Kurzgeschichte
Ein Blick in die Vergangenheit

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"Die Wahrheit kann unbarmherzig sein, wie ein Raubtier, das langsam auf seine Beute lauert. "
Veröffentlicht am 27. Oktober 2022, 20 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Sandra Cunningham - Fotolia.com
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Die Wahrheit kann unbarmherzig sein, wie ein Raubtier, das langsam auf seine Beute lauert.

Ein Blick in die Vergangenheit

Blick in die Vergangenheit

Die Wahrheit kann unbarmherzig sein, wie ein Raubtier, das langsam auf seine Beute lauert. Wenn sie sich dann den Weg ans Tageslicht sucht, pirscht sie sich langsam an wie eine Löwin. Auf einmal im Moment der Erkenntnis geht alles ganz schnell, die Beute wird von den mächtigen Zähnen der Gewissheit gepackt und langsam zu Boden niedergerungen. Man kann diesem Untier nur schwer entkommen und wenn man sich ergibt, wird man erbarmungslos verschlungen. Es ist aber nicht so, als hätte man keine Chance, immerhin kann man sich eine eigene Welt

zusammenbauen, um zu überleben. Eine Welt mit vielen Kurven und geschlagenen Haken, sodass man die eigentliche Wahrheit abschüttelt und nicht mehr erkennen kann oder muss. Es ist nicht einfach, wird aber immer wieder praktiziert. So ist der Mensch, redet sich Sachen ein, die nicht der Wahrheit entsprechen und glaubt sie dann irgendwann. Dieser Selbstschutz lässt die Menschen leben und die Gesellschaft bestehen. Allerdings hat nicht jeder diese Fantasie und das Selbstbewusstsein, um sich diese besonderen Welten einzureden. Eines meiner großen Talente ist, dass ich den Menschen immer die Wahrheit sagen

kann. Es ist keine wirkliche Superkraft, sondern eher ein Fluch, der mich immer und überall anecken lässt. Es hat mir immer schon viele Probleme gemacht, dass ich mich nicht wirklich diplomatisch ausdrücken konnte, aber warum sollte man ein kurzes Leben mit Diplomatie verschwenden? Ehrlich soll man bleiben, hat mir meine Mutter schon gesagt, also habe ich auch für die kleinsten und nettesten Flunkereien kein Verständnis. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich muss gestehen, dass ich dennoch einen guten Umgang mit den Menschen habe. Das Komische ist, dass sie mir

durch meine Ehrlichkeit ganz und gar vertrauen. Sie öffnen sich auf eine Weise, die sie selbst nicht für möglich halten. Woher diese Offenheit kommt, können sie selbst meistens nicht sagen. Teilweise sind sie nach dem Aussprechen ihrer größten Geheimnisse selbst verwundert, warum sie es mir gesagt haben. Aber nicht immer sind es große Geheimnisse, manchmal sind es Kleinigkeiten, die sie mir verraten, welche sie nicht für wichtig halten, bis sie die Sachen ausgesprochen und dann noch einmal durchdacht haben. Du darfst das aber KEINEM weitersagen - wie oft ich diese Worte höre, sie haben mittlerweile keine Bedeutung mehr für

mich. An einem relativ schlichten Tag habe ich eine alte Bekannte von mir getroffen. Sie war bereits an die fünfzig Jahre alt, also fast doppelt so alt wie ich, aber wir verstanden uns sehr gut. Sie hatte ein wohlgeformtes, rundes Gesicht. Ihre braunen Haare waren halblang und umschmeichelten ihren zarten Hals. Die weiche Stimme zog mich auf besondere Weise in den Bann, ich konnte ihr nicht entkommen. Ich kannte keine lieblichere Stimme, der ich lange zuhören wollte. Sie hatte keinen Hang zum Piepsen, wie bei manchen Frauen, sondern war immer anmutig und zart. Die Stunden mit ihr

waren schon allein aufgrund ihrer umwerfenden Präsenz schön - auch wenn ich es ihr nie so gesagt habe. Sie hatte aber auch nie gefragt. Sie konnte mir ihre ganze Lebensgeschichte erzählen und fand mich besser als ihren Therapeuten, aber das ist eine andere Geschichte. Ich fand sie sehr aufregend, da sie immer neue Ideen hatte und mit immer neuer Leidenschaft neue Sportarten, Ideen oder Tätigkeiten ausprobiert hat. Ich weiß bis heute nicht, woher sie ihre Energie nahm, aber sie war immer auf Achse. Für mich, der gerne Pläne durchzieht und ein eher ruhiges Leben genießt, hatte sie keinen

