Biografien & Erinnerungen
Mein Tagebuch - Ein ehrenwertes Haus

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"Der "Schweizer""
Veröffentlicht am 30. November 2022, 24 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

...ich bin Ines, geboren und aufgewachsen in der ehemaligen DDR, nach der Grenzöffnung und seit dem Auszug meiner 3 Kinder viel unterwegs, woraus sich auch mein spitz- und username vagabundinchen (vagabund + inchen) ergibt. Ich bin ein Typ, mit dem man Pferde stehlen kann (wenn ich das von mir selbst behaupten darf), meine Hobbys sind lesen, schreiben, Fahrrad fahren, wandern, angeln, zelten ...und alles, was Spaß macht. Ich mache ein paar Mal ...
Der "Schweizer"

Mein Tagebuch - Ein ehrenwertes Haus

Ein ehrenwertes Haus




Der "Schweizer"



Heute möchte ich euch den „Schweizer“ vorstellen. Ich weiß gar nicht mehr, wie der in Echt hieß, da er nur ein paar Monate im Haus wohnte. Aber er hatte einen Schweizer Dialekt, weswegen er in unserer Hausgemeinschaft diesen Spitznamen bekam. Ich finde den ja süß, … also den Dialekt, nicht den „Schweizer“ selbst. Im Gegenteil, der kam mir immer etwas suspekt vor. Und ein wenig gruselig. Und ich erkläre euch auch gleich, warum. Der „Schweizer“ zog etwa 3 Monate nach

Andrès Umzug in eine betreute Wohnanlage neben mir ein. Der Einzug selbst gestaltete sich sehr einfach und erfreulicherweise auch recht leise, nachdem die Wohnung vorher über Wochen hinweg lautstark und nervenaufreibend saniert worden war. Denn der leicht untersetzte Mann im mittleren Alter und beginnendem Kahlschlag auf dem Haupt reiste nur mit einer Matratze und 5 blauen Ikea-Taschen an, in dem er sein gesamtes Hab und Gut zu haben schien. Das war´s. Wenige Tage später stellte er sich bei mir vor und erwähnte so ganz nebenbei, wie wichtig ein gutes Verhältnis zur

Nachbarschaft sei. Ganz meiner Meinung (aber natürlich in einem gewissen Rahmen). Die Tage vergingen und hin und wieder meldete sich der „Schweizer“ bei mir, um mich zum Beispiel nach einem bestimmten Laden oder den nächsten Standort einer Postfiliale zu fragen. Auch wenn man ihn auf der Straße begegnete, grüßte er freundlich und alles schien normal zu sein. Da er im späten Herbst und somit bei kühleren Temperaturen bei uns eingezogen war, konnte man ihn draußen anhand seiner leuchtend gelben Strickmütze (ohne Bommel) erkennen. Die trug er stets und

wie ich bald feststellen konnte, anscheinend auch im Haus. Denn irgendwann stand er abends um 20 Uhr bei mir vor der Tür, im gestreiften Schlafanzug, Hausschlappen und eben der gelben Strickmütze. Ich öffnete, weil ich dachte, dass er vielleicht eine Frage oder ein Problem hätte. Dies war aber gar nicht der Fall. Er fing an, mir von seinem Tag zu erzählen und laberte mir letztendlich die nächste dreiviertel Stunde lang die Ohren voll. Natürlich wollte ich nicht unhöflich sein. Und da ich Zeit hatte, ließ ich mich an meiner Wohnungstür auf das Gespräch ein. Aber ich ließ ihn nicht in meine Wohnung.

