose lächelte und folgte dem lustigen kleinen Mann zum Ballon, der sie bereits nach wenigen Minuten auf der anderen Seite der Schlucht absetzte. Das Mädchen

umarmte den netten Mann herzlich, bedankte sich mit einem Küsschen auf die Wangen – auf alle vier – und wanderte fröhlich davon.














Kapitel 3 – Rezepte


Emily Rose war noch nicht sehr weit gelaufen und befand sich gerade in Sichtweite eines Dorfes, als sie mit einem Mal einen seltsamen Geruch wahrnahm. Sie folgte ihm neugierig bis zu seinem Ursprung und sah eine alte Frau, die vor einem kleinen Häuschen in einem riesigen Kupferkessel rührte. „Guten Tag, ich bin Emily Rose – ist das Suppe, die Sie da kochen?“ „Ach, Herrje! Hast du mich erschreckt! Und nein, das ist keine Suppe. Ich probiere Rezepte.“ „Sie probieren Rezepte, Frau…..?“

„Meinen Namen hab’ ich vergessen“, grummelte die alte Frau, die, nebenbei gesagt, wie eine Hexe erster Güte aussah, und fuhr fort: „Na ja – jeder Mensch hat doch sein eigenes Rezept, um mit dem Leben fertig zu werden. Mit den vielen kleinen und großen Problemen, den Widrigkeiten und besonders dem Älterwerden.“ „Dem Älterwerden?“, fragte das Mädchen mit großen Augen. „Ja ja, dem Älterwerden“, entgegnete die Alte unwirsch. „Weißt du, wenn man älter wird…… ändert sich……alles.“ Ihre Augen wurden feucht. „Was denn alles?“, wollte Emily Rose wissen, die ihre innere Stimme ignorierte, die ihr dringendst dazu riet, fortzulaufen. Da

aber der Samen der Neugier, den Gott jedem Mädchen ins Herz pflanzt, bereits keimte und mit jedem Tag ihrer Reise wuchs, wollte sie nun unbedingt wissen, wovon die Alte sprach. Die aber reagierte ungehalten und meinte nur: „Ach, das verstehst du noch nicht. Du bist zu jung.“ Dann trat sie auf Emily Rose zu und bückte sich. Und zum zweiten Mal ergriff ein Erwachsener das Mädchen bei den Oberarmen und mahnte es eindringlich: „Verschwende niemals Zeit! Hast du verstanden? Niemals!“ Emily Rose verstand wieder kein Wort, nickte aber erneut höflich und nahm sich fest vor, niemals Zeit zu verschwenden.


Um die Frau nicht weiter aufzuregen, wechselte Emily Rose das Thema. Sie deutete auf den Kessel und fragte: „Und davon kann man leben?“ „Nein“, kicherte die Alte. „Natürlich nicht. Ich bekomme eine kleine Rente. Weil mein Andreas im Krieg so tapfer war, zahlt mir Fürst Mitternech jedes Jahr einen Gold-Dukaten! Das reicht für alles, was ich so brauche. Und ich kann sogar regelmäßig etwas zurücklegen..- Und nun Schluss mit der Fragerei! Geh’ ins Haus und wasch dich. Ich komme gleich und mache dir ein leckeres Schmalzbrot, und dann kannst du hier übernachten.“ Emily Rose bedankte sich artig und tat, wie ihr geheißen. In dem Kamin der gemütlichen

Hütte brannte ein kleines, heimeliges Feuer.


Solche Häuser fand man damals übrigens zuhauf: einfache Holzhütten, die um einen soliden Kamin aus Stein herum gebaut waren. Nach einem Brand ragte selbiger wie ein mahnender Finger, der auf einem Häufchen Asche thronte, in den Himmel. Aber solcherlei Gedanken gab sich das Mädchen noch nicht hin. Es langte bei den Schmalzbroten kräftig zu, gähnte dabei ein paar Mal herzhaft und war wenig später auf einer Pritsche, die die alte Frau mit Decken weich gepolstert hatte, erschöpft eingeschlafen. Beim Frühstück am nächsten Morgen

dachte Emily Rose angestrengt nach und schlug der Alten schließlich vor: „Im Dorf gibt es doch sicher Menschen, die nicht genug zu essen haben – warum kochen Sie – mit ihren Kenntnissen von Kräutern - nicht richtige Suppe und helfen damit anderen?“ Die Alte sah sie über ihren Becher hinweg an und erwiderte sanft und nachdenklich: „Du bist mir ja eine.“ Emily Rose lächelte zurück, stand auf und rief: „So, nun muss ich aber weiter!“ Die Frau gab ihr noch ein paar Taler mit auf den Weg. „Kauf dir dafür ein Mäntelchen und – gib gut auf dich Acht!“ Emily Rose bedankte sich erfreut und ging wieder ihres Weges. Die alte Frau

sah Emily Rose nach, bis sie vom Wald verschluckt wurde. Sie versuchte sich zu erinnern, wie sie selber als junges Mädchen war, aber es gelang ihr nicht. Zu viele Jahreszeiten waren in ihrem Leben gekommen und gegangen. Und die Alte, die spürte, dass ihr letzter Winter nicht mehr fern war, kehrte i

n die Hütte zurück und schrieb ein Rezept für eine leckere, nahrhafte Suppe. Und merkte dabei nicht, dass sie damit gleichzeitig das Rezept für ihr Leben schrieb, denn anderen zu helfen kann eine sehr befriedigende Aufgabe sein.




Kapitel 4 – Til



Die kommenden Tage verliefen ereignislos. Emily Rose kam gut voran. Der Frühling nahm langsam Fahrt auf, und das Mädchen befand sich nun in der Nähe von Hermsdorff (das heutige Harmstorf). Einmal war ihr eine zwielichtige Gestalt, ein Mann mittleren Alters, entgegengekommen, der irgend-wie gehetzt wirkte. „Entschuldigung, mein Herr! Können Sie mir bitte sagen, wie weit es bis zum nächsten Ort ist?“, rief Emily Rose ihm zu. „Ich sage kein Wort ohne meinen Anwalt!“, entgegnete

der Mann und eilte weiter. Nach einer Weile fiel dem Mädchen ein anderer Mann auf, der am Wegesrand saß und sich ausruhte. Er schien außerge-wöhnlich groß zu sein. Vorsichtig näherte sich Emily Rose. Da er sie freundlich anlächelte, wünschte sie ihm einen guten Tag und sagte: „Sie sind aber groß“. „Ja“, entgegnete der Mann. „Das ist ja auch kein Wunder. Ich bin nämlich der große Schweiger! Weißt du, früher, als Kind, hab ich soviel gequasselt, Du würdest es nicht glauben! Ich hab geredet und geredet, ohne Ende. Bis mir irgendwann klar wurde, dass man viel besser durch die Welt kommt, wenn man

