Kurzgeschichte
Beschützer

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"Beschützer"
Veröffentlicht am 10. September 2022, 40 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Marlene Menzel wurde 1992 in Berlin geboren. Bereits in ihrer Kindheit entdeckte sie die Liebe zum Schreiben und zu spannenden Geschichten. Ende 2019 machte sie sich neben ihrer Arbeit in der Druckerei selbstständig, doch schon wenige Jahre später war sie Vollzeit-Autorin und veröffentlicht inzwischen als Marlene von Mainau, Mel Maroon sowie unter Klarnamen romantische und spannende Heftromane bei Bastei Lübbe. Seit 2022 schreibt sie zudem ...
Beschützer

Beschützer

Beschützer

Mein Name ist Marta und ich sehe alles. Alles Versteckte, alle Geheimnisse und alle Lügen. Andere meiner Art könnten Ihnen, wenn sie wollten, sicher mindestens so viele aufregende, düstere und auch überaus lustige Geschichten erzählen. In meinem langen Dasein habe ich die unterschiedlichsten Wesen kommen und gehen sehen. Ich habe mich am Kinderlachen erfreut, das die Zimmer erfüllte, und bei einem schweren Verlust ebenfalls geweint, um den Trauernden mein Mitgefühl kundzutun. Wirklich bemerkt haben sie mich nie. Ich erinnere mich zum Beispiel noch gut

an Herrn Dr. Kranz und seine Gattin Mathilde. Wie sehr sie sich ein Kind wünschte, hat mir das Herz gebrochen. Ihre strengen Verwandten fragten während der langweiligen Teenachmittage schon ständig danach und brachten sie bloß noch mehr in Verlegenheit. Leider hat ihr werter Mann Mathildes Bemühungen mit einer heißen Affäre in Grund und Boden getrampelt. Ständig lud er diese vorlaute Person mit den seltsam stehenden Augen ein, um mit ihr sündhafte Dinge zu treiben. Er bemerkte noch nicht einmal, dass ich direkt danebenstand und zusah, wenn er es wieder einmal nicht fertigbrachte, diese Fremde zu befriedigen. Sie

verdrehte immer häufiger die Augen und gähnte ein Mal sogar dabei. Lange wäre das wohl sowieso nicht mehr gutgegangen. Und ja, ich selbst war nicht ganz unbeteiligt, was das Aufdecken seiner Machenschaften betraf. So nutzte ich den vergessenen Fensterspalt, um einen kräftigen Windstoß hineinzuziehen und ihre wichtigen Dokumente vom Tisch zu wehen. Mathilde hatte daraufhin kräftig geflucht, die Papiere hektisch aufgesammelt und war nach draußen zu ihrer Kutsche geeilt, da sie bereits viel zu spät dran war. Ihr langes Kleid, das sie beim Gehen für gewöhnlich ein wenig anhob, hatte geraschelt und den vielen

Staub aufgewirbelt. Beinahe hätte ich laut geniest. Zum Glück riss ich mich zusammen, denn es hätte die arme Frau wohl komplett verängstigt, wenn die Bilderrahmen plötzlich angefangen hätten zu beben. Seltsam, dass mir Staub und Sonne, Regen und Emotionen noch immer derart bewusst sind. Als habe ich eine lebendige Verbindung zu ihnen und könne sie auch noch nach Jahrzehnten der Körperlosigkeit fühlen. Aber zurück zum Ehepaar Kranz: Schon länger konnte sich das Paar keine Haushälterin mehr leisten. Nur nach außen hin spielten sie eine erfüllte Ehe vor, um Gerede vorzubeugen. Und

natürlich vergaß Mathilde – wie von mir geplant – eines der Papiere. Bemerkt musste sie es erst später haben, während sich Dr. Kranz, wie immer um diese Zeit, mit Louise, der Frau seines Bruders, traf. So kam eins zum anderen: Mathilde kehrte früher heim, ertappte ihren Mann in flagranti mit dessen Schwägerin und reichte nach einem Skandal, der sich gewaschen hatte, schließlich die Scheidung ein. Das Beste, was diese bildhübsche, anständige und liebenswerte Frau hätte tun können. Was aus den beiden wurde, weiß ich nicht. Meine Augen reichen leider nicht so weit, um ihre Wege außerhalb des Hauses zu verfolgen. Eine spätere

