Fantasy & Horror
Messias - Kapitel 1

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"Messias - Kapitel 1"
Veröffentlicht am 30. Dezember 2021, 52 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Messias - Kapitel 1

Messias - Kapitel 1

Die Bürger der Kleinstadt Achtürme drängten sich dicht auf dem Hauptplatz, um die besten Plätze zu erhaschen. Vor demalten, edlen Brunnen ausweißem Gestein,in dessen Mitte Wasser aus den rund geformten Mündern von vier mit dem Rücken zu einander gerichtetenForellenhervor sprudelte, stapelten die Männer trockene Holzscheite und Reisig um einen dicken Holzstamm. Sie waren Gefolgsleute des Bürgermeisters und Hauptpredigers des Schwarzmond-Ordens der Grafschaft Minartal. Mit ironisch respektvollem Abstand drängte sich die Traube von unruhigen Schaulustigen, zu denen Dill

und sein Freund Konstanz auch gehörten, davor, auf die grausame Hinrichtung einer unschuldigen Frau aus einem Nachbardorf wartend. Zumindest hielt Dill die Verurteilten immer für unschuldig – nein, erwusste es -, doch konnte er es niemals riskieren, sich offenkundig dazu zu äußern. Nicht einmal vor seinem einzigen Freund, Konstanz, der kürzlich in die Riegen des Schwarzmondes aufgestiegen war. Zu diesen hiesigen Zeiten reichte ein Hauch von Zweifel an den Praktiken des Ordens aus, um bereits am folgenden Tag in den tiefgelegenen Kerkern des Rathauses unter freizügiger Anwendung von Zangen und Messern verhört zu werden. Die

Verstümmelung von Körperteilen, wie das Entfernen von Nägeln oder das langsame Herausschneiden der Zunge, galtdort, in Kreisen der düsteren Gestalten, die sich bereitwillig einem jeden unvorsichtig gewesenen annahmen, noch als die sanften Maßnahmen. Doch am Ende dieses von heiseren Schreien erfüllten Weges angekommen, wartete auf die Opfer – immer mit denselben blutunterlaufenen, leeren Augen – meist der Scheiterhaufen. Dill hatte die Situation in den letzten Jahren sehr genau beobachtet. Waren Verbrennungen von Hexen und Häretikern bisher nur im Süden des Königreiches, in den Moorlandschaften, üblich gewesen,

verbreiteten diese sich nun schleichend wie ein unbarmherziger Nebel über alle Grafschaften, Fürstentümer und selbst über die Grenzen von Paradis hinaus. Für Dillwar dies eine schreckliche Entwicklung, deren Ausmaße er nicht abzuschätzen wagte.

„Dill ... Dill?“

„Ja?“

„Du träumst schon wieder.“ Konstanz lächelte neckisch. Auf seiner Brust funkelte der Sichelmond, gestickt ausfeinstem, silbernen Faden: Das Symbol des Ordens. Dill hasste es. Zu seinem Leidwesen schien sein Freund die schwarze Jacke mittlerweile kaum mehr abzulegen. Darauf angesprochen,

scherzte er lediglich, dass er in dem Kleidungsstück besonders elegant aussah, doch Dill erkannte, dass Konstanz sich wie in einem vergifteten, dunklen Wald immer tiefer im Irrsinn des Ordens verlor.

„Ich bin nur etwas angespannt. Ist immerhin die erste Verbrennung, die ich persönlich miterlebe.“

„Und sicherlich nicht deine Letzte, mein Freund“, erwiderte Konstanz freudiggrinsend und klopfte Dill auf die Schulter.

„Sag nicht, du willst mir nun öfter auf diese …Zusammenkünfte mitschleifen. Du weißt, als armer Bauer habe ich nicht wie deine Familie Mägde oder Knechte,

diesich in meiner Abwesenheit um das Vieh kümmernkönnen“, sagte Dill mit einem leichten, humorlosen Lächeln auf den Lippen.

„Dann kümmert sich ebendeineFrau um die Rinder. Das hier“,er machte eine, so gut es die Leute vor ihm zuließen, ausschweifende Bewegung mit seinem Arm in Richtung des nun in Umfang beachtlich gewachsenen Holzhaufens, „ist ebenso wichtig wie die Arbeit auf den Feldern.“

„Und wer kümmert sich dann um meinen Jungen?“,entgegnete Dill trocken.