schweigt und anderen zuhört. Und seitdem ich kaum noch ein Wort spreche, sehe ich die Welt mit ganz anderen Ohren! Das kannst du mir glauben! Komm, wir gehen zusammen weiter. Es ist nicht mehr weit bis Hermsdorff. Heute ist Samstag und da ist immer Markttag, und ich will mir ein neues Hemd kaufen. Das alte ist doch ziemlich verschlissen. Danach kehre ich dann im Wirtshaus ein, um einen leckeren Schweinsbraten mit Kartoffeln und Rotkraut zu mir zu nehmen. Ich hoffe nur, die Leute im Dorf kommen damit zurecht, dass ich so wenig rede. Weißt du, man gilt in diesen Zeiten doch recht schnell als Sonderling. Immerhin, wenn

ich Glück habe, spendiert mir im Gast-haus jemand das Mittagessen, wenn ich ihm zuhöre. Und das kann ich wirklich gut! Du wirst in deinem Leben sicher noch viele Schwätzer kennenlernen, die viel reden, aber gar nichts sagen! Zum Glück hast du mich getroffen. Ich rate dir gut: Hüte dich vor Leuten, die nur von sich selber reden und keine Fragen stellen; es sind meistens oberflächliche Egoisten. So, wir sind da. Ich muss da vorne rechts zu dem Stand. Leb wohl!“


Emily Rose sah ihn mit offenem Mund nach und war nur froh, dass er sie nicht an den Armen gepackt und irgendetwas Mahnendes zu ihr gesagt hatte.

Kurz darauf hatte sie ihn schon verges-sen. Das bunte Treiben auf dem Markt-platz faszinierte sie, und während sie an den Ständen vorbeischlenderte, an denen die Verkäufer Obst, Gemüse, Textilien und allerlei Krimskrams feilboten, war sie überrascht über die vielen ver-schiedenen Gerüche, die sie umgaben.


Als sie am Rathaus vorbeikam, fiel ihr eine öffentliche Gerichtsverhandlung auf, die bei dem schönen Wetter draußen stattfand. Der Angeklagte war wohl gerade etwas gefragt worden, denn er lauschte kurz auf das, was der stattliche Mann neben ihm sagte, dann beugte er sich vor und sprach:

„Ich erinnere mich nicht.“


Belustigt schaute sich Emily Rose weiter um und steuerte ein Gasthaus aus, weil sich ihr Magen mittlerweile wie ein harter Klumpen anfühlte. Sie hielt der Wirtin eine Münze hin und fragte: „Kann ich dafür etwas zu essen bekommen?“ „Ja, natürlich, mein Kind! Dafür gebe ich dir eine Brezel und ein Glas Milch. Is recht?“ Das Mädchen nickte erfreut und nahm kurz darauf beides entgegen. Ruckzuck war die noch warme Köstlichkeit vertilgt und Emily Rose griff zu dem Becher Milch, um die Brezel hinunter zu spülen.

Sie stutzte kurz, weil sie etwas seltsam schmeckte. Vielleicht war sie mit Wasser verdünnt, aber bevor das Mädchen noch richtig darüber nachdenken konnte, wurde ihr schwarz vor Augen. Dass sie vom Stuhl fiel, bemerkte sie schon nicht mehr.












Kapitel 5 – Der allererste Weltkrieg



Es war sehr dunkel. Angesichts des bewusstlosen Bündels, das achtlos in den Straßengraben geworfen worden war, hatte der Mond beschämt sein Antlitz hinter Wolken verborgen. Als Emily Rose wieder zu sich kam, litt sie unter entsetz-lichen Kopfschmerzen. Sie bemerkte schnell, dass ihr Geld verschwunden war. Es war nicht viel gewesen, aber alles, was sie besessen hatte. In der Ferne konnte sie die Lichter von Hermsdorff erkennen. Sie rief sich die Geschehnisse in der Gaststätte in Erinnerung. Die

Wirtin musste ihr etwas in die Milch gegeben haben. Erst viel später erfuhr Emily Rose, dass es sich dabei wahrscheinlich um Suts (Schlaf und träum schön) - Tropfen gehandelt hatte. Wegen ihrer Angst vor dem Waisenhaus, konnte sie die Wirtin nicht einmal den Behörden melden. Sie nahm sich aber vor, künftig nie wieder einen Milch-Drink unbeaufsichtigt zu lassen.


Irgendwann fiel das Mädchen in einen unruhigen Schlaf. „He! Du! Wach auf!“ Emily Rose schälte sich aus ihren Träumen, blinzelte mit den Augen und entdeckte ein blondes Mädchen, etwa siebzehn Jahre alt, das sie rüttelte und

schüttelte. „Guten Morgen. Ich heiße Emily Rose und du?“, murmelte das Mädchen und rappelte sich hoch. „Man nennt mich Blondie. Ich bin ein typisches blondes Dummchen. Was machst du hier im Straßengraben?“ „Ach, das ist eine lange Geschichte. – Sag mal, wieso bist du ein Dummchen? Ich bin auch blond, fühle mich aber gar nicht dumm.“ „Weil du nicht intelligent genug bist, um zu erkennen, wie dumm du bist! Die Leute halten nun mal blonde Frauen für dumm. Da kannst du jeden fragen! Und das impliziert ja, dass dunkelhaarige Frauen sehr klug sind!“ Das fremde Mädchen schaute sehnsuchtsvoll in den Himmel und fuhr

fort: „Glaub mir: Eines Tages werden dunkelhaarige Frauen die Welt beherrschen! Du wirst schon sehen!“ Emily Rose, die fasziniert zugehört hatte, entgegnete: „Also mir kommst du gar nicht so dumm vor….“ „Aber ich kann beweisen, dass ich dumm bin“, triumphierend streckte Blondie ihren Zeigefinger gen Himmel, „ich will nämlich nach Hamburg, dort lasse ich mich zur Prinzessin ausbilden und heirate anschließend einen König. Wenn ich den überlebt habe, übernehme ich die Regentschaft. Und sich die Verant-wortung für ein ganzes Volk aufzubürden – also das ist schon ziemlich dumm!“ „Ja“, bestätigte Emily Rose, „das klingt

ziemlich dumm. Aber du, sei mir nicht böse, ich hab überhaupt kein Geld und muss weiter, um mir etwas zu ver-dienen.“ „Oh, du hast überhaupt kein Geld?“ Sie nestelte an einem kleinen Lederbeutel und ein paar Münzen kamen zum Vorschein. „Hier, nimm, ich habe genug Geld“, flötete Blondie und hockte sich vor Emily Rose hin. Die wusste, was nun kam. Blondie packte sie bei den Oberarmen, sah ihr ernst und tief in die Augen und sagte mit mahnender Stimme: „Bevor du irgendetwas anderes unternimmst: Lass dir die Haare dunkel färben! – So, und nun leb wohl! Ich bin dann mal weg!“


Emily Rose bedankte sich artig und als Blondie außer Sicht war, flüsterte sie: „Bevor ich irgendetwas anderes unter-nehme, kaufe ich mir erst einmal Ledermanschetten für meine Oberarme!“ Sie kicherte, machte sich wieder auf den Weg und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, er möge ihr doch bitte nur ein einziges Mal jemanden schicken, der normal war.


