Der Geruch der Steine
eine biographische Geschichte
Ich glaube, es war im Sommer 1959, aber so ganz genau kann ich mich nicht mehr an das Jahr erinnern, denn ich war damals noch ein ziemlich dünner Knabe. Aber diese kleine Geschichte ist mir selbstverständlich in der Erinnerung geblieben, denn sie hatte mit meinem Großvater zu tun, den ich geradezu abgöttisch liebte und verehrte.
Mein Großvater war ein großer, stattlicher kräftiger Mann. Solange ich
denken konnte, trug er stets einen sehr akkurat gepflegten weißen Kaiser-Wilhelm-Bart, den er nachts sogar immer mit einer Bartbinde schützte. Die Spitzen waren gekringelt und kitzelten unser Gesicht, wenn er uns Kinder in den Arm nahm und uns an sich drückte.
Sein graues Haar war gescheitelt, stets sauber gekämmt und immer ordentlich geschnitten. Er trug in aller Regel ein weißes Hemd mit einem gestärkten Stehkragen, meistens mit einer schwarzen Fliege oder einer dunklen Schleife. Nie sah ich ihn anders und wenn er ausging, trug er stets eine Weste, darüber ein dunkles Jackett und seine schwarzen Hosen besaßen immer
eine exakte scharfe Bügelfalte. Auch verließ er niemals das Haus ohne seinen Hut, den er sommers wie winters trug. Sonntags ging er immer in die Kirche, natürlich in seinem besten Anzug und immer mit einem frischen Hemd und schwarzer Weste. Ich hab ihn auch nicht einmal ausgehen sehen, ohne dass er nicht vorher seine schwarzen Schuhe auf Hochglanz gewienert hätte. Das gehört sich einfach so, ein ordentlicher Mensch putzt seine Schuhe, bevor er ausgeht, sein kurzer Kommentar dazu.
Sein massiver hölzerner Stock gehörte genauso zu seinem Equipment, wie eine kleine schwarzlederne Aktentasche. Den Stock benötigte er, weil er im Ersten
Weltkrieg eine schwere Kriegsverletzung am rechten Bein erlitten hatte, die nie wieder richtig verheilte und unter der er Zeit seines Lebens still und ohne zu klagen litt. Zum Glück, sagte er immer, bin ich nur verletzt worden, so bin ich wenigstens von der unmittelbaren Front weggekommen, um von der Verwundung zu genesen. Später war er dann nur noch bedingt kriegstauglich und wurde einem Leutnant der Infanterie, als Offiziersbursche zugeteilt. In dieser Funktion hatte er sich vorrangig um die Belange seines Offiziers und dessen Pferdes zu kümmern. So musste er nicht mehr zurück in den Schützengraben, bei Verdun in Frankreich, wo alle seine
Kameraden, durch einen Giftgasangriff ums Leben kamen...
Er hatte also wirklich Glück gehabt, als er meinte, nur schwer verwundet worden zu sein.
Wenn sich das Wetter änderte, so konnte er es bereits vorher in seinem Bein spüren und er sagte es uns auch oft. So gesehen, war er mit seinen Prognosen, den Wetterfröschen immer etwas voraus und soweit ich mich erinnere, hat er sich auch kaum je darin geirrt.
Von Beruf war mein Großvater ein staatlich geprüfter Fleischbeschauer und von daher ein gern gesehener Gast auf den Höfen der umliegenden Bauernwirtschaften. Wenn die Bauern auf
dem Lande ein Tier schlachteten, mussten sie einen Fleischbeschauer bestellen, der ihnen das Fleisch auf Trichine untersuchte. Erst wenn alles in Ordnung war, stellte Großvater den Bauern die erforderlichen Papiere aus und stempelte ihnen mit blauer Lebensmittelfarbe das geprüfte Fleisch. Nur so konnten sie es nun weiterverkaufen und in den Handel bringen. Er liebte seine Arbeit und sein Wort hatte überall Gewicht. Aber niemals hab ich ihn je laut oder gar jähzornig erlebt oder auch nur, dass er seine Stimme erhoben hätte. Er war ein Mann der leisen Töne und des klaren Verstandes und nie kam ihm je ein
unbedachtes Wort über die Lippen.
Politisch hielt er es mit dem Preußenkönig, Friedrich II., der da meinte, ein jeder solle gefälligst nach seiner Fasson selig werden.
Das einzige, wo Großvater gelegentlich mal aus sich herauskam war, wenn er samstags nachmittags mit meinem Onkel und den Nachbarn Skat spielte, denn dies war seine absolute Leidenschaft und darin war er ein Meister und ein wahrhafter Perfektionist.