„Na schön, das nächste Mal darfst du wieder aussetzen, oder eine meiner Mägde hilft bei dir aus, such es dir aus,

denn der Orden hat bereits einen weiteren Verdächtigen aufgespürt. Es handelt sich angeblich um einen Landstreicher, derden Hilflosen, natürlich gegen Bezahlung, die Zukunft weissagt.Du weißt ja, eine der Künste des toten Gottes undstrengstensverboten“, sagte Konstanz, die schmale Brust herausgestreckt und mit ernster Wichtigkeit in die Ferne blickend. „Ich kann dir auch ohne Magie prophezeien, wie seine Zukunftaussehen wird - nicht rosig.“ Ein kleines Lachen über seinen eigenen Wortwitz konnte er sich nicht verkneifen.

DochDill hörte ihm bereits nicht mehr

zu – er hatte gelernt, Konstanz in solchen Momenten der gespielten Autorität auszublenden. Er stand auf seinen Zehenspitzen und versuchte über die Köpfe der Zuschauer einen Blick aufdie Machenschaften vor dem Scheiterhaufen zu erhaschen. Er selbst würde sich nicht alskleinen Mann bezeichnen, doch hatten sich regelrechte Riesendirekt vor ihm positioniert. Eigentlichwar es eine Fügung zu seinen Gunsten, wenn sie ihm die Sichtvor dem was Folgen sollte versperrten. Unter den Zusehern weiter vorne erkannte er an dem braunen Hut mit den grauen, ausgefransten Gänsefedern einen benachbarten Bauern. Bei der beleibten,

blonden Frau, die neben ihmmit nervös huschendem Blick in Richtung Brunnen schaute, musste es sich im seine Gattin handeln. Ein älteres Ehepaar, welches Dills Rinder auf deren großer Weide grasen ließen ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen. Großzügigkeit war zu diesen Zeiten, die von einem steten Misstrauen jedem Mitmenschen gegenüber erfüllt waren, ein seltenes Geschenk und er nahm dies dankend an. Den Bauersleuten war selbstverständlich nicht klar, dass Dill die Weide regelmäßig saftig grün und goldfarben mit vielen Butterblumen gesprenkelt aufs Neue sprießen ließ. Auf diese Weise profitierten beide Seiten, wenn auch eine

unwissentlich. So viel Milch und Käse wie jetzt hatten sie zuvor noch nie verkauft. „Die Leute sind ganz wild darauf, sogar der knausrige Schuster!“, schwärmte der Bauer immer wieder, wenn sie sich zufällig auf der Weide trafen und freundlich plauschten. Doch Dill war vorsichtig und übertrieb es niemals mit seinem Einfluss. Gewitter ließ er vorüberziehen und Dürren ließ er sie aussitzen. Alles andere hätte für ihn und seine Familie ein gefährliches Risiko dargestellt – diese Erkenntnis wurde im Rahmen des bevorstehenden Spektakels, dem nun auch er beiwohnte, untermalt von einem kalten Schauer in seinem Nacken, nur bekräftigt.So ein Schicksal

gilt es um jeden Preis zu verhindernDill kam plötzlich – inmitten der Schar vorfreudig summender Menschen - in den Sinn, dass er abgesehen von Konstanz und dem benachbarten Bauern keine wirklichen Bekanntschaften pflegte. Er war froh darüber.

Als seine Augen weiter die Runde der Gesichter abstreiften, erblickte er Kinder, die auf den Schultern ihrer Väter saßen, damit sie nichts verpassten. Dill konnte ein Kopfschütteln nicht unterdrücken.

„Wie denkst du, sieht sie aus?“, fragte neben ihnen ein dicklicher Jugendlicher einen großen dürren Altersgenossen.

„Bestimmte alt und hässlich, wie in den

Geschichten“, antwortete dieser mit angewidert verzerrtem Mund und verschränkte die Arme. Auf dem Kinn des Pubertären sprießten zwischen einzelnen ersten Barthaaren ein paar beeindruckende Pickel.

„Bäh! Hatte denn die Letzte blasse, grünliche Haut und riesige Warzen?“, bohrte der Dicke nach und der Dünne fasste sich instinktiv ans Kinn. Dill musste ein Lächeln unterdrücken.

„Woher soll ich das wissen? Ich bekam sie ja erst zu sehen, als sie schon verkohlt und knusprig war“, antwortete der Große wehmütig.