Allein, ihr Gebet verhallte ungehört in den Weiten des schönen Frühlings-morgens.

Bereits eine halbe Stunde später kam ihr ein gerade noch junger Mann entgegen, der schon von weitem mit den Armen

fuchtelte. „He! Sie da! Gehen Sie lieber nicht weiter! Das ist gefährlich!“ Er blieb vor dem Mädchen stehen und rang nach Luft. Emily Rose musterte ihr Gegenüber. Er war irgendwie gut ge-kleidet. Er steckte in einer Art violettem, seidenem Anzug, mit Kniebundhosen, weißen Strümpfen und schwarzen Lackschuhen, die mit protzigen Gold-schnallen besetzt waren. „Warum siezen sie mich? Ich bin doch noch ein Kind!“ Der so Angesprochene reckte sich, warf theatralisch den Kopf in den Nacken und rief: „Ich bin ein Künstler!“

Als die erwartete, respektvolle Anerken-nung ausblieb, setzte er hinzu: „Ein Schauspieler!“ Da Emily Rose weder vor

Begeisterung in die Hände klatschte, noch „ah!“ oder „oh!“ rief, fiel er in sich zusammen und meinte kleinlaut: „Na ja – ist doch so.“ „Und weil Sie Künstler sind, siezen Sie jeden?“, wollte das Mädchen wissen. Der Mann wurde wieder ein bisschen größer und entgegnete mit pathetischer Stimme: „Es kommt nicht darauf an, jeden zu siezen! Wichtig ist, dass man sich anders verhält als gewöhnliche Menschen!“ „Ja, DAS gelingt Ihnen vortrefflich!“ Emily Rose schmunzelte, wurde aber gleich darauf wieder ernst. „Was meinten Sie vorhin damit, dass es gefährlich sei, weiter zu gehen?“ „Nun, ein paar Kilometer entfernt befinden sich zwei Dörfer

- eines links der Straße, das andere rechts – schon seit vielen Jahren mitten in einem Weltkrieg!“ „Aber das geht doch gar nicht….“, warf Emily Rose ein. „Ja, ich weiß, was Sie sagen wollen. Aber als Künstler messe ich den Dingen natürlich mehr Bedeutung bei als andere Menschen. Ich meine damit, dass viele Bewohner ja ihr Leben lang nicht aus ihrem Dorf heraus kommen, es ist also quasi ihre Welt, nicht wahr?“ „Und was war der Grund für diesen Krieg?“, hakte das Mädchen nach. „Nun, vor vielen Jahren hatte ein Bauer beim Aus-schachten eines neuen Brunnens eine Wurfmaschine der Römer, so ein Katapultdings, gefunden und nach dem

Ausgraben aus Jux einen Strohballen auf das Dorf der anderen Straßenseite geschossen. Anschließend kam eins zum anderen. Eine Spirale der Gewalt, verstehen Sie?“ „Oh je! Und ich muss mitten durch!“, seufzte Emily Rose. „Nein, müssen Sie nicht. Sehen Sie dort hinten die beiden großen Bäume? Da gelangen Sie zu der A 7, der außerplan-mäßigen Umgehungsstraße Nr 7, die die Reisenden selber gebaut haben. Allen voran natürlich die Pendler, die jeden Morgen nach Hamburg müssen.“ „Oh, das ist praktisch. Allerdings verzögert sich dadurch meine Reise, und ich habe doch überhaupt kein Geld“, log das Mädchen. „Ach du meine Güte! Hier haben Sie ein

paar Münzen! Mir tut es nicht weh und Sie können sich bei Gelegenheit eine schöne Mahlzeit kaufen und dabei an mich denken! Mein Name ist übrigens Horatio Hosenknopf.“ Er beugte sich vor und raunte vertraulich: „Wobei Sie den Nachnamen bitte als Provisorium betrachten mögen.“ Emily Rose bedankte sich artig für das Geld und entgegnete: „Ich finde den Namen für einen Künstler gar nicht so schlecht; man kann ihn sich gut merken. Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen viel Erfolg und bedanke mich für die Informationen.“ „Und?“, wollte Horatio Hosenknopf wissen, „wie war ich?“ „Ich werde Ihre Darbietung nie vergessen. Da bin ich ganz sicher“,

erwiderte Emily Rose mit gespieltem Ernst und verabschiedete sich schnell, bevor sie in den Genuss einer Zugabe kam















Kapitel 6 – In Deckung! Die Touris kommen!


Ein paar Tage später. Emily Rose, die das Kriegsgebiet unbeschadet hinter sich gelassen hatte und sich nun in der Gegend von Jesteburg befand, wachte recht übellaunig auf. Sie hatte schlecht geschlafen, weil es nachts geregnet und der Baum, zu dessen Füssen sie sich niedergelassen hatte, nur unzureichend Schutz geboten hatte. Nichtsdestotrotz machte sie sich tapfer wieder auf den Weg. Mit einem leeren Magen, der zum Frühstück nur tröstende Worte bekam.


Den düsteren Blick auf die Straße

gesenkt, wurde sie jedoch kurz darauf von Kinderlachen aus ihrer Lethargie gerissen. Ein gutes Stück weit voraus bogen einige Kinder aus einem Feldweg kommend auf die Straße ein. Mit Büchern in den Händen hüpften und sprangen sie lustig voran und waren bald Emily Roses Blicken entschwunden. Als sie den Feldweg erreichte, entschloss sie sich kurzerhand, ihm zu folgen, in der Hoffnung, auf einen Bauernhof zu treffen. Unterwegs fielen ihr die brach liegenden Äcker auf, maß der Ent-deckung aber weiter keine Bedeutung zu.