Bewohnerin hatte allerdings das Gerücht aufgeschnappt, der berühmte Dr. Kranz sei ein paar Jahre darauf seinen Alkoholexzessen erlegen. Getrunken hatte er tatsächlich gerne, vor allem nachts, wenn seine Gattin bereits geschlafen hatte, erinnere ich mich zurück. Danach wurde es eine lange Zeit still. Ich sehnte mich nach neuem Leben in diesem dunklen Haus. Doch Familie Hansen sollte jene Lücke mehr als nur ausfüllen. Ihre Kinder waren bezaubernd: Goldene Löckchen umrahmten die süßen Gesichter der jungen Zwillinge Emma und Anton, die von einem Zimmer zum nächsten jagten, dabei laut kicherten und

mit ihrer Freude auch ihre glücklichen Eltern ansteckten. Hätte ich sie anlächeln können, hätte ich es just in diesem Augenblick getan und den Moment am liebsten für immer eingefroren. Alles war perfekt. Sie hatten so viel Spaß, und ihre Eltern waren aufrichtige Menschen, die hart arbeiteten, um ihrem Nachwuchs das Leben zu bieten, das sie verdienten. Einzig ihre griesgrämige Katze, ein buschiges graues Tier mit goldgelben Augen, schien mich mit ihren Blicken zu verfolgen. Sie starrte mich ständig an, fauchte oder erhob ihren Rücken zu einem Buckel. Damit brachte sie ihre Besitzer regelmäßig zum Schmunzeln, mich zeitgleich aber zum

Fürchten. Ich hasse Katzen, weil sie mir so unfassbar ähnlich sind. Auch sie sehen einfach alles. Zeitgleich beneide ich sie, weil sie im Gegensatz zu mir hinaus in die Welt spazieren können. Ein Stubentiger müsste man sein! Als Emma und Anton heranwuchsen, brachten sie ihre Freunde mit nach Hause, die zierliche Emma erlebte sogar den ersten zarten Kuss in ihrem Elternhaus, und beide Geschwister zogen bald darauf aus, um ihre eigenen vier Wände zu suchen und eine Familie zu gründen. Mit mindestens so viel Wehmut wie ihre Eltern sah ich den Kindern der Hansens nach. Doch sie kehrten

gemeinsam mit Nachwuchs heim, sobald ein Feiertag vor der Tür stand. Vor allem an Weihnachten wurde es mollig warm in dem alten, mehrstöckigen Herrenhaus. Das prasselnde Kaminfeuer heizte auch mir ordentlich ein. Ich konnte zufrieden über diese bodenständige und liebreizende Familie wachen, bis Mutter und Vater Hansen leider kurz nacheinander starben, ergraut und im Kreise ihrer Kinder und Enkelkinder. Diese packten daraufhin alles Wichtige zusammen, ließen die Möbel hinaustragen und Bilder von den Wänden hängen, um mich und ihr einstiges Zuhause für immer zu verlassen. Nach und nach leerten sich die

Zimmer. Immer wieder schlug ich die Haustür fest zu, verklemmte sie oder hielt Emma und Anton mit Erinnerungen gefangen, doch es half nichts. Sie gingen trotzdem. Ich sah sie vorerst nicht wieder. Kurz dachte ich, in Emmas Zögern einen Anflug von Erkenntnis zu sehen, doch ich hatte mich wohl getäuscht. Meine Rufe wurden niemals gehört. Sobald ich mich ihnen in den Weg stellte oder sie anflehte, nicht fortzugehen und mich hier allein zu lassen, beachteten mich die Anwohner gar nicht erst, sondern schritten zumeist unhöflich durch mich hindurch. Das war ein widerliches Gefühl, welches ich nicht gerne verspürte. Jedes Mal

übermannte mich eine Mischung aus Kälte, tiefer Traurigkeit und einem Schlag in die Magengrube. Zum Glück konnte ich mich nicht übergeben – nicht mehr. Den Menschen erging es wohl ähnlich, denn auch sie hielten zumeist inne, rieben sich über die fröstelnden Arme und sahen sich unbehaglich im Raum um, ehe sie den Kopf schüttelten und es als Unsinn abtaten. Die Geschwister verstauten alles in diesen neumodischen, stinkenden und lauten Geräten, mit denen man sich fahrend fortbewegen konnte. Doch es sollte noch verrückter kommen, je mehr Jahre ins Land zogen. Irgendwann sprachen die Leute davon, durch die