Normalerweise war es nicht Dills Art, die Gespräche seiner Mitmenschen zu

belauschen, doch die Jungen sprachen von einer alten Bekanntschaft Dills, die er sehr wertgeschätzt hatte. Die Anklageschrift hatteHuldigung des toten Gottes mittels Schadzauber und die Herstellung von Blutsalbe für perfide Rituale besagt. Ihr einzig wahres Verbrechen war es gewesen, unverheiratet und weit abseits der nächsten Siedlung in einer heruntergekommenen Hütte zu leben.

Als schrill eine Trompete ertönte, teilte sich die Menge gehorsam und gab einen Weg zum Scheiterhaufen frei – diese Reaktion auf den Schrei des blechernen Instruments war schon zur Routine für die Menschen geworden.

Hauptprediger Eckart, in seiner schwarzen Priesterrobe und den fast ebenso dunklen, eng beieinander liegenden Augen hinter den runden Brillengläsern, schritt mit erhobenem Haupt voran. Dicht hinter ihm bewegten sich ein Fahnenträger und zwei Offiziere der Stadtwache in Lederkleidung und spitzen, mit roten Federn gespickten, Hüten. Diese hatte Dill schon immer als besonders lächerlich aussehend empfunden. Dahinter schritten zwei Männer niedrigeren Ranges langsam voran, deutlich zu erkennen an ihren matten Brustpanzern und Helmen, der einzige Glanz ging von den, an den Rüstungen angebrachten,  gründlich

polierten Wappen der Stadt aus: Im Zentrum der markante Berg Minar, umrahmt von goldenen Kuhglocken. Zwischen ihnen bewegte sich eine gefesselte Frau mit schleifenden Schritten über den staubigen Weg, lediglich mit einem Sack aus Jute bedeckt. Dort wo die zwei Männer nicht die Ketten, die die magere Gestalt zwischen ihnen in Zaum halten sollten, hielten, trugen sie in den Himmel gestreckte Piken, welche sie bei einem möglichen Fluchtversuch sofort, und wahrscheinlich mit Freuden, einsetzen würden.

Ältere und ängstliche Frauen knieten sich beim Anblick der Frau nieder und

murmelten Schutzgebete.

„Hexe!“, schrie ein älterer Mann und bespuckte die gefesselte Frau. Sie beherbergte anscheinend nicht einmal mehr den zartesten Hauch von Energie in ihrem schmalen Körper, denn auf das Geschoss von bräunlichem Speichel, das klatschend auf ihrem gesenkten Kopf landete, folgte keinerlei Reaktion. Nun, da die merkwürdig andächtige Ruhe, die bisher noch geherrscht hatte, gestört worden war, war der Bann, der die Menschen in ihrer stummer Schaulustigkeit im Zaum gehalten hatte, gebrochen. Aus einer der hinteren Reihen der Menge schoss ein Stein in bogenförmiger Fluglinie hervor und traf

die Frau, die nun schon ein Stück vorangeschritten war, im Nacken. Dill zuckte zusammen, konnte es auf Kontanz‘ fragenden Blick hin jedoch unter einem vermeintlichen Hustenanfall tarnen. Wie von diesem Steinwurf dirigiert, stimmte ein wütender Chor übelster Beschimpfungen an. Eine Frau in schwarzer Trauerkleidung samt Gesicht verdeckendem Schleier machte die vermeintliche Hexe lautstark für den Tod ihres jungen Sohnes verantwortlich. Vor einer Woche solle die Frau einen tödlichen Fluch auf das Kind gelegt haben, obwohl sie es eigentlich hätte heilen sollen.

„Ich kannte ihren Jungen, ein

neugieriger kleiner Knirps, das kleine Gesicht übersäht von Sommersprossen. Er litt gelegentlich an Kopfschmerzen und darum bat die Mutter die Hexe um lindernde Kräuter, da sie sich keinen Arzt leisten konnte. Ein tragischer Fehler“, raunte Konstanz Dill, aus Respekt vor der trauernden Mutter, hinter vorgehaltener Hand zu.

Tatsächlich hatte auch Dill den Jungen gekannt. Die Angeklagte, Rena, hatte der verzweifelten Mutter Mädesüß und Waldmeister zur Schmerzlinderung gegeben. Noch am selben Abend jedoch hatte Rena sich an Dill gewandt und um Hilfe gebeten, da sie bei dem Kind eine Art bösartiges Gewächs im Hirn