Was damals für Walter galt, war mir auch nun wichtig. Irgendwann schienen diese Gespräche für meinen neuen Nachbarn zu einer lieben Gewohnheit zu werden. Alle zwei bis drei Tage klingelte er und immer abends, sobald die 20 Uhr Tagesschau im Fernsehen begann. Und immer in seinem Schlafanzug, den Hausschlappen und der grell gelben Wollmütze (ohne Bommel). Dann stand er da, mit seiner leicht getönten und viel zu großen Brille, schaute mich mit seinem Dackelblick an und erzählte mir zum Beispiel, dass er in einem Italienischen Restaurant essen war, das einem Bekannten gehört und

nun bald leider insolvent gehen muss. Flüsternd verriet er mir, dass der Inhaber wohl Drogen verkaufen würde und deshalb jetzt auch Ärger bekam. Oder er erzählte weinend von seiner Mutter, die schon vor Jahren gestorben war und die einzige in der Familie war, die ihn leiden konnte. Mit seinem Vater und seinem Bruder war der „Schweizer“ wohl verstritten und hatte sie schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen oder von ihnen gehört. „Tja“, meinte er dann jedes Mal „die Mutter ist eben die Stütze der Familie, wenn die wegbricht, bricht die ganze Familie auseinander.“ Ok, das hatte ich zwar in meiner Familie anders

erlebt, aber das sagte ich ihm natürlich nicht. Ich nickte also nur zustimmend, hielt meinen Mund, hoffte, dass dieses Gespräch bald für heute beendet sei und ich zurück in mein Wohnzimmer könne. An manchen Tagen verdrehte ich nur die Augen und öffnete erst gar nicht die Tür, wenn es am Abend klingelte. An anderen Tagen nahm ich mir vor, ihn schnell wieder abzuwimmeln, aber das klappte meist nicht wirklich schnell. Ich weiß, eine meiner Schwächen: Ich bin eben zu lieb. Und manchmal rächt sich das. Belastend war nur, dass sich die Themen häufig wiederholten. Aber ich hatte ja einiges Verständnis dafür, immerhin

kannte er hier niemanden wirklich (außer den Drogen-verkaufenden Inhaber des Italienischen Restaurants, welches demnächst Pleite gehen würde). Natürlich blieben unsere regelmäßigen Plaudereien im Hausflur von den anderen Mietern nicht unbemerkt. Denn schließlich kamen viele von ihnen in dieser Zeit vom Einkauf oder der Arbeit nach Hause oder brachten ihren Müll raus. Oder schauten nur verwundert aus der Wohnung, um zu schauen, wer da wieder so laut im Flur redete. Micha (unser hauseigener Verschwörungstheoretiker) sprach mich

mal daraufhin an und fragte mich, was es denn immer so viel zu quatschen gab. Und er stellte eine nicht mal so dumme Frage, die auch mich schon des Öfteren beschäftigt hatte: Warum bitte schön hatte der „Schweizer“ immer einen Schlafanzug an, jedes Mal, wenn er an meiner Wohnungstür klingelte? Daraufhin hatten wir beide nicht wirklich eine logische Erklärung, aber wir witzelten darüber, dass der sich vielleicht heimlich wünschte, dass ich ihn in die Wohnung ließe und der gestreifte Schlafanzug so eine Art „Wink

mit dem Zaunpfahl“ sei. Sollte dies der Fall gewesen sein: Tja, sorry, aber da war er bei mir an der ganz falschen Stelle. Einmal wollte der „Schweizer“ im gestreiften Schlafanzug mir irgend ein Schreiben aus seiner Wohnung zeigen und ich ging bis an seine Wohnungstür mit. Er ging hinein und ließ die Tür offen stehen. Neugierig warf ich einen Blick hinein. Selbst nach Wochen besaß er immer noch keinerlei Möbel oder viele persönliche Gegenstände. Da lag die Matratze auf der Erde, mit einer einfachen Decke, die zerknüllt darauf lag. Kein ordentliches Bettzeug, nicht

mal ein Kissen oder ein Laken. An der Wand unter dem Fenster standen immer noch die Ikea Taschen und immer noch gefüllt mit ein paar Klamotten und Aktenordnern. Davor stand auf dem Fußboden verloren ein aufgeklappter Laptop, der mit dem Ladekabel an der nächsten Steckdose hing. Also ich stellte mir das Arbeiten, Chatten oder was auch immer auf der Erde irgendwie extrem unbequem vor. Im Internet shoppen schien er ja nicht, da er ja nicht viele Besitztümer besaß. Also ich hatte ja schon einige Männerhaushalte gesehen und auch schon mal über Minimalismus gelesen, aber das