Schließlich erreichte sie tatsächlich

einen großen Hof und war einigermaßen erleichtert, dass der große Hund, der sie laut bellend ankündigte, sicher angeleint war. Der Bauer, der gerade über den Vorplatz geschlurft war, entdeckte das Kind, rannte aufgeregt zum Haus und brüllte durch die offene Tür: „Maria! Maria! Komm schnell her! Da ist ein Massen-Tourist! Endlich!“

Emily Rose tippte sich in Gedanken an die Stirn und wollte schon auf dem Absatz kehrt machen, als der Bauer bereits seine riesige Pranke auf ihre Schulter legte und rief: „Herzlich willkommen im Haus Fernblick! Wir wünschen…“ „Ach, Hans“, unterbrach ihn die herbei geeilte Bäuerin und schlug

die Hände über dem Kopf zusammen, angesichts des erbärmlichen Zustandes, den das Kind bot. „Siehst du denn nicht, dass das kein Feriengast ist? Das Kind ist doch völlig verdreckt und erschöpft!“ Resolut packte sie Emily Rose am Arm und zog sie mit ins Haus. „Dich setzen wir gleich erst einmal in die Badewanne. Dann isst du etwas und später schläfst dich gründlich aus, ja?“ Emily Rose nickte dankbar und ließ sich willig in die Küche führen, wo die Hausherrin einen großen Kessel Wasser auf den Herd setzte und eine riesige Scheibe Brot für das Mädchen abschnitt. Ein Stück Wurst erschien und Emily Rose konnte deutlich spüren, wie sich ihr Magen eine Serviette

umband und freudig erregt auf die ersten Bissen wartete. Das Ehepaar, das mittlerweile ebenfalls am Küchentisch Platz genommen hatte, schaute Emily Rose freundlich lächelnd beim Essen zu. „Erzähl doch mal, Kind“, fragte die Bäuerin, „wie heißt du denn und wo kommst du her?“


Und Emily Rose begann zu reden und hörte gar nicht mehr auf. Sie erzählte alle ihre Abenteuer, die sie bisher erlebt hatte, und als sie fertig war, kochte auch schon das Wasser im Kessel, und wenig später wurde sie in einem Waschzuber von der Bäuerin gründlich abgeseift. Anschließend durfte sie in ein frisch

gewaschenes Nachthemd eines der Kinder schlüpfen und wurde in eine kleine Kammer gebracht. Dort hatte die Hausherrin ein Bett neu bezogen und nachdem sie dem Mädchen mit einem Lächeln angenehme Träume gewünscht hatte, schloss sie leise die Tür und ließ Emily Rose allein. Und die war schon eingeschlafen, bevor ihr Kopf das Kissen berührte.


Das Mädchen schlief den Rest des Tages und die ganze folgende Nacht. Als es am nächsten Morgen von einem Hahnen-schrei geweckt wurde, fühlte es sich wie neu geboren und räkelte sich wohlig in dem flauschigen Bettzeug. So also war

es, wenn man in einer ganz normalen Familie wohnte, dachte Emily Rose und sprang wenig später aus dem Bett.

Zum Frühstück lernte sie auch die beiden Kinder des Hauses kennen, die auf sie einen freundlichen und gut erzogenen Eindruck machten. Zwischen zwei Bissen fragte Emily Rose: „Sie vermieten also Ferienwohnungen?“ „Ja“, grummelte der Bauer. „Das war so eine Idee von unserem Anlageberater, Herrn Schlucker, weil meine Felder sich ein paar Jahre lang erholen müssen. Aber bisher hat noch kein einziger Gast hierher ge-funden.“

Emily Rose fragte nicht weiter nach. Nach dem Frühstück, als die Kinder sich

auf den Weg zur Schule gemacht hatten, half das Mädchen in der Küche aus und lüftete auf Geheiß sämtliche Ferien-wohnungen.

Anschließend erkundete es die Gegend und war erstaunt, als sie hinter einer Scheune eine seltsame Kutsche ent-deckte, aus deren Seitenteilen Bäume heraus wuchsen. Beim Mittagessen erkundigte sich Emily Rose danach und erfuhr: „Der großartige Herr Schlucker, das geniale Finanzgenie, wurde hier auf dem Hof verhaftet und brummt nun im Gefängnis wegen Untreue und Unter-schlagung. Seitdem gammelt die Kutsche dort vor sich hin.“ „Aha“, meinte Emily Rose, die nach dem Essen wieder in der

Küche half und später, als die Kinder aus der Schule gekommen waren, mit ihnen spielte.


So verging der Tag im Nu, und am nächsten Morgen fühlte Emily Rose, dass es Zeit war, um sich zu verabschieden. Die Bäuerin, die das Mädchen längst in ihr Herz geschlossen hatte, war tief traurig und bot dem Kind an, so lange zu bleiben, wie es mochte. Aber Emily Rose zog es weiter. Schließlich hatte sie ein Ziel. Und so begleitete sie die Kinder noch auf ihrem Weg zur Schule und ging dann allein weiter. Und „allein“ war das Stichwort: Sie fühlte sich auf einmal sehr allein.


Kapitel 7 – Sturmfreie Bude

Es war ein ausnehmend heißer Früh-lingstag. Emily Rose hatte schon vor Stunden die Ortschaft Asendorf passiert und schleppte sich nun langsam voran. Es gab weit und breit keinen Schatten und die Zunge klebte ihr am Gaumen. Ein leichter Wind kam auf und hatte ein paar Wolken im Gepäck. Erleichtert sah die Dreizehnjährige zum Himmel; sie hatte nichts gegen etwas Abkühlung. Aber nach einer Weile wurde ihr klar, dass sie nicht nur einem Schauer entgegen marschierte, sondern einem handfesten Sturm. Der Himmel

ver-dunkelte sich nun ziemlich schnell. Immer mehr Wolken türmten sich übereinander. Emily Rose hatte schon als Kleinkind Angst vor Gewittern gehabt und ging nun schneller, in der Hoffnung, auf ein festes Gebäude oder einen Feld-weg zu stoßen. Und wirklich: Nach einer kleinen Steigung entdeckte sie einen Weg, der schnurstracks nach rechts von der Straße weg und vielleicht zu einem Gehöft führte.

Emily Rose lief ungefähr einen Kilometer ohne etwas zu entdecken. Der Wind war nun stärker geworden. Einzelne, trockene Äste wurden bereits emporgewirbelt. Dicke Regentropfen klatschen auf das Mädchen und den

Feldweg, der sich schon bald in einen Matschweg verwandeln würde. Emily Rose eilte nun immer schneller voran. Und endlich, endlich, kam ein großes Gebäude, eine Art Schloss in Sicht. So sehr sich das Mädchen auch beeilte – der Regen war schneller als sie. Bis sie das Anwesen erreichte, war sie bereits völlig durchnässt und musste sich immer stärker gegen den böigen Wind stemmen.