diagnostiziert hatte. Es war der Schmerz in ihrer Stimme gewesen, als sie über den Jungen und seinen, sich in den nächsten Wochen ohne Hilfe wohl verheerend verschlechternden, Gesundheitszustand sprach, der Dill schließlich dazu bewegte, einzuwilligen. In den nächsten Tagen hatte er das Kind aus sicherer Entfernung beim Spielen im Garten beobachtet. Nur noch wenige matte, für das menschliche Auge unsichtbare, Partikel, strömten schwach aus dem dünnen, kleinen Leib des Buben hervor. Bei einem gesunden Kind strahlten diese, wenn sie den Körper verließen, grell wie das Sonnenlicht an einem wolkenlosen Tag und verloren

ihren fast blendend hellen Glanz erst nach wenigen Metern, bis sie sich schließlich gänzlich auflösten und im Boden zu versinken schienen. Für Dill stand fest, dass die Krankheit im Leib des Jungen bereits zu weit fortgeschritten war, er hatte nichts mehr dagegen unternehmen können, bis auf ...Hätte ich es tun sollen? Hätte ich Rena dieses grausame Schicksal ersparen können?

Wieder warf jemand etwas, diesmal ziemlich großes, in Richtung der Frau und traf sie zielsicher an der Wange. Dill atmete erleichtert auf, als er erkannte, dass es sich bei dem Wurfgegenstand nur um eine faulige Tomate handelte. Er

ertrug den Anblick der geschundenen Frau nur schwer, in seinem Magen hatte sich über den Verlauf der letzten Stunde ein Knoten der Größe eines Kohlkopfes gebildet und das Schlucken schien immer mit jeder Sekunde schwerer zu fallen. Nichts hätte er in diesem Moment lieber getan, als den Geschehnissen, den hämischen Gesichtern der Unwissenden um ihn herum, den Rücken zu kehren. Doch er sah sich gezwungen hinzusehen. Denn er war hier, ein Zuseher, und nahm an dieser Festivität des Sadismus teil. Stumm sah er mit an, wie sich der Bürgermeister und sein Gefolge dem Scheiterhaufen näherten. Der alte Mann stellte sich auf das, so wie Dill

bemerkte, überdurchschnittlich hoch errichtete Podium und wartete, bis einer der Offiziere mit einem Nicken das Zeichen gab, Rena an den Pfahl zu ketten. Wahrscheinlich wäre der Einsatz von Ketten an diesem Punkt Renas Verfall nicht mehr notwendig gewesen – sie war in der stickigen Dunkelheit der Kerkergewölbe gebrochen worden.

Die Gemüter erhitzten sich immer mehr, sodass die Stadtwache einschreiten musste, um die besonders Übermütigen, die anscheinend den Wunsch hegten, jede einzelne schwarze Locke der Hexe brennen zu sehen, vor dem Haufen zurückzudrängen. Nachdem Eckart die Arme feierlich ausgebreitet hatte - wie

ein hagerer Greifvogel bereit für den Abflug -, blies der junge Fahnenträger kräftig in seine Posaune. Der Bürgermeister wartete den leicht schiefen Ton, den die noch ungeübten Lungen produzierten, ab und klang seine Rede an. Die Dorfbewohner lauschten eifrig, mit weiten Augen und von der Arbeit dreckigen Händen beinahe wie im Gebet, gefangen in ihrem verzweifelten Aberglauben, fest aneinandergepresst.

Renas Schreie, kaum noch von denen eines sterbenden Tiers zu unterscheiden. Ihr Körper, sich schmerzvoll windend und in unnatürliche Positionen verrenkend. Von dunkelrot samtigem Blut überzogene Messer und Zangen. Der

steinerne Boden unter Renas gekrümmter Gestalt, die dunkle Farbe ihres Blutes annehmend. Bürgermeister Eckart in seinem dunklen Umhang, ein dickes in Leder gebundenes Buch in der einen Hand, in der anderen eine blutgetränkte Haarsträhne Renas. Seine Augen hinter den durch den Schein des Feuers erleuchteten Brillengläsern nicht zu erkennen. Sein schmaler Mund zu einem amüsierten Lächeln verzogen.

Renas Gesicht war durch ihre nach vorne gebeugte Haltung und hinter dem, an Stellen durch Blut und Dreck eingetrockneten, Gewirr von schwarzem Haar nicht zu erkennen. Nachdem, als feierliches Ende des Bürgermeisters

Rede, die wenig überraschende Hinrichtung durch Feuer verkündet wurde, ertönten aus der Menge der Schaulustigen hämische Jubelschreie – ein weiterer Triumph der anständigen Bürgerschaft über die perversen Kreationen der Magie. Wie aus einem tiefen Schlaf erwachend, richtete die Verurteilte ihr Haupt nun langsam, der Geräuschquelle entgegen, auf, der Blick hinter Haarsträhnen desorientiert über die Menschenmenge huschend.