Lüfte oder sogar zum Mond zu fliegen. Dabei war alles, was sie brauchten, auf der Erde zu finden. Sie jagten allerdings gerne Träumen nach, die sich nie erfüllten. So wie Leon und seine Freunde, die studierenden Verrückten, wie ich sie stumm taufte. Sie waren laut, langhaarig, rauchten dieses widerliche Zeug und schienen ihre Partner zu wechseln wie ihre Unterwäsche. Zusätzlich hörten die jungen Erwachsenen Musik, die mich verjagte und im Dachgeschoss verharren ließ, bis die Meute endlich schlafen gegangen war oder im Salon auf dem Sofa lag, gen Decke starrte und vor sich hin

brabbelte. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und wandelte durch die einzelnen Zimmer. Leon und seine Kumpane hatten sich Matratzenlager vorbereitet, aber keinen einzigen Raum ordentlich eingerichtet. Lieblos hatten sie politische Parolen an die Wände geschmiert, die ich nicht verstand. Mir sagten die Namen nur etwas, weil sie gelegentlich darüber sprachen. Die Fenster waren zugenagelt worden, die Toilette lief beinahe über, es stank bestialisch. Sie hatten das ehemalige Haus der Hansens in einen üblen Zustand gebracht. Zuerst wurde ich traurig, anschließend spürte ich pure Wut durch meine nicht

vorhandenen Venen fließen. Ich biss die Zähne aufeinander, ballte meine Hände zu Fäusten und ging auf ihren Anführer Leon los, aber er musste sich meinetwegen höchstens übergeben. Das bereitete mir einige Zeit Freude, wurde jedoch schnell langweilig. Während sich die anderen eines Abends zurückgezogen hatten, döste er gerade ein, als er sich die nächste Zigarette drehte. Dieses Grünzeug und das weiße Pulver auf dem Tisch machten ihn langsam und anfällig. Ich nutzte seine Schwäche zu meinem Vorteil aus und flüsterte ihm immerzu ins Ohr, ganz in der Hoffnung, er hörte und verstand mich. Und tatsächlich sah er mir

irgendwann direkt in die Augen. Beinahe erschreckte ich mich sogar, war er doch das erste menschliche Wesen, das mich beachtete. Hoffnung keimte in mir auf, auch wenn ich nicht sehr viel Wert auf die Beachtung durch einen Mann wie Leon legte. Leider hatte es bei Emma und Anton nicht funktioniert, aber sie hatten sich auch nicht halb betrunken in einen komatösen Zustand geschnupft. »Du bist böse!«, schrie er mich auf einmal panisch an und torkelte durch den Raum. »Weiche von mir, Teufel! Ich weiß, wer dich geschickt hat! Ich weiß alles!« Meine Antwort war zwar nicht gerade die netteste gewesen, aber musste er deshalb

gleich laut kreischend die Bretter vom Fenster reißen, hinausspringen und sich den Hals brechen? Das Ende von Leon war so heftig wie sein ständiger Drogenrausch. Das hatten zumindest seine Freunde gemeint, kurz nachdem sie ihn im Hinterhof gefunden hatten – erst zwei Tage später, weil sie bis dahin selbst noch nicht ganz wach gewesen waren. Kurz darauf verschwanden sie samt seiner Leiche und ließen mich endlich in Ruhe. Ich hatte sie mit harten Mitteln verjagt. Das würde ihnen eine Lehre sein, das Haus der Hansens zu vermüllen. Ich wollte es für die Zwillinge bewahren und auf ihre Rückkehr warten, mit der

ich fest rechnete. Sie waren doch meine Familie! An meine wirkliche erinnere ich mich nur vage. Mit der Zeit verblassen die Erinnerungen oder vermischen sich mit anderen, doch Emma Hansens helle blaue Augen und goldene Locken blieben mir immer im Gedächtnis. Ich halte bis heute an diesem Bild fest, weil ich das Mädchen nicht auch noch verlieren will. Sie wurde ab irgendeinem Punkt zu meiner einzigen Hoffnung in diesem tristen Dasein. Ein Anker. Jahre zogen ins Land, bis endlich wieder jemand einzog. Das Haus wurde komplett renoviert und modern eingerichtet. Die Bauarbeiten waren laut und unbehaglich,