Am Schloss angekommen, fand sie einen ehernen Türklopfer und betätigte ihn, woraufhin sich die große Eingangstür wie von Geisterhand öffnete. Emily Rose trat in eine enorm große Eingangshalle, Überall brannten Kerzen und in einem

gewaltigen Kamin knackte ein großes Feuer, auf dem sich ein Spanferkel am Spieß drehte. Ein riesiger Tisch bildete das Zentrum des Raumes. Gedeckt mit vielerlei Schüsseln, Tellern, Besteck und Gläsern. Den Mann hätte Emily Rose beinahe übersehen. Er saß bewegungslos in einem Ohrensessel und starrte das Mädchen ausdruckslos an. Er war äußerst vornehm gekleidet. Der rechte Ärmel seines Anzugs war hochgeklappt und an die Schulter genäht. Mit dem noch vorhandenen linken Arm hielt der Mann, der irgendwann die 60 überschritten haben musste, ein Glas Cognac. Sein Mund sprang ein Stück auf, und ein mit Grabesstimme vorgebrachter Satz

knarrte durch die Halle: „Herzlich willkommen auf Schloss Einweg. Fühl dich wie zuhause, mein Kind!“ „Guten Tag! Mein Name ist Emily Rose. Warum hat das Schloss einen so merk-würdigen Namen?“ Ein Blitz zuckte an den fast deckenhohen Fenstern vorbei, gefolgt von einem enormen Donner-schlag. „Zu dem Namen komme ich noch. Setz dich doch erst einmal und trink etwas“, entgegnete der unheimliche Mann. „Wenn Sie gestatten, würde ich mich gerne zunächst ans Feuer setzen – ich bin völlig durchnässt.“ Der Hausherr nickte und deutete mit dem Weinbrand-glas zum Kamin. „Bitte. Du kannst dich auf das Fell setzen, das ist schön weich.

Und wenn du trocken bist, ist bestimmt auch das Spanferkel fertig.“ „Ich esse nichts, was ein Gesicht hat“, räumte Emily Rose ein. „Als ich mit ihm fertig war, hatte es kein Gesicht mehr“, hauchte der Mann und deutete auf ein Messer, das auf dem Tisch lag. Ein Schauer lief über Emily Roses Rücken. Hatte sie das gerade richtig verstanden? Wieder sprangen die Lippen des alten Mannes ein wenig auf: „Nun zu dem merkwürdigen Namen dieses Hauses – es heißt Einweg, weil man nur hinein, aber nicht wieder hinaus gehen kann“, er beugte sich vor und flüsterte: „Weißt du, was ich meine?“ Emily Roses Kehle war wie zugeschnürt. Langsam erhob sie sich

und behielt den seltsamen Kauz dabei ständig im Auge. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und rannte zur Eingangstür. Aber die wurde von demselben Mechanismus, der sie geöffnet hatte, verschlossen und bewegte sich keinen Millimeter. Hastig atmend drehte sich Emily Rose um, lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und blickte sich panisch nach einem Fluchtweg um. Der Schlossbesitzer war indes langsam aufgestanden und näherte sich dem verängstigten Mädchen, das dem Mann in die Augen starrte und sich, wie in Trance, kaum bewegen konnte. Der Mann blieb dicht vor ihr stehen und sagte mit tonloser Stimme: „Ich habe

noch eine schlechte Nachricht für dich….“ Ängstlich wartete Emily Rose auf das Ende des Satzes, das unwiderruflich kommen musste und sie versuchte, sich auf alles vorzubereiten. Aber die vier Wörter, die sie dann hören musste, ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren: „Das ist kein Spanferkel.“










Kapitel 8 – Fee Zee



„Emily Rose!?! – Du lebst?“ Das Mädchen, das gerade das Schloss verlassen und die Dunkelheit der Nacht betreten hatte, sah sich suchend um und fragte verwundert: „Wer spricht da?“ „Hier oben, mein Kind!“ Emily Rose blickte hoch und entdeckte ein kleines, schwirrendes, flirrendes, leuchtendes Wesen. „Wer bist du denn?“ „Ich bin die Fee Zee. Ich beschütze dich.“ „Davon hab ich da drinnen bei dem komischen Typen aber nicht viel gemerkt.“ „Vielleicht sind wir jetzt ein kleines

bisschen ungerecht?“ entrüstete sich die Fee, „vielleicht hab ich bei dem Sturm einen Baum abgefangen, der dich sonst wie eine Mücke zerquetscht hätte? Häh? Häh? Und vielleicht hab ich mir bei der Aktion einen Splitter eingefangen und bin seit dem zu nichts mehr zu gebrauchen?“ „Oh, das wusste ich nicht. Tut mir leid“, bedauerte Emily Rose. „Ich vergebe dir“, lächelte die Fee und zupfte an ihrem Bein, um diesen vermaledeiten Splitter los zu werden. „Wie bist du dem komischen Kauz eigentlich entkommen?“ „Das Ganze hat sich als Scherz entpuppt“, erklärte Emily Rose grimmig. „Er meinte, es hätte gerade alles so schön gepasst: das

Schloss, der Sturm, die Blitze, die Kerzen, der Kamin, und er hätte es sich nicht verkneifen können, mir Angst zu machen. Danach bot er mir Essen und Übernachtung an, aber ich hab’ es dann doch vorgezogen, zu verschwinden.“ „Ich bin jedenfalls froh, dass es dir gut geht. Ich hatte schon befürchtet, ich müsse ein Jahr lang in Schwarz rum- fliegen.“ „Gehe ich recht in der Annahme, dass du in meiner Nähe bleibst und normalerweise unsichtbar bist?“, wollte Emily Rose wissen. „Natürlich! Um nichts in der Welt würde ich mich entfernen – bei dir ist immer etwas los. Für die Geschichten, die du erlebst, muss man sonst Geld bezahlen.“ „Ihr habt

Geld?“ Emily grinste. „Nun werd mal nicht pampig! Vor einer Stunde hast du noch gedacht, dass du deinem Schöpfer bald gegenüber stehst!“ „Ach, weißt du was“, entgegnete Emily Rose erschöpft, „ich bin viel zu müde, um mich zu streiten. Ich geh jetzt und such mir ein ruhiges Plätzchen für den Rest der Nacht.“ „Ja, geh nur“, rief die Fee ihr nach. „Aber meide künftig Bäume, wenn es stürmt. ICH BIN NÄMLICH NICHT HOLLA, DIE WALDFEE!“

Emily Rose lächelte in sich hinein, ging aber zügig weiter, so weit es im Dunkeln möglich war. In dieser Nacht war es ihr jedoch nicht bestimmt, zur Ruhe zu

kommen. Sie war erst wenige Minuten gelaufen, als sie über irgendetwas stolperte. Oder irgendjemanden.
















Kapitel 9 – Schwarzer Freitag



Emily Rose fiel der Länge nach in den noch feuchten Dreck des Feldweges. Nachdem sie sich wieder aufgerappelt hatte, besah sie sich dieses Etwas, das da mitten im Weg lag, näher und tastete, bis sie Gewissheit hatte: Es war ein totes Schaf. Die klebrige Flüssigkeit, die im fahlen Mondlicht schwarz glänzte, konnte nur Blut sein. Angst kroch in dem Mädchen hoch, als es sich ausmalte, was hier geschehen war: Wölfe! Wahrscheinlich hatten sie von dem Tier abgelassen, als die Dreizehnjährige sich

genähert hatte. Es gab nur eines, was sie nun tun konnte: Ganz langsam und behutsam entfernte sie sich von dem gefährlichen Ort. Sie drehte sich nicht um, ging zügig weiter, und atmete erst erleichtert auf, als sie die reguläre Landstraße erreichte. Mittlerweile dämmerte es, und Emily Rose entschied sich dafür, einfach weiter zu marschieren und keinen Schlafplatz mehr zu suchen. Sie wollte nur möglichst viele Kilometer zwischen sich und die Wölfe bringen.