hier fand ich trotzdem irgendwie komisch. Also fragte ich ihn, ob das denn nicht etwas unbequem sei. Er antwortete mir mit einer absurden Geschichte, die ich genauso wenig glauben konnte wie die des Drogen-handelnden Restaurantbesitzers. Obwohl... die war in Berlin gar nicht so abwegig. An den nächsten Abenden hatten wir dann wieder genügend Gesprächsstoff. Angeblich hatte der „Schweizer“, bevor er hierher gezogen war, in Italien gelebt und wohl auch ein Haufen Geld gehabt. Er hätte ein tolles Haus besessen, auf einem großen Grundstück und einen Ferrari. Anscheinend ging es nicht

kleiner. Aber dann musste er Italien verlassen und dürfe wohl auch nie wieder einreisen. Den Grund hatte er nicht genannt, auch wenn er sonst sehr gesprächig war. Haus, Grundstück und Auto wurden verkauft und nun warte er auf das Geld. Und wenn das kommen würde, dann würde er sich hier richtig schön häuslich einrichten. Irgendwie verhindere die Regierung, dass er sein ihm rechtmäßig zustehendes Geld bekommen würde und er hätte auch schon einen Rechtsanwalt hier eingeschaltet. Es könne sich nur noch um Tage oder wenige Wochen handeln, bis er sein Vermögen bekäme.

Ich nahm ihm die Story nicht wirklich ab, wollte mich aber nicht mit ihm streiten. Also dachte ich mir nur so meinen Teil und hielt den Mund. Ich meine, dieser kleine leicht untersetzte Mann mit beginnender Glatze, die er „gekonnt“ mit einer grell gelben Wollmütze kaschierte, die leicht getönte viel zu große Brille und vor allem der gestreifte Schlafanzug und die Hausschlappen ließen den „Schweizer“ harmlos und vielleicht etwas kauzig erscheinen. Aber vielleicht war er ja der mit Drogen handelnde Typ und hatte deshalb das lebenslange

Italien-Einreise-Verbot bekommen. Falls es so etwas überhaupt gibt. Oder hatte ich mich bei Micha angesteckt und wurde nun langsam auch schon zu einem Verschwörungstheoretiker? Wer weiß das schon so genau... Und dann kam die Zeit, an denen die abendlichen Besuche ausblieben. Aber ich wurde vorab auch von meinem irgendwie spooky wirkenden Nachbarn darauf vorbereitet. Denn er fuhr zur Kur, für mindestens 6 Wochen. Sagte er zumindest. Letztendlich wurden es ganze 10 Wochen und ich fand es irgendwie gar nicht schlimm, dass er nicht da war. Warum nur... :-D

Vielleicht war der aber auch gar nicht zur Kur, sondern im Knast, denn wer geht schon ohne Anzeichen von Krankheiten (und vor allem, ohne dass er mir davon erzählt hätte) so lange zur Kur? Sollte mir aber auch egal sein. Ich genoss die ungestörten Abende. Doch eines Abends war er dann wieder da. Zur gewohnten Zeit und im gewohnten Outfit. Alles war wieder beim Alten. In den nächsten Wochen stapelten sich bei ihm jedoch die Briefe von der Wohnungsbaugenossenschaft Allod, die unsere Wohnungen verwaltete. Ganz

entrüstet zeigte der „Schweizer“ mir die Briefe, die freundlich begannen und mit verstreichender Zeit langsam einen immer härteren Ton anschlugen. Der Grund: Der „Schweizer“ hatte während seines „Kuraufenthalts“ (?) keine Miete gezahlt. Als ich ihn fragte, warum denn nicht, meinte er nur, dass er in der Zeit ja nicht hier gewohnt hatte. Er hatte sie nicht genutzt und war der Meinung, dass er deshalb auch nicht zahlen müsse. Meine Einwände ließ er nicht gelten und war auch nicht umzustimmen. Tja, und die Konsequenzen folgten auf dem Fuße. Die zu zahlenden Kosten stiegen erst rasant