aber nötig, um Leons Verschmutzung zu entfernen. Ich freute mich, als ich schließlich eine fünfköpfige Familie erblickte, die ihre Koffer auspackte und ihrem Hund etwas zu Essen hinstellte. Ihr Haustier beachtete mich genauso wenig wie sie. Beinahe vermisste ich die struppige Katze der Hansens, mit der ich trotz ihrer eindeutigen Abneigung mir gegenüber wenigstens hatte in Verbindung treten können. Womöglich würde dem Golden Retriever ja etwas von dem weißen Pulver helfen, um mich zu sehen, oder diese bunten Pillen, die sich die jungen Wilden ständig eingeworfen hatten. Bei Leon hatte es immerhin

funktioniert. Ich verfluchte mich selbst dafür, ihn in Angst und Schrecken versetzt zu haben. Nun hatte ich niemanden mehr, mit dem ich mich austauschen konnte. Nichtsdestotrotz freundete ich mich mit dem Gedanken an, Familie Martens von nun an Gesellschaft zu leisten. Ihre Kinder waren vorlaut, faul und frech, aber mindestens so lustig und unterhaltsam für mich. Sie spielten sich und ihren Eltern gerne Streiche und stritten sich, bis die Türen knallten oder etwas zu Bruch ging. Sie waren ganz anders als die stillen, braven Hansens. Einzig die vierjährige Klara hielt sich

zurück. Ich setzte mich gerne neben sie, sobald sie mit ihrer Puppe spielte und ganz in ihrer eigenen Welt verschwand. Mal befanden wir uns in einem Prinzessinnenschloss, mal waren wir mutige Abenteurerinnen, die vor nichts zurückschreckten. Ich konnte mich mit diesem Mädchen identifizieren, ihre Wünsche und Träume nachvollziehen. Beinahe fühlte es sich an, als hätte ich wieder eine Freundin, waren meine eigenen doch alle längst tot und begraben. Genau wie meine Familie, meine zwei Mörder, meine erste große Liebe, die Lehrer und unser alter Pfarrer. Sie alle gab es bereits seit Jahrzehnten

nicht mehr. Ich schwor mir, auf dieses kleine brünette Mädchen an meiner Seite achtzugeben. Sie sollte ein schöneres Leben haben als ich – und ein schöneres Ende. Eines Tages passierten die ersten unheimlichen Dinge im Herrenhaus. Das älteste Kind von Familie Martens wurde schwer krank, und seine Mutter kümmerte sich aufopferungsvoll um den braunhaarigen Jungen mit den Segelohren. Er wurde von Tag zu Tag schwächer, obwohl ihm seine Mutter täglich eine warme Brühe sowie Tee kochte und ihm kühle Wickel bereitete. Ich bemerkte, dass Klara und ihre Schwester ebenfalls kränkelten. Sie

schwitzten viel und warfen sich im Schlaf von einer auf die andere Seite. Ich wachte während der Nacht in ihrem Kinderzimmer über die beiden, versuchte, sie zu wärmen und zu beschützen. Ihrem Bruder erging es sogar so schlecht, dass der Vater der Kinder mit ihm in eine Klinik fahren wollte, um ihn untersuchen zu lassen, doch seine Frau hielt ihn zurück. Zu teuer seien die Behandlungen und Medikamente. Es sei doch bloß eine gewöhnliche Grippe. Er ließ sich breitschlagen, und drei Tage später war der Sohn tot. Ich begleitete ihn hinüber. Dieser Bruchteil eines Augenblicks erfüllte mich mit Stolz. Der Junge lächelte mich

