Drachentanz
Der Sommer hatte abrupt mit einem Temperatursturz geendet und fast über Nacht hatten sich die Blätter der Kastanie verfärbt. Krähen bevölkerten das Stoppelfeld.Doch am tiefblauenHimmel zogen nur wenige weiße Wolken daher.
„Weißt du, was mir gerade einfällt?“ Oskar schirmte mit der Hand die Augen gegen die schon tiefstehende Sonne ab, als er seinen Blick über das weite Feld wandern ließ. Sie saßen auf der Bank am Waldrand, Ava und er. Der Weg dorthin
war mühsam gewesen, aber Oskar wollte unbedingt ein paar Schritte gehen. Wie schwach er geworden ist, dachte Ava. Schluckte gegen den Kloß an, der sich im Hals gebildet hatte.
„Es ist so lange her, dass wir beide hier gewesen sind. Denkst du an die Drachengeschichte?“
Oskar nickte. „Du warst erst fünf, glaube ich. Und so begeistert.“
In Avas Kopf tauchten plötzlich Bilder auf, plastisch, bunt. Die Erinnerung war so authentisch, dass sie meinte, alles noch einmal zu erleben.
Es ist Oktober, ein sonniger Tag nahe dem Nordseestrand. Fast ist es, als wolle
sich der längst vergangene Sommer noch einmal zurückmelden. Aber obwohl das Wetter herrlich ist, künden sich die Herbststürme bereits an. Ein starker Wind treibt die weißen Wolken scheinbar im Zeitraffer am Himmel entlang und verändert immer wieder das blaue Band, das sich endlos bis zum Horizont hinzieht. Das am Sommerende wehende, goldgelbe Korn, wellengleich in seiner Bewegung, ist lange geerntet. Doch das Goldgelb des Stoppelfeldes hebt sich warm vom kühlen Blau des Himmels ab.
Die kleine Ava hüpft aufgeregt um ihren Opa herum, der gerade einen Drachen hinauf in dieses Blau schickt. Zusammen
haben sie ihn zu Hause gebaut und mit hierher auf das Feld genommen, um ihn steigen zu lassen, ihm ein Stück Freiheit zu geben. Lustig sieht es aus, wie er seinen bunten Schwanz im Wind tanzen lässt, sich windet, dann herabstürzt, um sich wieder im Aufwärtsschwung den weißen Wattewölkchen zu nähern.
Ava ist begeistert.
„Ich will auch mal!“, ruft sie aufgeregt und tippelt neben dem Großvater her, der Mühe hat, den Drachen zu halten. Der Wind schwingt sich in Böen auf, ebbt ab. Es ist schwer, die Kontrolle zu behalten. So zögert Oskar zunächst, Ava die Schnur zu überlassen. Doch dann wird es ruhiger, der Wind gönnt sich eine
Pause.
„Aber gut festhalten!“, sagt Opa, als er ihr den Griff, an dem die Drachenschnur befestigt ist, in die Hand drückt. Und wie Ava festhält! Mit beiden Händen umklammert sie die hölzerne Stange. Die Arme gestreckt, den Kopf weit in den Nacken gelegt, schaut sie dem Drachen zu, wie er fröhlich seine Kapriolen schlägt. Manchmal steht er still in der Luft, dann wieder wiegt er sich sanft hin und her.
Plötzlich frischt der Wind erneut auf und zerrt an der Schnur. Ava beginnt zu laufen, wird von der unsichtbaren Kraft mitgezogen.
„Warte!“, ruft Oskar, aber Ava hüpft über
das Feld. In kleinen Sprüngen, sie wird mitgerissen und es sieht aus, als wolle sie sich auch in die Luft erheben. Auf wunderbare Weise scheint das Mädchen mit dem Drachen zu tanzen, leichtfüßig, wie von einer stummen Melodie geführt. Auf einmal aber schießt der Drachen empor, dreht sich ein paar Mal und steigt höher und höher. Ava sitzt am Boden, die leeren Hände nach oben gestreckt und schaut ihm hinterher.
„Flieg, flieg!“, hört Opa sie rufen, als er herbeieilt.
„Warum hast du losgelassen?“, fragt er und kniet sich zu dem Mädchen hinunter.
Ava zögert und meint dann: „Ich glaube, er wollte es. Er hat so doll gezogen, da
musste ich ihn einfach freilassen. Jetzt besucht er bestimmt die Wolken.“
„Vielleicht hast du recht“, meint Oskar, „aber schade ist es trotzdem.“
Beide schauen dem immer kleiner werdenden Drachen nach, wie er als bunter Punkt den Wolken scheinbar näher kommt.
„Ob er es wohl bis zur Sonne schafft?“, fragt Ava. Der Großvater schüttelt den Kopf.
„Nein, meine Kleine, der Weg ist zu weit für ihn. Und er würde verbrennen. Du weißt, die Sonne ist sehr heiß.“
Ava nickt. „Aber er schafft es bestimmt bis über die Wolken. Und dann kann er die Sonne immer sehen, sogar im
Winter.“
Ava spürte, wie Oskar ihre Hand nahm und leicht drückte.
„Weißt du, mien Deern, ich habe es immer bewundert, wie du schon als kleines Kind dir Positives auch aus nicht so schönen Erlebnissen gezogen hast. Ich habe damals, als du den Drachen losgelassen hast, Tränen erwartet. Aber nein, du hast es aus der Perspektive des Drachens betrachtet.“
„Was den Verlust leichter gemacht hat. Heute gelingt es mir leider nicht mehr so gut, in allem etwas Positives zu sehen.“
Ava dachte an die Zeit, die bald kommen würde. Die Zeit, in der auch Oskar nicht
mehr da sein würde. Doch jetzt, jetzt war sie dankbar um diese Momente, in denen sie ihre Erinnerungen noch mit dem Großvater teilen konnte.
Impressum
Text: Auszug aus
"Wenn der Raps blüht".
Enya Kummer
Bildnachweis Cover: Pixabay