Dann trafen ihre Augen auf Dill - neinein Auge, begriff dieser in blankem Horror, denn dort wo Renas linkes Auge ihrer Verderbnis entgegengeblickt hätte, befand sich nun nur mehr eine

dunkelrote, fleischige Aushöhlung.

Dill presste sich eine schweißnasse Hand vor den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken. Heiße Tränen sammelten sich in seinen Augen und verschleierten ihm für einen Augenblick die Sicht, wofür er dankbar war.

„Warum hilfst du ihr nicht, Dill?“, ertönte die kindlich hohe Stimme eines Mädchens neben ihm, das er bisher nicht bemerkt hatte. Er wischte sich rasch mit einer Hand übers Gesicht – eine Geste, die auch als Indikator für Müdigkeit gedeutet hätte werden können.

„Was soll ich schon tun? Ich kann ihr nicht helfen“, stieß er so leise er konnte zwischen den Zähnen hervor. Konstanz

schien es nicht bemerkt zu haben, seine großen Augen waren weiterhin gespannt nach vorne gerichtet.

„Töte sie.Töte sie alle“, flüsterte die Stimme heiter zurück.

Dill kniff die Augen zusammen. „Ich kann dich jetzt nicht ertragen. Geh einfach …bitte.“

Das Mädchen grinste breit zu Dill hinauf und entblößte dabei eine große Zahnlücke. Es kribbelte Dill in den Händen, das Kind von sich zu stoßen. Doch bevor er seinen Arm heben konnte, als hätte das Mädchen sein Vorhaben erahnt, schlängelte es sich flink zwischen den Zusehern nach vorne, dem Scheiterhaufen entgegen, hindurch. Als

Dill die kleine Gestalt aus den Augen verloren hatte, tat er es seiner, vor Vorfreude summenden, Umgebung gleich und richtete seinen Blick wieder den Geschehnissen nach vorne entgegen.

Dill zwang seinen Blick wieder hin zu seiner verdammten Freundin und bemerkte, dass die Flammen sich schnell von dem durch ihn induzierten Intermezzo erholt hatten und Rena weiter eifrig entgegenkletterten. Diese zerrte mit aller Kraft, die sie in ihrem ausgemergelten Körper noch bewirtete, an ihren Ketten, doch es war zwecklos. Unerwartet warf sie ihren Kopf in den Nacken und stieß einen animalischen Schrei aus, der selbst die kaltblütigsten

unter den Zusehenden verstummen ließ. Das Feuer hatte die Verurteilte nun endgültig erreicht und umhüllte ihre Beine mit seinem zerstörerischen und erbarmungslosen Hunger. Es dauerte nicht lange und blasse Haut färbte sich ein in ein tiefes Rot, in großen Blasen unter der Hitze schwellend. Renas Gesicht verzerrte sich zu einer grotesken Grimasse des Schmerzes. Die tiefe Stimme eines Mannes hinter Dill brach in hämisches Gelächter aus.

„Bitte hilf mir! Bitte lass das nicht zu!Hilf mir!“, flehte Rena nun. Dill wusste genau, an wen sich diese Bitte richtete. Als machten sich die Flammen nun auch auf den Weg zu ihm, machte er

einen staksigen Schritt rückwärts.

Ich kann nicht.

„Die Lösung ist so einfach“, verkündete ein kleiner Junge mit schulterlangem, strähnigem Haar, der sich auf den Schultern seines Vaters sitzend zu Dill wandte und so mit seinen großen braunen Kinderaugen von oben auf ihn herabblickte. Konstanz bekam hiervon scheinbar wieder nichts mit, denn er starrte weiterhin wie gebannt hin zu der gequälten Kreatur in Flammen.

„Töte sie alle, sie haben es verdient,“ kicherte der Junge, als hätte er einen cleveren Scherz gemacht. Er blickte Dill mit unschuldigen Augen an und legte seinen kleinen Kopf in Erwartung auf

eine Reaktion schief. Kälte breitete sich auf Dills Rücken aus und er zwang sich, zu Boden zu starren.

„Wer bin ich schon, um das zu beurteilen?“

„Der Anfang“, flüsterte ihm der Knabe nun zu - das Lächeln aus seiner hohen Stimme war verschwunden –, richtete sich auf und seine Aufmerksamkeit wieder dem Spektakel zu.