kurz an und schloss gleich darauf seine Augen für immer. Er hatte mich im Moment seines Todes gesehen und mir eine Aufgabe gegeben, die ich auch bei seiner Schwester erfüllte, welche ihm keine drei Wochen später auf dieselbe Weise folgte. Die Eltern stritten sich immer häufiger und machten sich gegenseitig Vorwürfe. Letztlich packte der Vater seine Sachen und lief davon. Klara weinte bittere Tränen, die ihn nicht kümmerten, mich aber zutiefst berührten. Wie gerne hätte ich das arme, kränkliche Mädchen in den Arm genommen und getröstet. Auch sie bekam nun täglich aufbauende Suppen von ihrer Mutter ans Bett

gebracht. Wenn Klara keinen Hunger hatte, zwang sie sie dennoch zum Essen, was mir seltsam vorkam. Ich spürte die unterschwellige Aggression, die weit entfernt war von der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Da mir eines Abends langweilig war, beobachtete ich sie bei der Zubereitung der Brühe. Geschockt musste ich mit ansehen, wie sie eine Packung aus einem der unteren Schränke fischte, wo sonst nur der Küchenmüll gelagert wurde. Ich schlug die Hand vor den Mund, obwohl mich die Frau nicht hätte hören können. Sie schüttete etwas von dem Rattengift in Klaras Suppe und mischte es mit dem Löffel unter. Dann wollte sie ihrer

Tochter das giftige Essen ans Bett bringen, aber ich reagierte sofort. Natürlich konnte ich sie nicht berühren, aber ich pustete ihr den Wind ins Gesicht, sodass sie stoppte und ihre tränenden Augen wischte. Anschließend lief ich mehrmals durch sie hindurch, wodurch die Frau ein schlechtes Gefühl in der Magengegend bekam. Tatsächlich stellte sie die Suppe beiseite und verschwand würgend im Badezimmer. Ich hetzte hinüber in Klaras Zimmer und weckte die Kleine mit einer zarten Windböe auf. Sie sah sichtlich krank und leichenblass aus, ihre Augen hatten an Schein verloren und waren rotgerändert. Da sah ich sogar besser aus, glaubte ich,

auch wenn mich die tiefe Schnittwunde am Hals nicht unbedingt kleidete. »Du bist wieder da«, hauchte Klara. Ich hielt schlagartig inne. Sie sah mir direkt ins Gesicht. »Ich wusste immer, dass du da bist. Wir haben mit der Puppe gespielt.« Ihre Stimme war nur ein Hauchen, aber ich verstand sie dennoch gut. »Klara?«, wisperte ich zurück. Tränen standen in meinen Augen. »Hörst du mich?« »Wie heißt du, lieber Hausgeist?« »Ich bin Marta. Und ich komme, um dich zu retten.« Das Mädchen musste knapp vor ihrem Tod stehen, sonst hätte sie mich nicht so

direkt angesehen. Oder sie befand sich in einer geistigen Umnachtung wie Leon. Hoffentlich sprang sie nicht auch gleich aus dem Fenster. Ich war allerdings beeindruckt, dass mich die Vierjährige längst zuvor hatte spüren können. Ob das bei den anderen Anwohnern auch so gewesen war? War ich also tatsächlich immer Teil ihrer Familie gewesen? »Mich retten?« Ihre Stimme wurde leiser, die Atmung flacher. Ihre Lider flackerten. »Wovor?« »Du darfst die Suppe nicht essen! Hast du mich verstanden? Sie ist vergiftet! Deine Mutter tötet euch alle nacheinander! Sie ist überfordert mit

euch!« »… Suppe essen …«, wiederholte sie schwach, und ich schüttelte vehement den Kopf. »Nein, NICHT essen!« »… darf nicht essen …« »Genau, nicht essen! Egal, was sie dir gibt! Du musst hier raus, und zwar sofort! Ich kann keine Hilfe holen, du selbst schon!« »Marta …« »Ja?« »Du bist ein guter Geist.« Klara fiel in die Bewusstlosigkeit. Ihr Kopf senkte sich auf das Kissen, und ich konzentrierte mich auf ihre Atmung. Gott sei Dank lebte sie – noch. Nicht mehr

lange und eine Suppe später, und Klara würde hinüberwandern, war ich mir sicher. Als ihre garstige Mutter mit der Schale ins Kinderzimmer trat und ihre wässrigen Augen auf das kranke Kind richtete, stellte ich mich direkt vor die Vierjährige. Ich würde sie schützen. Komme, was wolle! »Lass sie in Ruhe!«, schrie ich ihr mit voller Wucht entgegen. Ich streckte meine Hand Richtung Fenster aus und sammelte meine Kräfte. Es flog polternd auf und Glas klirrte. Die Frau fuhr schockiert herum und ließ die Schüssel fallen. Sie zerbarst in tausend Teile, und die giftige Flüssigkeit