wirklichen Sinn. Daher trafen wir uns nur sporadisch alle paar Monate. Selbst mit den modernen Kommunikationsmittel kam es vor, dass wir mehrere Wochen oder Monate lang nichts voneinander hörten. Mich störte es nicht, ich registrierte es nur und vergaß nie etwas, das unsere Beziehung betraf. An diesem Nachmittag eines sonnigen Tages trafen wir uns in einem Park. Wir besorgten uns ein paar Drinks und saßen uns dann auf den Boden, um ein wenig zu erzählen. Stühle oder ein Bank wären mir lieber gewesen, aber warum sollte man nicht einmal wie Hippies auf dem Rasen sitzen? Es gefällt mir nicht, ich

bemängele es und sie wischt es glatt. So war es immer bei uns. Sie gab meist den Ton an, mir war aber auch vieles egal - vor Dreck hatte ich schließlich keine Angst. Eines der wenigen Dinge, die mir keine Angst machten, anders als Unordnung, wobei es manchmal Hand in Hand geht. Nach ein wenig Geplänkel und Gescherze wollte ich wieder mehr über ihr Leben wissen, daher begann ich mit meinen Nachfragen, wobei ich diesmal nicht abschätzen konnte, dass es nur eine geben würde. Das war mir noch nicht passiert. Ich fragte sie also, ob sie nun immer noch das Skateboardfahren übt. Sie hatte

sich zwei sehr hochwertige Boards gekauft. Ein normales Skateboard mit Popsicle Deck, die vorne und hinten etwa die gleichen halbrunden Enden haben, sowie ein Shaped Deck, welches vorne spitz zugeschnitten war und hinten eher gerade. Ersteres war für Tricks am besten und letzteres für das Fahren auf der Straßen, wobei man auch einfache Street-Tricks machen kann. Ich muss gestehen, dass ich als Kind von 12 bis 15 Jahren ein großer Fan vom Skating war. Rodney Mullen und Tony Hawk hatten mich beeindruckt, auch wenn ich selbst nie solche umfangreichen Tricks lernen konnte. In dem Moment, war das aber alles nicht von Belang. Sie sagte nur,

dass sie nicht mehr vorhatte, an dem Kurs speziell für ältere Menschen teilzunehmen, welchen sie gefunden hatte. Ich war verwirrt. Von einem Kurs wusste ich bisher nichts, ich wusste nur, dass sie mit einer Freundin trainiert, damit sie wenigstens zuverlässig einen Ollie schafft. Aber das war nicht mehr ein Thema. Ihr Blick verfinsterte sich auf einmal. Sie sah mich teilweise mürrisch und zerknittert an. Ihre Augenbrauen waren in scharfe Runzeln gelegt, ich konnte es nicht verstehen. Sie sagte nur, dass sie es nicht machen möchte, da die Veranstalter Videos von den Teilnehmenden machen und man bei

Beginn des Kurses einwilligen muss, dass sie die Videos verwenden dürfen. Ich gestatte niemanden, dass sie Bilder von mir nutzen dürfen, wie ich auf die Fresse fliege, schrie sie mich an. Nun das konnte ich gut nachvollziehen, gab ihr Recht und bemerkte, dass es sehr Scheiße von den Veranstaltern ist, ein richtes Arschloch-Verhalten. Ich hatte die Hoffnung, dass es sie beruhigen würde - sie regte sich noch mehr auf. Sie redete sich in Rasche, fluchte über die ganze Welt mit dem Social-Media-Bilderwahn und vieles mehr. In dem Moment wusste ich nicht, wie mir geschieht. Ich hatte keine Chance, sie zu beruhigen, das wurde mir klar.

Sie war so wütend, dass sie die Veranstalter anschreiben und sich beschweren wollte. Ich bat sie erst einmal um Ruhe. Versuchte es mit den Rechten für Marketing-Material zu erklären und sie davon abzubringen. Ich stellte mir vor, wie irgendwelche alten Skaterhasen das lesen würden und sich dann über die Frauen, die das geschrieben haben, lustig machen. Sicher würde es dort niemanden interessieren und sie würden ihre Praktiken nicht für eine Person ändern. Ich erklärte es ihr und versuchte es durch ihre Erfahrungen im Kundensupport zu unterstreichen. Sie