Für einen Moment schien Dill wie in Trance und starrte das, nun wieder gänzlich von den Geschehnissen eingenommene, Kind an. Rings um ihn war es vollkommen still geworden, als wäre die Zeit stehen geblieben und dem Raum um ihn jede Luft entzogen.Der

Anfang. Er hob seine rechte Hand zögerlich. Zaghaft begann der Staub auf dem grauen Pflasterstein darunter zu wirbeln. Nur ein paar weitere, kleine Bewegungen und er könnte diesen zarten Luftstrom in einen vernichtenden Orkan verwandeln. Einen Schritt weiter und sein Leben wäre nie mehr das gleiche. Alles würde sich verändern. Er würde alles zurücklassen müssen. Er würde alles verlieren. Oder alles gewinnen?

Ein schriller, gequälter Schrei holte ihn in die Realität zurück und er schnappte, als wäre er nach einigen Minuten unter Wasser gefangen wiederaufgetaucht, hastig nach Luft. Konstanz warf ihm einen besorgten Blick zu.Dieser Blick

würde schnell jede Wärme verlieren, fändest du heraus, dass ich genau das in mir trage, wofür diese Frau heute zu Unrecht verurteilt wird, dachte sich Dill bitter und wandte seinen Blick ab.

„Mögest du deinen Frieden finden“, keuchte er leise und drehte der Hinrichtung den Rücken zu.

„Dill, wohin willst du?“, rief Konstanz ihm nach.

Doch Dill antwortete nicht. Er wollte so schnell wie möglich fort von hier und fort aus der Menge. Nicht für sein eigenes Wohl, sondern für das der Menschen um ihn herum – nicht, dass sie es in ihrer Gier nach Blut und der Qual einer unschuldigen Person verdient

hätten, von ihm verschont zu werden. In seiner Flucht rempelte er seinen Hintermann, der in seiner Statur verdächtig einem Ochsen ähnelte, an, der als Reaktion hierauf laut auf grunzte. Geschickt tauchte er unter dem Griff des Mannes weg und drückte sich flink an ihm vorbei.

Sich zwischen den Menschen hindurchschiebend, vernahm er weiter die verzweifelten, flehenden Hilferufe der Frau, die er einst als seine Vertraute bezeichnet hatte –sie würde dies jetzt sicherlich anders sehen. Als er es schließlich aus der Menschenmasse geschafft hatte, rannte er los. Er bog scharf in die die nächste Seitenstraße ein

und lehnte sich nach Luft ringend gegen die kühle Hausmauer. Die Tränen brachen heiß und schmerzhaft aus ihm hervor.

Die Dämmerung hatte den Himmel über ihm bereits in ein tiefes Rostrot getaucht, als Dill sich wieder gesammelt hatte und der Kleinstadt nun den Rücken kehrte. Durch den von dunklen Tannen besiedelten, dichten Wald ging er schweren Schrittes über einen vom Regen matschigen Trampelpfad heimwärts. Seine Gedanken drehten sich wild im Kreis wie Ahornsamen, die von einem Windstoß mit sich getragen werden. Sie galten Rena und der barbarischen Qual,

die ihr ungerechtfertigt zugefügt worden war – sie hatte den Menschen immer nur helfen wollen, nie ein verzweifeltes Paar Augen vor ihrer Haustüre abgewiesen. Und sie galten Dill selbst – seiner Unfähigkeit, einzuschreiten und dem Chaos und Leid, das er den Menschen bereitet hätte, wäre er eingeschritten.Hätten sie es nicht verdient?, flüsterte eine Stimme in den hintersten, dunklen Gemäuern seines Bewusstseins. Wie als Antwort auf die Stimme, die mit jeder dieser sinnlosen Hinrichtungen etwas selbstbewusster wurde, trat Dill schnaufend gegen einen Stein auf seinem Pfad, der mit gewaltiger Wucht gegen einen Baumstamm knallte

und Stücke der dunklen, feuchten Rinde mit sich riss.

Hinter ihm ertönte ein Trio glockenhellen Kicherns. Seit Verlassen der Stadt begleiteten ihn drei Kinder – darunter der Junge mit dem strähnigen Haar und das flinke Mädchen mit der Zahnlücke.

„Ich bin schwer enttäuscht von dir“, verkündete das dritte Kind, ein unterernährtes Mädchen in verlumpter, für seine Gestalt viel zu großer, Kleidung, den knochigen Zeigefinger erhoben.