benetzte ihre Strumpfhose. Der heftige Sturm wütete nicht nur in mir, sah ich. Draußen verdüsterte sich der Himmel und schickte seine prächtigsten zuckenden Blitze gen Erde. Klaras Mutter wich vor dem heftigen Regenschauer zurück, der ins Zimmer gedrückt wurde. Hatte ich dieses Unwetter etwa heraufbeschworen? Sie bekreuzigte sich und riss die Augen weit auf. »Deine vorgetäuschte Frömmigkeit kann dir nun auch nicht mehr helfen, du Monster!« Entschlossen packte ich sie an beiden Schultern und zog sie hoch. Für die Verängstigte musste es wirken, als würde eine unsichtbare Kraft an ihr ziehen und

zerren. Sie jaulte wie ein Tier und verfiel in Tränen, während ich sie zum Fenster manövrierte. Ich war deutlich stärker als sie und nutzte diesen Vorteil für mich. Bis zuletzt hielt sie sich verzweifelt am Teppich fest, der mit ihr zusammen aus dem Gebäude und zwei Etagen abwärts fiel. Auf dem Fußweg vor dem Anwesen zerbarst ihr Schädel, und ihr Blut vermengte sich sofort mit dem prasselnden Regen, als würde meine Wut sie reinwaschen wollen. Zufrieden blickte ich auf Frau Martens herab. Mein Werk war vollbracht. Selbst wenn sie als Hausgeist wiederkommen sollte, würde sie hier bei mir keinen Spaß haben, schwor ich mir. Doch sie

sollte niemals zurückkehren. Klara wurde von Nachbarn aufgelesen, als sie deren tote Mutter vorfanden. Das kleine Mädchen kam sofort in ein Krankenhaus und wurde behandelt. Anschließend würde sie bei einer Pflegefamilie oder bei ihrem Vater unterkommen, hieß es laut der Polizei, die nach dem Suizid, wie sie das Geschehen betitelte, durch das Haus streifte und Reste des Rattengiftes in der Suppe entdeckte. Die Beamten gingen von einem Selbstmord aus. Klaras Mutter habe das schlechte Gewissen geplagt. Immerhin brachte sie bereits zwei ihrer Nachkommen um. Ich lachte kläglich darüber. Ohne mich

hätte dieses Monstrum weitere unschuldige Kinder und Tiere ermordet. Zum Beispiel habe ich den Hund der Familie schon sehr lange nicht mehr gesehen. Stattdessen stand inzwischen ein kleines hölzernes Kreuz im Garten. Ich habe die Welt von dieser Frau befreit und sie zu einem besseren Ort gemacht. In den nächsten Tagen, in welchen das Haus abgesperrt blieb, spürte ich, wie ich immer schwächer wurde. Ich hatte womöglich meine letzten Kräfte mit Klaras Rettung verbraucht. Vielleicht hatte ich auch einfach nur meine Aufgabe erfüllt, für die man mich noch immer auf dieser verfluchten Erde gehalten hatte. Mittlerweile schlurfe ich erschöpft

durchs Haus und sehe mich müde um. Mir fehlt der Trubel, aber die Stille erfüllt mich heute etwas mehr. Es klopft, und kurz darauf wird die Tür im Erdgeschoss geöffnet. Eine alte Frau tritt ein und lässt ihren Blick schweifen. Sie hat die Absperrbänder nicht beachtet, was mich neugierig auf sie macht. Heimlich beobachte ich sie aus einer Ecke heraus, obwohl sie mich sowieso nicht sehen kann. Als ich der gebückt gehenden Dame mit den schlohweißen Haaren schließlich gegenüberstehe und ihr in die strahlenden blauen Augen sehe, weiß ich mit einem Mal, wer sie ist. Und dass sie gekommen ist, um sich von mir und dem Haus ihrer Kindheit zu

