Kurzgeschichte
Bestseller

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"Bestseller"
Veröffentlicht am 08. März 2022, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Hastig kommt eine Frau in den Buchladen, schiebt die Sonnenbrille in ihre Haare, sieht sich kurz um und steuert dann direkt auf den Buchhändler zu. Auf halben Weg bleibt sie abrupt am Besteller-Tisch stehen. „Was um Himmels Willen ist dass denn?“ Sie hebt ein blaues Buch hoch und blättert darin herum. Dass sie dabei die Seiten verknickt, scheint ihr nicht viel auszumachen.

Auf dem Buchcover sind zwei lächelnde Playmobil-Figuren zu erkennen; eine weibliche und eine männliche. Der Titel

wirbt: `Wie Mädchen zu richtigen Frauen und Jungen zu richtigen Männern werden. Eine Anleitung.` von Friedhelm Gutknecht. Bestseller des Jahres.

Die Frau fuchtelt entrüstet mit dem Buch herum. „Soll das Comedy sein?“

„Können Sie bitte etwas leiser sein!“, zischt der Buchhändler und blickt sie durch seine Nickelbrille streng an.

„Hören Sie sich das doch mal an“, erwidert die Frau und dann liest sie laut vor: „Damit kleine Mädchen zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft werden, müssen sie bereits im Kindergarten-Alter ihre spätere Rolle

trainieren. Betrachten wir zunächst das Thema `Angst und Furcht`; ein sehr wichtiger Baustein in der Entwicklung der Weiblichkeit: Ohne Angstgefühle, kann ein Mädchen nicht zu einer richtigen Frau werden!“

„Das ist ja wohl unglaublich!“, schimpft die Frau und liest weiter: „Um das richtige Verhalten einzuüben, spielen die kleinen Damen `Kreischen und Weglaufen`, `Kreischen und Weglaufen. Ohne Unterlass. Einen Auslöser für dieses Spiel kommt erst in späteren Jahren dazu. Auf die gleiche Weise lernen auch die Jungen ihre spätere Rolle als vollwertiger Mann. Ihre

Entwicklungsaufgabe ist es zu diesem Zeitpunkt, Mädchen zu jagen und zu erschrecken. Das `Retten` lernen die kleinen Helden erst in der Grundschule.“

„Bullshit! Wer kauft denn so was?“, wettert sie wutschnaubend und liest  weiter: „Das `Kreischen und Weglaufen` sowie das `Jagen und Erschrecken` sind wichtige Entwicklungsaufgaben unserer Kinder: Sie prägen den Jagdinstinkt der Jungen und die Opfernatur der Mädchen; beides ist entscheidend für das Funktionieren unserer Gesellschaft.“

„Das ist ja abartig!“, giftet sie.

„Psst!“, macht der Buchhändler. Er hat längst aufgehört seine Bücher zu sortieren und starrt die Frau böse an.

„Was heißt hier `psst!´? So ein ungeheuerliches Buch gehört auf den Müll!“, schimpft die Frau.

„Seien Sie bitte leise!“, zischt der Buchhändler. „Sie stören die anderen Kunden“. Dabei zeigt er in den Raum. Doch nur bei den Kalendern steht eine andere Frau. Er räuspert sich. Dann näselt er: „Andernfalls muss ich Sie bitten, das Geschäft zu verlassen!“

„Was soll das denn heißen?“, faucht die

Frau, „Wollen Sie mich etwa rausschmeißen?“

„Das wird bestimmt nicht nötig sein!“, rudert der Buchhändler zurück. Inzwischen sind kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn zu sehen.

„Scheinbar doch!“, sagt die Frau kämpferisch.

Der Buchhändler flucht vor sich hin. „Gute Frau, bitte beruhigen Sie sich! Natürlich können Sie bleiben“ Beschwichtigend hebt er seine Hand. „Aber bitte, bitte seien Sie leise! Das ist heute mein erster Tag. Bitte machen Sie

mir keine Schwierigkeiten!“

„Guter Mann, dann müssen Sie aber noch viel lernen! Zum Beispiel, dass Sie dieses ungeheuerliche Buch vom Ladentisch nehmen!“

„Könnten Sie bitteetwas leiser sein? Beide!“, unterbricht die Frau bei den Kalendern die Diskussion. „Ich will hier einen Kalender aussuchen und nicht ein Theaterstück mit ansehen.“

Aufgebracht entgegnet ihr die Frau mit der Sonnenbrille: „Gerade als Frau sollten Sie mich darin unterstützen, dass dieses Buch hier verschwindet.“

„Warum sollte ich das tun?“, antwortet die andere. „Ich will hier einen Kalender kaufen und nicht meine politische Meinung kundtun.“

Genervt verdreht der Buchhändler die Augen.

„Haben Sie Angst vor Gewitter oder vor Spinnen?“, fragt die Frau mit der Sonnenbrille.

„Ich? Nein! Wieso?“, entgegnet die andere überrascht.

„Weil Sie dann nach Meinung dieses Autors hier...“, sie winkt mit dem Buch von Herrn Gutknecht, „keine `ausgereifte Frau der Gesellschaft` sind. Männer, wie

dieser Buchhändler hier“, sie deutet auf den unglücklich blickenden Mann, „müssen Sie beschützen.“

„Unsinn! Das steht da nicht drin!“

„Das und noch viel mehr!“

„Zeigen Sie mal her!“

Sie geht zu der Frau bei den Kalendern und reicht ihr das Buch. Die schlägt das Inhaltsverzeichnis auf und keine zehn Sekunden später schüttelt sie den Kopf. Vier Sekunden später das zweite Mal. Noch etliche Male folgen.

Als sie das Buch langsam senkt, blicken sich beide an: Die Eine entsetzt, die

Andere triumphierend.