Dill hatte, als er seine kleinen Verfolger kurz nach der Stadtgrenze bemerkt hatte, darauf gehofft, sie im dämmrigen Licht

des Waldes abhängen zu können, doch die Kinder waren beharrlich. Dill schwieg und schritt stur weiter voran, mit dieser Taktik wurde eres meist los.

„Ich habe bis zum bitteren Ende zugesehen“, verkündete der Junge hämisch. „Und keine Sorge, sehr viel länger hat sie nicht mehr geschrien.“

„Du kleiner Mistkerl, du- “, platzte es grob aus Dill heraus, doch er zwang sich, nicht fortzufahren. Je mehr er jetzt sagte, desto länger würde diese nervtötende Verfolgungsjagd andauern. Die Kinder kicherten, offenbar entzückt über Dills plötzlichen Ausbruch, auf. Über ihren Köpfen kreischte ein Schwarm von Krähen, durch diese abendliche

Ruhestörung aufgeschreckt, empört auf.

„Wie oft wirst du noch tatenlos zusehen, wenn sie deine Art Stück für Stück, Scheiterhaufen für Scheiterhaufen, auslöschen? Nicht einmal wenn sie sich eine deiner Vertrauten –Rena, nicht wahr? -  vorknöpfen, schreitest du ein. Ich bin sicher, sie hat mit deiner Hilfe gerechnet. Ist dir das denn alles egal?“, bohrte der Junge, neben ihm herlaufend, nach. Er war kein bisschen außer Atem und sein Gesicht und seine Wortwahl hatten einen Ausdruck der Ernsthaftigkeit angenommen, der für ein Kind schlichtweg unnatürlich war.

„Natürlich nicht“, knurrte Dill – genervt von diesem Vorwurf und von sich selbst,

weil er sein Vorhaben, zu Schweigen, gebrochen hatte.

„Und warum lieferst du mir jedes Mal dieselbeschwache Vorstellung?“

Dill verlangsamte seinen Schritt und presste die Lippen fest aufeinander, bis es schmerzte.

„Oder ist es ganz anders? Gefällt dir der Gedanke, dass du irgendwann der einzige deiner Art sein wirst, nachdem all deine Brüder und Schwestern der Erde gleich gemacht wurden?“, fragte der Junge herausfordernd.

Dill blieb ruckartig stehen.Du könntest sie leicht zum Schweigen bringen„Warum macht ihrmich hierfür verantwortlich?“, fuhr er fort. „Es gibt Hunderte, ja

Tausende, von uns. Warum werde ausgerechnetichEiner der Gestalten, es war das hagere Mädchen, kam nun langsam auf ihn zu. Dill wich nicht zurück. Er wollte diesemEtwas gegenüber keine Schwäche mehr zeigen.

„Ach Dill, das habe ich dir doch bereits erklärt. Weißt du nicht mehr?Du bist es, der deine Nation im alten Glanz erstrahlen lassen wird“, verlautbarte das Mädchen mir klarer Stimme und blickte mit den blanken Augen einer Schlafwandelnden zu Dill herauf.

„Zu welchem Preis? Der Auslöschung der Menschheit?“, rief er und ärgerte sich über den flehenden Ton, den seine Stimme angenommen hatte. Er kannte die

Antwort. Er kannte sie schon seit langer Zeit.

„Genau. Du hörst mir ja doch zu“, lächelte das Mädchen verträumt und legte seinen Kopf schief. Erst jetzt fiel Dill auf, dass die Lippen des Kindes einen bedenklich blauen Farbton angenommen hatten. Schaudernd ließ er von ihm ab.

„Die Hinrichtungen werden kein Ende nehmen, Dill. Der Orden wird nicht aufhören euch zu jagen, bis die letzte brillante Seele von diesem Erdboden getilgt wurde. Sein Fanatismus geht so weit, dass er mittlerweile selbst auf den kleinsten Verdacht hin Unschuldige, Sterbliche, hinrichten lässt. Welchen

Beweis gab es denn dafür, dass Rena diesem Kind Unrecht getan hat? Auf welcher Grundlage wurde der alte Schafhirte vor nicht einmal drei Tagen seiner Familie entrissen? Kannst du mit all dem leben, Dill?“, fragte der Junge, dessen Blick und Stimme noch um einiges klarer waren, als die des hageren Mädchens.