Jeden Morgen zum Kaffee setzte er sich umständlich seine Lesebrille mit den kleinen kreisrunden Gläsern auf. Danach setzte er seine alte Tabakspfeife mit einer spektakulär aufschlagenden
Flamme in Brand und las zuerst in seiner Lokal-Zeitung. Wenn er dann in der Zeitung etwas entdeckte, was ihn ärgerte oder aufregte, weil es nicht gründlich genug durchdacht oder handwerklich einfach nur schlecht gemacht war, dann wurde er gelegentlich auch etwas brummig und schüttelte missmutig den Kopf. Dazu murmelte er auch schon mal was von Dummheit und Spitzerei, vor allem wenn Politiker wieder etwas verzapft hatten, was dann meistens der kleine Mann auszubaden hatte. Aber diese dreißig Minuten Zeit, um die Zeitung zu lesen, die nahm er sich immer und da war es auch besser, wenn man ihn in dieser Zeit möglichst in Ruhe ließ.
Dann kam dieser Tag, in den fünfziger Jahren, wo ich ihn im Sommer ganz allein besuchen durfte. Mein Großvater hatte sich wie immer fein angezogen und seinen Enkel vom Bahnhof abgeholt. Ich war zuvor in Berlin von einer Missionsschwester in Empfang genommen worden und mit drei anderen Kindern in den Zug gesetzt worden. Eine jüngere Missionsschwester begleitete uns und setzte uns dann einzeln an den jeweiligen Zielbahnhöfen ab. Ich war als letzter an der Reihe und als der Dampfzug in den Bahnhof einfuhr, stand Großvater, halb eingehüllt in eine weiße Dampfwolke der Lokomotive, schon auf
dem Bahnsteig, um mich abzuholen. Stolz, so eine große Reise allein unternommen zu haben, berichtete ich ihm, was ich unterwegs alles erlebt und gesehen hatte. Das bislang aufregendste Abenteuer meines Lebens.
Daheim angekommen, wartete schon meine Großmutter, eine rundliche freundliche Frau, mit dem Essen. Denn das war für sie immer das Wichtigste, alle ihre Kinder in schwierigen Zeiten satt zu bekommen. Solange ich mich zurückerinnern kann, trug Großmutter immer ein schwarzes Kleid mit dunkelblauen Streifen und eine helle Bluse mit Rüschen. Darüber eine dunkelblau gestreifte Küchenschürze, die
sie erst zum Abend hin wieder ablegte. Ein weißer Haarknoten im Nacken vervollständigte ihr Erscheinungsbild. Sie mochte keine großen Worte und seit ihr ältester Sohn, der nie in den Krieg wollte, in Stalingrad vermisst wurde und niemals wieder heimkehrte, sprach sie kaum noch ein Wort.
Einen anderen Sohn hatte ihr die SA damals während der Nazizeit erschlagen, weil er sich in einer Gastwirtschaft offen für einen unbescholtenen Bürger eingesetzt hatte. Ihr Jüngster, was mein Vater war, der an der Ostfront erst schwer verwundet wurde und danach dann lange nach Kriegsende als ein Spätheimkehrer aus der fernen russischen
Kriegsgefangenschaft, endlich nach Hause zurückkehren konnte.
Großvater hatte sich für mich, etwas ganz Besonderes ausgedacht. Nach dem Essen ging er an die alte Kommode und öffnete geheimnisvoll lächelnd, die große Schublade. Dann griff er hinein und holte eine in braunem Packpapier eingeschlagene Kiste heraus und stellte sie auf den Tisch. Es war ein Geschenk für mich und ich durfte es allein auspacken. Nachdem ich das Packpapier geöffnet hatte, kam ein unglaublicher Schatz ans Tageslicht. Eine schwere, hölzerne Kiste mit einem breiten Schiebedeckel aus hellem Sperrholz.
In dieser Kiste befanden sich diverse weiße Stein-Bausteine, Brückenteile, Fenster, Türen und rote Dachziegel. Eben alles was man so brauchte, um daraus ein Märchenschloss, einen Bahnhof, eine Kirche oder auch ein anderes großes Gebäude zu bauen. Es lagen auch für mehrere solcher Gebäude, bunte Vorlagen und Anleitungen dabei, man musste einfach nur noch mit dem Bauen beginnen.
Das schönste Geschenk meines Lebens.