Und dann kam der Regen.

Emily Rose wusste es noch nicht, aber der Regen sollte drei Tage andauern, und er würde sie an die Grenze ihrer

Belast-barkeit bringen.

Das Mädchen war um diese Uhrzeit völlig allein unterwegs, und so sehr es auch Ausschau hielt: Es waren keinerlei Gebäude in Sicht. Erst ungefähr eine Stunde später, Emily Rose war mittler-weile völlig durchnässt, entdeckte sie einen kleinen Schuppen, der dicht an einem Feldweg stand. Sie beeilte sich, öffnete die Tür und blickte sich um. Er war so leer wie ihr Magen. In einer Ecke lagen einige Säcke, die löchrig und sehr verdreckt waren. Das Dach war an einigen Stellen undicht. Durch ein kleines Fenster, durch dessen Glas-scheibe man nicht mehr hindurchsehen konnte, fiel etwas Tageslicht herein.

Emily Rose seufzte angesichts des erbärmlichen Zustandes, in dem sich der Schuppen befand, aber sie überlegte nicht lange, zog sich Kleid und Unter-wäsche aus und suchte eine Stelle, um sie zum Trocknen aufzuhängen. Anschließend kroch sie splitternackt widerwillig, aber notgedrungen, in die Säcke, die zu ihrer Freude wenigstens nicht übel rochen, sondern den Geruch des Strohs angenommen hatten, das hier überall verstreut herum lag.

Nachdem sie fast vierundzwanzig Stunden in der Hütte ausgeharrt hatte, sollte der Geruch von Stroh sie ihr Leben lang an diese Zeit erinnern.


Im Moment aber fühlte sie sich einfach nur elend. Sie war völlig übermüdet und so hungrig, dass sie mit sich selbst schimpfte, weil sie den Schlossbesitzer nicht um Reise-Proviant gebeten hatte. Irgendwann schlief sie ein.

Ein Fehler, wie sich später herausstellen sollte, denn als sie aufwachte, war gerade die Nacht angebrochen und der Regen hielt an. Emily Rose konnte nur da sitzen und warten. Ihre Kleider waren immer noch klamm, und so band sie sich einen der Säcke um, die nebenbei bemerkt, furchtbar kratzig waren, und ging – so gut sie konnte – in dem Schuppen auf und ab.


Der Morgen fand das Kind schlafend vor. Er versuchte neugierig durch das kleine Fenster zu schauen, aber zu seinem Glück war es ihm nicht möglich, etwas zu erkennen. Er hätte sich bei dem Anblick des Häufchen Elends, das zusammengekrümmt in einer Ecke lag, auch nur erschrocken.

Als Emily Rose erwachte, orientierte sie sich kurz und schloss gleich wieder die Augen, als ihr klar wurde, wo sie sich befand. Schließlich kämpfte sie sich aber doch hoch, öffnete die Tür einen Spalt breit und musste zu ihrem Leidwesen feststellen, dass der Regen nicht auf-gehört hatte. Das Mädchen überlegte

kurz, dass es unbedingt Wasser und Essen brauchte und auch nicht wusste, wie lange es noch regnen würde. Also streifte es sich seine immer noch klammen Sachen über und nahm seine Reise wieder auf.

Die Dreizehnjährige marschierte den ganzen Tag über. Sie traf keinen Menschen und nur einmal fuhr eine Kutsche ratternd an ihr vorbei. Ohne anzuhalten. Emily Rose biss die Zähne zusammen und lief weiter. Fühlte aber, wie ihre Kräfte immer mehr schwanden. Ein paar Säcke, die sie übereinander gelegt und schützend um Kopf und Schultern gewickelt hatte, boten längst keinen Schutz mehr, weil sie ebenfalls

völlig nass waren.


Irgendwann an diesem Tag, irgendwo auf der endlos erscheinenden Straße verlor Emily Rose ein Stück ihrer Kindlichkeit.


Es war bereits dunkel, als die Dreizehn-jährige endlich den nächsten Ort er-reichte. Mit äußerster Willenskraft sah sie sich um, ob irgendwo Licht brannte, und entdeckte schließlich ein Gasthaus. Trotz der schlechten Erfahrung, die sie in Hermsdorff gemacht hatte, steuerte sie auf das Gebäude zu. Sie hatte keine Wahl. Sie musste jemanden um Hilfe bitten. Kurz vor der Treppe, die zur Eingangstür führte, brach sie zusammen.


Kapitel 10 Frau Breitscheidt




Es war nicht die freundliche, sanfte Stimme, die sie weckte. Auch nicht die neugierigen Sonnenstrahlen, die in das Zimmer strömten und bis zum Bett vordrangen. Es war dieses unangenehme Gefühl von kalter Nässe auf ihrer Stirn. Verschlafen tastete Emily Rose danach und fand ein feuchtes Tuch, das auf ihrer heißen Stirn lag, während ihre Augen das nette, rundliche Gesicht einer Frau musterten, die auf ihrer Bettkante saß. Das Gesicht sprang auf und Emily Rose,

die die Augen nicht geöffnet halten konnte, hörte, wie jemand sagte: „Keine Angst, Kleines. Du bist hier gut aufge-hoben. Ich bin Frau Breitscheidt die Wirtin dieses Gasthauses, in dem du dich befindest. Du bist ziemlich krank. Der Doktor sagte etwas von Fieber und Schüttelfrost. Aber das kriegen wir wieder hin“, sie lächelte, obwohl das Mädchen sie wahrscheinlich gar nicht mehr hörte, weil es wieder eingeschlafen war. „Ja, so ist recht – schlaf dich gesund.“ Mit diesen Worten erhob sich Frau Breitscheidt und verließ leise das Zimmer.


Und so geschah es.

In den ersten Tagen phantasierte Emily Rose zwar noch etwas, sah Wölfe mit Feen kämpfen und tote Schafe im Ballon über eine Schlucht fliegen, aber es ging ihr mit jedem Tag etwas besser. Sie trank viel – meistens Wasser, aber ab und an auch einen Becher Rotwein, auf dessen kräftigende Wirkung Frau Breitscheidt schwor – schlief irgendwann ruhiger und traumloser, und der Arzt sah gelegentlich nach ihr und nickte dabei zufrieden.