an und nachdem der säumige Mieter immer noch nicht reagierte, erfolgte die Zwangsräumung. Also nicht, dass es da viel zu räumen gab. Denn die fast halbe Million Euro durch den Verkauf seiner Güter in Italien waren ja noch nicht eingegangen und somit war die Wohnung immer noch gähnend leer. Mit oder ohne Vermieter. Denn noch vor dem Räumungstermin war der „Schweizer“ plötzlich verschwunden. Spurlos. Und ohne eine Erklärung. Kurze Zeit später wurden die wenigen Habseligkeiten von einem Entrümpel-Unternehmen aus dem Haus getragen. Das ist nun bereits mehr als 4 Jahre her

und seitdem steht die Wohnung neben mir leer. Und das bei dem Wohnungsmangel, der in Berlin herrscht. Aber irgendwie auch verständlich. Denn inzwischen hat unser Vermieter gewechselt und wir müssen uns nun mit der „Deutschen Wohnen“ herumärgern. Wer mal im Internet nachschaut, kann sehen, wie mies die mit ihren Mietern umgeht. Unzählige Beschwerden und Erfahrungsberichte zeugen von dem menschenverachtenden und nur auf Profit ausgelegten Firmenpolitik. Und die Mieten sind stark angestiegen. Für mein 5x4 m großes Einraum-Zimmer mit Küchenzeile und winzigem Klo ohne Fenster bezahle ich inzwischen 396,20

Euro. Und ich bin da noch preiswert dran, da meine Wohnung noch nicht saniert wurde. Fußbodenbelag und Wasserhähne stammen alle noch aus der DDR. Eine gleichgroße sanierte Wohnung wie die neben mir, allerdings mit Balkon (meine ist ohne) kostet hier inzwischen knapp 700 Euro. Das ist vielen einfach zu teuer. Und so wird die Wohnung neben mir wohl noch eine Weile leerstehen. Was aber auch nicht schlimm ist. So kann ich meine Ruhe genießen und bekomme keinen Besuch mehr von fremden Männern im Schlafanzug.

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Hörbuch

Über den Autor

vagabundinchen
...ich bin Ines, geboren und aufgewachsen in der ehemaligen DDR, nach der Grenzöffnung und seit dem Auszug meiner 3 Kinder viel unterwegs, woraus sich auch mein spitz- und username vagabundinchen (vagabund + inchen) ergibt. Ich bin ein Typ, mit dem man Pferde stehlen kann (wenn ich das von mir selbst behaupten darf), meine Hobbys sind lesen, schreiben, Fahrrad fahren, wandern, angeln, zelten ...und alles, was Spaß macht. Ich mache ein paar Mal in der Woche Linedance und probiere gerne mal was Neues aus. Freundschaften sind mir sehr wichtig. Wenn ihr mir schreiben wollt, dann traut euch ruhig. Ich beiße nicht.
Ansonsten viel Spaß beim Lesen...

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baesta Mir gefällt einfach Deine lockere flapsige Schreibweise, mit der Du komische oder skurrile Situationen gekonnt darzustellen vermagst. Ja, es gibt schon komische "Vögel", aber bei uns auf dem Dorf hält sich das eher in Grenzen.
Von der "Deutschen Wohnen" habe ich auch schon gehör. So was gehört eingentlich verboten, ebenso, wie man Spekulationen damit an der Börse verbieten sollte. Solche Art Börsengeschäften heizen ja die Teuerung erst richtig an.
Aber nach Berlin brächten mich sowieso keine 10 Pferde. War im Leben 2 oder 3 x in Berlin und das reichte mir.

Danke nochmals für den "Spaß" mit diesem skurrilen Nachbarn.
Liebe Grüße
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
vagabundinchen Liebe Bärbel,
stimmt, Berlin ist nicht für jeden was. Ich hab auf dem Land gewohnt, in Dörfern, die nur wenige Hundert Einwohner hatte, in mittelgroßen Städten und in der Millionenstadt. Kenne also alles. Am liebsten wäre ich auch irgendwo in der Natur, gerne auch ganz alleine. Aber ich genieße auch, dass ich hier alles in der Nähe habe oder leicht mit Bus erreichen kann. Egal, ob Bekleidung, Möbel oder Kino. Hat also alles seine Vor- und Nachteile.
Hab noch einen schönen Abend
Lieben Gruß
Ines
Vor langer Zeit - Antworten
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