verabschieden. »Hallo, Geist«, begrüßt Emma mich mit einer Stimme, die vor Erfahrung übersprudelt. Ihr zerfurchtes Gesicht zeigt mir das herzlichste Lächeln, das ich je gesehen habe. »Ich wusste, dass ich dich hier noch vorfinde. Ich wollte dich abholen. Wir sind spät dran. Man erwartet uns bereits.« Emma reicht mir ihre Hand, und zögernd lege ich die meine hinein. Aufmunternd nickt sie mir zu. Ich fühle ihre Haut, die knochigen Finger und Adern und lasse mich von ihr aus dem Foyer führen. Jedes Mal, wenn ich es alleine versuchte, wurde ich durch eine unsichtbare Mauer gestoppt. Doch mit ihrer Hilfe trete ich

zum ersten Mal seit über hundert Jahren in den Garten. Eine Welt, die ich bloß durch Blicke aus den Fenstern erhaschen konnte. Draußen erwartet uns die herrliche Mittagssonne, die mich und mein Herz erwärmt. Tränen der Erleichterung strömen über meine Wangen, ehe ich merke, wie wir beide in eine andere Dimension hinüberfließen und uns in einem gleißenden Licht auflösen. Gemeinsam, denn ich bin endlich nicht mehr alleine. Ich habe wieder eine Familie.


***


»Nun zu den Meldungen des Tages: Das verlassene, sogenannte ›Horrorhaus‹ in der Bechtstraße, das Geisterjägern noch jahrelang Freude bereitete, wurde heute abgerissen. Begonnen hat alles mit der grausamen Ermordung von Marta Kerzel, einem sechzehnjährigen Mädchen, das zusammen mit ihrem Bruder und ihren Eltern im späten 19. Jahrhundert dort gelebt hat. Ihre Familie zog nach dem brutalen Raubmord durch zwei bis heute unbekannte Täter fort. Immer wieder wechselten die Besitzer, bis es zum nächsten tragischen Unglück kam: Leon Waschnik, ein Hausbesetzer, stürzte 1969 zu Tode, als er im Drogenrausch aus dem Fenster im ersten Stock sprang. Ein paar

Jahre darauf vergiftete Hannah Martens ihre drei Kinder, von denen das jüngste nur überlebte, da sich Hannah selbst und vor den Augen ihrer Tochter das Leben nahm. Spätestens ab da galt das Herrenhaus als verflucht und fand keinen weiteren Besitzer mehr. Es stand seit 1983 leer und verfiel. 1990 musste es komplett abgesperrt und der Zutritt wegen herabstürzender Teile untersagt werden. Die Stadtverwaltung hat sich nun gegen eine erneute Restaurierung entschieden. Es macht stattdessen einem modernen Tierheim Platz, dessen Grundsteinlegung in wenigen Wochen stattfinden soll.«


Ende

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Hörbuch

Über den Autor

MagicMarlene
Marlene Menzel wurde 1992 in Berlin geboren. Bereits in ihrer Kindheit entdeckte sie die Liebe zum Schreiben und zu spannenden Geschichten.
Ende 2019 machte sie sich neben ihrer Arbeit in der Druckerei selbstständig, doch schon wenige Jahre später war sie Vollzeit-Autorin und veröffentlicht inzwischen als Marlene von Mainau, Mel Maroon sowie unter Klarnamen romantische und spannende Heftromane bei Bastei Lübbe.
Seit 2022 schreibt sie zudem Bücher und Kurzgeschichten für Amazon.
Zum dp Verlag verschlug es sie 2023 gleich in mehreren Genres, unter anderem im Bereich Cosy Crime.
Im folgenden Jahr begann ihre Arbeit beim Klarant Verlag, für den sie regelmäßig Ostfrieslandkrimis schreibt.

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Brubeckfan Guter Ansatz, und gut geschrieben!
Aus der Schule bleibt nicht viel hängen. Aber hier, in meiner Wohnung, wohnten vlt. Juden, russische Künstler, Nazis usw.
Viele Grüße,
Gerd
Vor langer Zeit - Antworten
MagicMarlene Jedes Haus erzählt eine ganze Geschichte und hat viele Leben kommen und gehen sehen. Ich finde es spannend, darin einzutauchen.
Danke für deinen Kommentar! :-)

~ Marlene
Vor langer Zeit - Antworten
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