Und alle diese weißen Bausteine hatten einen unglaublich typischen, markanten Geruch, der so unverwechselbar war und ich ihn aber trotzdem nicht beschreiben konnte. Es war einfach nur ein
faszinierender Duft der diesen Steinen entströmte, der geradezu magisch auf mich wirkte, sodass ich ihn mein Leben lang, nicht vergessen würde. Wir setzten uns an den runden Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand und Großvater baute mit mir gemeinsam, aus diesen wunderbaren Steinen ein steinernes Schloss, mit weißen Bausteinen und roten Ziegeln. Es fehlte an nichts, da waren Fenster und Tore, eine Zugbrücke, Türme und Zinnen. Am nächsten Tag wurde der Bau jenes fragilen Gebäudes vollendet und das weiße Schloss leuchtete in der Tat wie aus einem Märchen heraus, welches für mich wahr geworden war. Als Großvater diese
Faszination in meinen Augen bemerkte, holte er schmunzelnd aus dem Nebenzimmer eine kleine Zigarrenkiste und drückte sie mir nur stumm in die Hand. Als ich sie öffnete, befanden sich darinnen zehn kleine, bunt bemalte Zinnfiguren, jede einzelne sorgfältigst in weißes Seidenpapier eingepackt.
Ein König, eine Königin, ein Reiteroffizier zu Pferde und sieben Soldaten in einem blauen Rock. Als ich alle Figuren in dem Schloss platziert hatte, war das Werk perfekt gelungen.
Der höchste Augenblick des Glücks, in meinem bisherigen Leben. So musste sich gewiss auch der Bayernkönig Ludwig II. gefühlt haben, als er sein
Schloss Neuschwanstein in Natura gesehen hatte.
*
Bis heute ist mir diese Geschichte in der Erinnerung geblieben und sie würde mich wohl als die bedeutendste Erinnerung an meinen Großvater ein Leben lang begleiten, der leider schon ein paar Jahre nach diesem für mich so unvergesslichen Erlebnis verstarb.
Vor einiger Zeit besuchten meine Frau und ich eine in der Nähe gelegene Einkaufspassage in Berlin. Als wir so durch das dichte Gewühl aus Kunden,
Händlern und Passanten schlenderten, blieb ich plötzlich wie vom Donner gerührt stehen. Da war er wieder, jener magische Duft aus meinen jüngeren Kindertagen, der mich an den so intensiven Geruch dieser weißen Bausteine erinnerte.
Niemals zuvor hatte ich diesen Duft je wieder wahrgenommen. Vor meinem geistigen Auge sah ich sofort wieder das weiße Schloss mit den roten Dachziegeln, der Zugbrücke und den Zinnfiguren. Ich meinte sogar, jeden Augenblick müsse mein Großvater um die Ecke kommen und dann würde er wieder vor mir stehen, in seinem dunklen Anzug mit Stock und Hut. Der Geruch
dieser Steine war ebenso überwältigend, wie die deutliche Erinnerung an meinen Großvater, dass mir ganz gegen meinen Willen die Tränen über das Gesicht liefen und meine Frau mich schon besorgt fragte, ob denn mit mir alles in Ordnung wäre. Ich nickte und erzählte ihr daraufhin diese ganze alte Geschichte von meinem Großvater und dem Schloss, welches wir damals zusammen gebaut hatten.
Dabei ging ich beinahe wie zwanghaft, jenem wohlbekannten Geruch nach und wurde kurz darauf auch tatsächlich fündig. In der Mitte der Einkaufspassage hatte nämlich eine fliegende Händlerin einen Spielzeugstand aufgebaut und
verkaufte alle möglichen Spielzeuge. Eisenbahnen aus Holz, Puppen, bunte hölzerne Triesel mit Peitschen und unter anderem auch so einen Baukasten mit weißen Steinen. Vielleicht etwas kleiner, als ich ihn in der Erinnerung hatte, aber dennoch war es zweifelsohne genauso ein Kasten, sogar mit dem gleichen Schiebedeckel, den man als Unterlage verwenden konnte. Obwohl diese Holzkiste noch im Original verpackt und verschlossen war, lag jener unglaublich
erinnerungsträchtige Duft, mehr als überdeutlich in der Luft. Sogar der ganze Spielzeugstand roch nach diesen seltsamen Bausteinen.
Ich war wieder in meiner eigenen
Kindheit angekommen, weit über ein halbes Jahrhundert nach diesem unvergesslichen Erlebnis mit dem wunderbaren Geschenk meines Großvaters. Dank dem faszinierenden Geruch jener weißen Steine...
***
Impressum
Cover: selfARTwork
Coverfoto:
Katharina WielandMüller_pixelio.de
Text: Bleistift
© by Louis 2013/4 last Update: 2022/1