selbst regt sich immer wieder über diverse Personen auf, die es einfach nicht hinbekommen, in einem Online-Shop einzukaufen und sich über alle möglichen Dinge beschwerten. Aber das zählte alles nicht, jegliche Form der Argumente oder Wahrheit prallte ab. Was sollte ich schon machen? Es kam auch noch schlimmer, ihre Wut schwang um und traf mich mit voller Wucht. Ich hätte schließlich nicht das Recht, ihr es auszureden. Sie wolle ihrer Wut freien Lauf lassen, das sei ihr Recht und das mache sie auch. Ich solle sie nicht so kritisieren und gängeln wie ein Kind, wie andere ihrer Freundinnen, ich

sollte sie einfach verstehen. Ihre Stimme änderte sich, sie war nicht mehr lieblich, aber auch nicht schrill. Sie war sehr dumpf, sehr ruhig und leise, aber dennoch schnell. In meinem Gehörgang überschlugen sich die Worte. Was sollte ich machen? Sie endete mit dem Spruch, manchmal bist du ein alter und gemeiner weißer Mann, auch wenn du noch sehr jung aussiehst. Sie schaute mich schon sehr grimmig an. Sie konnte ihr Gesicht zu einer Grimasse verziehen, die mich erschaudern ließ. Was sollte man dagegen sagen? Ich musste auf einmal grinsen und lachen. Sie schaute mich mit

aufgeplusterten Backen an, ihre Augen waren stark verengt, sie fixierte mich mit ihrem Blick, sodass ich selbst wenn ich fliehen würde, ihr nicht entkommen könnte. Warum lachst du, fragte sie doch eher mit einem schnippischen Unterton, wobei sie es sehr ruhig aussprach und eine dunkle Stimmlage für ihre sonst eher lieblichen und hellen Klänge anschnitt. Ach weiß du, ich hatte eben eine persönliche Assoziation von dieser Szenerie. Unweigerlich habe ich mich an meine Jugend erinnert. Dort gab es einen Trickfilm mit einem gelben Kanarienvogel, einem schwarz-weißen Kater, der immer den Vogel jagte und einer alten Dame als Besitzerin. Der

Kater war gemein zu dem Vogel, wollte mit dem Flattervieh spielen und ihn auch fressen. Wer freut sich nicht, wenn jemand ihm zum Fressen gern hat? Der kleine Kanarienvogel schaffte es immer irgendwie zu entkommen. Manchmal war er auch wütend und blickte dann böse mit runtergezogenen Stirn, kleinen Augen und aufgeplusterten Backen. Dann kamen nur noch zischend und sehr dumpf die Worte, du bist so eine böse alte Miezekatze. Es tut mir leid, dass ich es dir sagen muss, aber dein Auftritt eben, hat mich total an die Serie

erinnert. Sie riss in dem Moment, als ich es ausgesprochen hatte, den Mund auf und schwang wild mit dem Kopf umher. Sie war nicht mit dem Einverstanden, was ich gesagt hatte. Die Menschen wissen manchmal nicht, wie ihre Handlungen wirken und können mit der Wahrheit darüber nicht leben. Ich musste mich auf das Schlimmste gefasst machen. Ihr Blick durchdrang mich jetzt vollständig. ihre Augen waren nur noch kleine Striche, die Mundwinkel waren so weit heruntergezogen, wie sie nur konnte. Sie sah fürchterlich aus und warf mir ihre ganze Verachtung entgegen. Ihre

Anstrengung stand ihr ins Gesicht geschrieben, diese Art der Zurschaustellung ihrer Wut musste schmerzhaft sein. Sie zischte nur, du vergleichst mich also mit Tweety aus der Bugs Bunny Show? Dann bist du wohl der alte Kater Silvester. Das muss ich mir nicht bieten lassen. Schönen Abend noch, vielleicht sieht man sich demnächst zu besseren Zeiten wieder. Sie gang dann wortlos und blickte nicht zurück. Was hatte ich falsch gemacht? Ich grübelte. Hätte ich es ihr nicht sagen sollen? Vielleicht, aber ich hätte Lügen

müssen. Bei der Wahrheit will ich bleiben. Einen Tag später rief sie mich an, sie habe überreagiert und wisse, dass ich nur aufrichtig sein wollte. Es war eine Entschuldigung. Doch hatte ich wirklich richtig gehandelt? Ich werde es wohl nie wissen, war aber froh, dass ich dem Todesblick und einem schlimmen Ende noch einmal entrinnen konnte.

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Wandersmann

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