Langsam kehrte die Kraft der Jugend in die Glieder des Kindes zurück. Die Wirtin kümmerte sich rührend um die Kleine. Sie fütterte sie, wusch sie und legte ihr immer wieder kühle Umschläge

auf Stirn und Waden. Später, als es Emily Rose wieder besser ging, führte sie sogar das Bienen- und Blumengespräch mit ihr, das das Mädchen mit hochrotem Kopf über sich ergehen ließ. Nach etwas über einer Woche fühlte sich Emily Rose wieder kerngesund und hätte wie ein Fohlen herumspringend den beginnenden Sommer erkundet – wenn man sie gelassen hätte! Frau Breitscheidt, die trotz ihrer vielen Arbeit aufpasste wie ein Schießhund, zügelte das gerade erst gesundete Fohlenkind, und so fand sich Emily Rose immer öfter im Hinterhof auf einer Bank in der Sonne sitzend wieder. Emily Rose lächelte still vor sich hin, während sie an die Wirtin dachte. Was

wäre wohl ohne Frau Breitscheidt aus ihr geworden? Das Mädchen lehnte den Kopf zurück an die Hauswand, schloss die Augen, um nicht direkt in die Sonne zu blicken und fühlte, wie ihr Gesicht rasch warm wurde. „Es gibt doch auch ganz schön viele gute Menschen“, überlegte sie. Dann gab sie sich den Befehl, an gar nichts mehr zu denken und nur die Sonne zu genießen. Aber die Frage, wie es nun weitergehen sollte, schob sich immer wieder wie eine Wolke vor ihre geschlossenen Augen.


Die Beantwortung dieser für sie wichtigen Frage, wurde ihr erst einmal abgenommen. Emily Rose war anständig

genug, sich für die Hilfe, die ihr zuteil geworden war, zu revanchieren. Anfänglich ließ Frau Breitscheidt sie nur kleine Tätigkeiten übernehmen, um sie noch zu schonen. Aber nach und nach machte sich Emily Rose immer nützlicher Sie half in der Küche, machte Be-sorgungen und stand auch schon einmal hinter der Theke oder bediente Gäste. Auf ausdrücklichen Wunsch von Frau Breitscheidt aber ausschließlich tags-über. Und so half Emily Rose der allein- stehenden Wirtin, wo sie nur konnte.


Und so verging der Sommer.

Einen großen Teil ihrer Freizeit ver-brachte Emily Rose an dem kleinen See,

der ganz in der Nähe lag. Sie dachte viel nach und las sämtliche Bücher, die sie bekommen konnte. Wenn sie nicht frei hatte, war sie mit Freude bei der Arbeit und es dauerte nicht lange, bis jeder sie mochte, weil sie auf eine sehr natürliche Art nett und freundlich war, und dabei immer hübscher wurde. Frau Breitscheidt mutmaßte sogar, dass einige der Gäste nur oder häufiger kamen, um Emily Roses Gegenwart zu genießen. Allerdings beobachtete die Wirtin die positive Entwicklung ihres Schützlings auch mit einem gerüttelt Maß an Sorge. Denn schöne Dinge wecken Begehrlichkeiten bei Menschen, die diese Dinge besitzen wollen. Und – ohne ihnen zu nahe treten

zu wollen – diese Menschen sind nicht immer reinen Herzens. Und so drängte die Wirtin im Laufe der Zeit das Mäd-chen immer mehr dazu, sich zumindest im Gasthaus nicht allzu hübsch zu bewegen, was man zum Beispiel schon dadurch erreichte, dass die hübschen blonden Haare streng nach hinten gekämmt und zu einem Knoten zusammengebunden wurden. Frau Breitscheidt war eine sehr weise Frau. Und da Emily Rose ebenfalls nicht dumm war, und weil sie die mahnenden Worte des Pfarrers zu Beginn dieser turbulenten Geschichte nicht vergessen hatte, was das Überleben auf der Straße im Winter betraf, entschied sie sich, noch etwas zu

bleiben und vorläufig nicht weiter zu ziehen. Mindestens bis zum nächsten Frühling.



Aber aus Monaten wurden Jahre und Emily Rose, die immer schöner wurde, fühlte sich bei Frau Breitscheidt so richtig wohl. Alles war gut.

Bis, eines Tages.....









Kapitel 11 – Ein seltsamer Besucher




Emily Rose putzte gerade die Küche, als es an der Hintertür klopfte. „Nanu!“, dachte sie, „wer kann das sein, so früh am Morgen?“ ,, und rief laut: „Herein!“ Zögernd öffnete sich die Tür und ein Mann, mittelgroß, schlank, seltsam gekleidet, etwas über fünfzig Jahre alt, und mit einer Ausstrahlung, die Emily Rose in den Knien schwach werden ließ, betrat langsam, fast schüchtern die kleine Diele. „Guten Tag, Emily Rose“, sagte er mit sanfter und ruhiger Stimme.

„Woher wissen Sie, wer ich bin“, fragte Emily Rose verdutzt. „Ich möchte Sie und Frau Breitscheid sprechen. Gehen wir nach oben.“ „Ja, die ist oben – woher wissen Sie das?“. „Das erkläre ich Ihnen beiden gleich. Kommen Sie! Gehen wir!“ Er wirkte sehr bestimmend. „Ähm….ja….sicher.“ Zusammen kletterten sie die kleine Stiege ins Obergeschoss hinauf und betraten das Zimmer, in dem die Wirtin gerade Fenster putzte. Sie hörte die beiden, drehte sich um und strahlte den Besucher an, wie das so ihre Art war. Doch bevor sie etwas sagen konnte, begann der Fremde zu reden: „Guten Tag, Frau Breitscheidt. Ich muss Sie beide mal in

einer ernsten Angelegenheit sprechen. Setzten Sie sich doch bitte auf das Bett und hören mir einen Moment zu.“ Sprach’s und nahm sich selbst den einzigen Stuhl. „Also…. Ich bin der Autor Ihrer Geschichte, Ihres Lebens, und während der langen Zeit, die ich quasi mit Ihnen verbracht habe, ist so eine Art von Beziehung entstanden“. Er unterbrach sich, blickte etwas verliebt in Emily Roses hübsches Gesicht, senkte aber gleich darauf beschämt die Augen und fuhr fort: „ Also, um es kurz zu machen…… Sie müssen bald sterben und das wollte ich Ihnen gerne selber mit-teilen. - So! Nun ist es heraus!“ Frau Breitscheidt legte den Kopf schief und

erwiderte: „Und das wissen Sie so genau?“ „Nun ja – ich bin der Autor…..“ „Aber das kann doch nicht sein. Sie tauchen hier auf und jagen uns einen solchen Schrecken ein!“ „Genau“, fügte Emily Rose hinzu, „da kann ja jeder kommen und irgendetwas behaupten!“ „Ich komme aus der Zukunft – schauen Sie sich meine Kleider an, meine Armbanduhr, Führerschein, Personal-ausweis….“ Der Mann streifte die Armbanduhr ab und reichte sie weiter. Beide Frauen beugten sich vor und staunten. „Eine Uhr, die man am Handgelenk tragen kann!“, rief die Wirtin erstaunt aus. „Was es nicht alles gibt!“ „Gibt es ja nicht“, wandte der