Diese Frage hatte Dill sich schon oft genug selbst gestellt. Sich an der wütenden Meute von Menschen, fiebrig nach dem nächsten Sündenbock, den sie für das eigene Unglück verantwortlich machen konnten, suchend, vorbeidrückend, hatte er sich gefragt:Wie kann ich mit all dem leben? Er öffnete

den Mund, brachte jedoch kein Wort heraus. Sein Atem machte sich bereits in kleinen, weißen Wölkchen in der Luft um ihn herum bemerkbar und er realisierte, wie sehr es bereits abgekühlt war. Der Herbst stand vor der Tür. Wieder blickte er hin zu dem dürren Mädchen mit den blauen Lippen und erkannte, dass sie nicht einmal ein paar Schuhe an den Füßen trug.

„Dill„Wir sehen uns wieder“, sagte der Junge und nahm die zwei Mädchen an den Händen. Zu dritt machten sie kehrt und begaben sich auf den Weg zurück zur Stadt. Dill fragte sich im Stillen, ob diese Kinder sich überhaupt kannten.

„Wer oderwas bist du?“, platzte es

plötzlich aus ihm heraus, als das Trio schon fast aus seinem Blickfeld verschwunden war.

Nur der Junge reagierte und blickte langsam über seine Schulter zurück zu Dill hin, während die Mädchen hinter ein paar großen Tannen, die in der Dunkelheit nun wie schwarze Riesen über ihnen türmten, verschwunden waren.

„Wer bist du?“, wiederholte Dill seine Frage und machte einen Schritt auf die kleine Gestalt in der Ferne zu. Bisher hatte er dem Wesen nie sonderlich viel Aufmerksamkeit geschenkt - Dialoge wie diesen hatte er kaum zugelassen. Dass er sich nun dazu hatte hinreißen lassen,

schrieb er seiner emotional aufgewühlten Verfassung nach den heutigen Ereignissen zu. Er hatte festgestellt, dass das Wesen die Körper jeder Kreatur, egal ob Mensch oder Tier, einnehmen konnte. Zu sprechen, wie diese Kinder, vermochte es jedoch nur, wenn es in den Körper eines Menschen geschlüpft war. Dill nahm an, dass es sich am heutigen Tage dazu entschieden hatte, eine Mehrzahl von Körpern einzunehmen, um ihm noch mehr als sonst zur Last zu fallen.Es wird ungeduldig. Zum ersten Mal war es im Körper der betagten Nene, eine Witwe, die vollkommen alleine in ihrem alten Hof ganz in der Nähe lebte, aufgetaucht. Zunächst hatte er es für ein

erstes Anzeichen von Alters-Demenz gehalten, als die Frau während der Ausmistarbeit plötzlich in inmitten seines Stalls stand und wirres Zeug von sich gab. Doch als sie begann, hastig von Ereignissen aus Dills Leben zu erzählen, über die sie unmöglich Bescheid hätte wissen können, wurde er misstrauisch und führte sie zurück zu ihrem Hof. Seither hatte er in der Stadt vorsichtig die Ohren nach Gerede über die Witwe, oder von der Witweüber ihn, offengehalten, jedoch nichts Weiteres aufgeschnappt. Ausschließlich observierend gab sich das Wesen hingegen in Gestalt unterschiedlichster Tiere. Zwar war es für Dills Art nicht

ungewöhnlich, die Aufmerksamkeit der Tierwelt auf sich zu ziehen, jedoch hatte er die Drossel, die ihm während der letzten Wochen wie ein fliegender Schatten auf Schritt und Tritt gefolgt war, oder der Feldhamster, der ihn am Tag zuvor stundenlang und vollkommen regungslos bei der Arbeit beobachtet hatte, als sonderlich aufgefallen.

Eine lange Zeit über blickte der Junge Dill lediglich stumm an. Als dieser kurz davor war, aufzugeben und seinen Heimweg endgültig anzutreten, hob das Kind seine Hand und richtete den Zeigefinger gen Himmel. Dill versuchte der Luftlinie durch die Baumwipfel hindurch zum Firmament hin zu folgen

und runzelte die Stirn, als er realisierte, dass das Kind auf Kalest, auchKalest der Schwarze genannt, deutete.

„Was meinst du damit? Ich verstehe nicht was du mir sagen willst!“, rief er dem Jungen zu.

„Eins noch … verriegle heute Nacht Fenster und Türen. Lösche jedes Feuer, egal wie kalt es dir und deiner Familie wird. Erwarte Besuch.“

Mit diesen Worten verschwand der Junge hinter den Bäumen. Verwirrt und schlagartig vor Kälte bebend blieb Dill noch einen Moment lang in der Finsternis stehen, aufwärts den Erdtrabanten beobachtend, der schwarz wie Pech ein Loch ins Firmament zu

bohren schien.

Meine Heimat.

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