Dann wenden beide Frauen ihre Köpfe und blicken den Buchhändler an. Der schluckt nervös und flüstert: „Meine Damen, bitte, Sie erwarten doch jetzt nicht wirklich von mir, dass ich das Buch vom Ladentisch nehme? Bitte, das kann ich nicht tun!“

„Oh doch, das können Sie!“, erwidert die Kalender-Frau sehr sanft. „Weil wir beide sonst nämlich …. kreischen! Und da Sie ohne Frage ein vollwertiges Mitglied unser Gesellschaft sind“, und jetzt lächelt sie zuckersüß, „müssen Sie uns vor diesem bösartigen und

niederträchtigen Buch retten. Das haben Sie doch bestimmt als kleiner Junge gelernt, oder?“

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Enya2853 Liebe Judith,
deine kleine Geschichte hat meinen Tag erhellt. Ich habe sie heute Vormittag schon gelesen, kam nicht zum Kommentieren. Den "Buchhalter" hast du ja schon geändert. *schmunzel*
Eigentlich gruselig, wenn ich mir allein den Titel des Buches mit den Playmos betrachte.
Ich habe zum Glück kaum Erfahrung mit "Kreischen und Weglaufen" gemacht, weder bei mir noch bei meinen Töchtern.
Ich hielt es eher mit Astrid Lindgren: "Lass dich nicht unterkriegen! Sei frech und wild und wunderbar!" War gern Jägerin ...
Meine beiden jüngsten Enkeltöchter sind zuweilen ambitioniert, was das Kreischen angeht, allerdings laufen sie nicht weg.
Doch habe ich das von dir beschriebene Phänomen während meiner Lehrtätigkeit schon beobachtet, die Kids waren aber aus dem Kita-Alter raus, und nach einigem Grübeln war mir klar: Es ging um eine sehr versteckte Annäherung der beiden Geschlechter. Direkt zugeben, dass sie gern was miteinander machen wollten, das ging noch nicht. Also: Kreischen und Weglaufen und Jagen und Erschrecken.
Hat mir gefallen, deine Geschichte, hat richtig Spaß gemacht.
Liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks "Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht!" Dieser Satz, liebe Enya, hat mich durch diese Geschichte geleitet und ist mein Ruf zum Frauentag. Ich hoffe sehr, dass ich meine Jungen nicht nur zu Rettern erzogen habe. ;o)
Weibliche Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
"Bestseller..."
Ja, diese kostengünstigen Bestseller sind wohl seit dem Ende der 60ziger Jahre äußerst populär auf dem Markt geworden, als die Generation 'Kreischen und Wegrennen' sich die Niederungen der Kitas erobert hatte. Und seither mehr oder weniger uneingeschränkt alles darf, selbst das, was sonst im Kontext des gesellschaftlichen Zusammenleben zwischen Groß und Klein, als äußerst unpopulär galt...
Nun ja, so ändern sich halt die Zeiten, nur eines wundert mich, liebe Judith, was für eine Funktion hat denn nur der Buchhalter auf den Seiten sechs und zehn in der Geschichte, nochzumal wo dies sogar noch sein allererster Tag in diesem Laden ist... ...grinst*
Ansonsten habe ich mich natürlich köstlich amüsiert, auch wenn ich meine Bücher immer nur online und zwar als e-book einkaufe, so scheint mir also in der Tat etwas entgangen zu sein, was sonst eigentlich nur im analogen Buchhandel möglich ist... ...smile*
LG
Louis :-)
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Heissa, du bist aber auch ein aufmerksamer Leser, lieber Louis. Meine Stärken sind ganz eindeutig der Plot und die Dialoge. Bei der lektorierenden Feinarbeit fusche ich liebend gerne. Aber ich habe ja dich ;o)
Es ist schon einige Jahre her, da habe ich beim Abholen meines Jüngsten von der Kita was Faszinierendes beobachtet: Die Mädchen spielten hoch aufmerksam und sorgfältig `Kreischen und Wegrennen ohne Anlaß` . Ich konnte allerdings den Sinn dieses nervtötendes Verhaltens nicht verstehen. Als dann die Jungen auf den Plan traten und `mitspielten`, wurde mir einiges klar und es entstand diese Geschichte; mein Beitrag zum heutigen Frauentag.

Und in der Tat: Das Einkaufen in einem Buchladen ist gar nicht so das Besondere, es ist das Schauen, das Querlesen, das Auswählen, der Geruch von Büchern, die Stille UND das Beratenwerden von einem Buchhändler. Ein echtes Erlebnis.
Liebe Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
Gast Kannst du das Fragezeichen bitte löschen? Keine Ahnung, wie es dorthin gekommen ist
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Oh, liebe Laura, das geht leider nicht. Ich könnte nur deinen gesamten Kommentar löschen. Und das fänd ich echt schade. Also, ich würd sagen: Mut zur Lücke, äh, zum Fragezeichen ;o)
Aber gib ruhig noch mal Bescheid, wenn du deinen Kommentar gelöscht haben möchtest.
Viele Grüße und dir einen powervollen Frauentag
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
Gast Laura Peters: ich bin fasziniert. Dein Schreibtisch ist super und ich hab soeben triumphiert- mit dir. Wundervoll- du hast mir während meiner Bahnfahrt die Zeit verschönt. Ich danke dir- was für eine tolle Idee ?
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Liebe Laura, was für ein wunderschöner, motivierender Kommentar :o)
Ich danke dir.
Lies doch mal "Zur Sache, Schätzchen" von mir, "Fernbeziehung" ist auch soooo schön. Ist schon toll, wenn einen die Muse küßt und man das auf diese Weise weitergeben kann.
Viele Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
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