Autor ein. „Jedenfalls jetzt noch nicht. Erst in ein paar hundert Jahren“. Sichtlich betroffen fragte Frau Breitscheidt: „Dann war das ernst gemeint, was Sie gesagt haben? Über das Sterben?“ Der Mann nickte mit be-drückter Miene. Emily Rose rief: „Oh, mein Gott!“, und schlug die Hände vors Gesicht. Frau Breitscheidt senkte traurig den Kopf und flüsterte: „Ich hatte noch so viel vor….. hinten im Hof wollte ich eine Relais-Station für die Post-kutsche….“ , sie brach schluchzend ab. Emily Rose sagte tonlos: „Ich bin noch nicht einmal 19 Jahre alt. Eigentlich hätte ich das ganze Leben noch vor mir. – Kann ich denn gar nichts tun?“ Ihr

flehender Blick ruhte auf dem Autor. „Es…es tut .... tut mir leid“, stotterte der Mann, nicht minder betroffen als die beiden. „Weiß man, wann und wie….?“, fragte Frau Breitscheidt flüsternd und setzte hinzu: „Wird es weh tun?“ „Nein, nein“, beruhigte sie der Mann. Heute Nacht, wenn Sie beide schlafen……“ Die Wirtin nickte ergeben. Und Emily Rose wollte wissen: „Bleiben Sie bei uns – bis zum…. Ende?“ Der Autor lächelte schwach und räumte ein: „Ich glaube, das bin ich Ihnen schuldig. Jedenfalls bleibe ich bis kurz vorher. Sie verstehen – ich muss das Ende in der Realität schreiben, nicht hier…..“ „Ja, ich verstehe“, hauchte Emily Rose, „ich danke

Ihnen.“ Eine Zeitlang herrschte Schweigen in dem kleinen Raum. Traurig hing jeder seinen Gedanken nach. Plötzlich fragte Frau Breitscheidt mit brüchiger Stimme: „Was wird aus meinem Gasthaus?“ „Das wird verschwinden. Alles verschwindet“, er sah Emily Rose an und fuhr fort: „Der Pastor, Hubert Humperdink, die nette Bauernfamilie mit den Ferienwohnungen – na, alles eben.“ Die junge Frau nickte verstehend, vergrub ihr Gesicht wieder in den Händen und schluchzte: „Ich will nicht sterben!“ Frau Breitscheidt nahm sie in den Arm und tröstete sie. Plötzlich löste sich Emily Rose von der Wirtin, wischte sich mit den Handballen die

Tränen aus den Augen und bewies, aus welchem Holz sie geschnitzt war. Tapfer fragte sie: „Wenn ich schon als Jungfrau sterben soll – darf ich Sie da einmal umarmen?“ „Ich weiß gar nicht, ob das geht – ob es „echt“ ist, aber….“ Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Emily Rose ihm schon am Hals hing. Und es fühlte sich gut an. Der Autor stand auf, sah der jungen schönen Frau in die Augen und küsste sie. Seine Hände strichen durch ihre Haare, und sie fühlten sich genau so seidig an, wie er es sich gedacht hatte. Und seine Fingerspitzen berührten sanft ihr Gesicht, und es fühlte sich genau so an, wie er es sich gedacht hatte. Und als

Emily Rose sich heftig an ihn drückte, gingen seine Gedanken auf Wanderschaft. Verließen das Gehirn, kamen an seinem knallroten Gesicht vorbei und suchten – getrieben von seinem pochenden Pulsschlag - den Bereich weiter unt….. „Moment mal!“, rief die Wirtin aufgeregt, „wenn ich das alles richtig verstanden habe, könnten SIE uns weiterleben lassen, wenn Sie es nur wollten!?“, fragend sah sie den Mann an. „Nun ja, theoretisch………“ Die Wirtin lächelte triumphierend, zwinkerte Emily Rose zu, und meinte: „Ich glaube, ich lass euch beide mal alleine…..“ Wie gesagt, Frau Breit-scheidt war eine sehr weise Frau. Kaum

hatte sich die Tür geschlossen, als Emily Rose sich noch fester an den Autor drückte und ihm ihre geöffneten Lippen bot.

Und dann……..nun ja….. in dieser Nacht starb niemand. Im Gegenteil. Aber dazu später.


Am nächsten Morgen streichelten der Mann mit seinen verliebten Händen und die Sonne mit ihren wärmenden Strahlen den wunderschönen Körper der Emily Rose gleichermaßen. Die junge Frau erwachte lächelnd und nach einem langen Kuss nahmen die beiden auf eine Art Abschied, wie sie nicht beschrieben, sondern erlebt werden sollte.


Später im Flur, der Autor hatte die Türklinke schon in der Hand, sagte Emily Rose mit einem Blick auf ihre Armbanduhr lächelnd: „Danke für das schöne Geschenk und dass du uns leben lässt.“ Er lächelte zurück und die junge Frau fragte: „Was wird mit mir ge-schehen….. später?“ „Es würde dir nichts nützen, wenn ich es sagte. In dem Moment, wo ich durch die Tür gehe, wirst du mich und alles, was ich sagte, vergessen haben. Es wird höchstens ein Gefühl bleiben, wie nach einem Traum.“ „Trotzdem – bitte, ich möchte es wis-sen.“ „Also gut. Du wirst schwanger von mir. Und es wird nicht lange dauern, da

kommt ein Kaufmann aus Maschen hier vorbei, verliebt sich in dich, heiratet dich und nimmt dich mit nach Hause. Dass das Kind nicht von ihm ist, wird er nicht merken. Er wird es kaum ansehen, weil er nur dich anschaut – denn du wirst immer noch schöner werden.“

Emily Rose lächelte über das Kompliment und hauchte: „Danke…… leb wohl.“


Und alles kam so, wie es geschrieben stand. Der Kaufmann aus Maschen kehrte im Gasthaus ein und verliebte sich in dem Moment, in dem er Emily Rose erblickte. Er warb so lange um sie, bis sie lächelnd nachgab, und sie heiratete

ihn, als er sie darum bat, weil er ein guter und braver Mann war, und sie folgte ihm nach Maschen.



Und so endete die lange Reise der Emily Rose auf der Suche nach Familie und Geborgenheit in ihrer eigenen Familie in der Nähe von Hamburg.

Und sie lebten alle glücklich und zu-frieden.

Einmal, nachdem sie sich von Frau Breitscheidt verabschiedet und das Gasthaus verlassen hatten, um in seine Kutsche zu steigen, fiel der Blick ihres Mannes auf die Armbanduhr und er fragte überrascht: „Was ist das denn?“

Und Emily Rose antwortete lächelnd: „Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, wie es an mein Handgelenk gekommen ist. Aber ich möchte es gerne behalten. Es sieht wertvoll aus, und ich habe doch überhaupt kein Geld“.




ENDE


© Ulrich Seegschütz

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