Kurzgeschichte
Nachbar-schaftshilfe

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Veröffentlicht am 11. Dezember 2021, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Nachbar-schaftshilfe



Während sich die alte Frau Schneider damit abquält, den Schnee vor ihrem Grundstück zu räumen, bildet sich hinter ihr ein Stau.

Statt zu helfen, sieht man interessiert zu.....

























Es war die Woche zwischen dem ersten und zweiten Advent und in der Nacht hatte es fast einen Meter Neuschnee gegeben. Nichts Besonderes in den Höhenlagen des Sauerlandes. Lediglich der frühe Zeitpunkt war außergewöhn-lich.

Peter Hohenscheidts Frau Monika, die wegen der Kinder ohnehin nur mit einem Auge schlief, hatte es zum Glück bemerkt und ihren Mann früher als sonst geweckt. Als er in die Küche geschlurft kam, war diese schon mollig warm und Monika hantierte an der Kaffeemaschine. Er umschlang sie mit seinen müden Armen, die sofort hellwach wurden, drehte seine Frau zu sich und holte sich

seine Tagesdosis an Küssen.

Nach dem Frühstück beeilte er sich, nach draußen zu kommen, um seiner Räum-pflicht nachzukommen. Es gab im Dorf keinen Winterdienst und laut Gemeinde-verordnung war jeder Hausbesitzer verpflichtet, auch die Straße vor seinem Grundstück im Winter frei zu halten

In der Zwischenzeit ließ er den Motor seines Autos warmlaufen. Das war zwar verboten, machten aber alle so.

Also war es richtig.


Peter fuhr vorsichtig los, kam aber nicht weit. Gleich hinter der nächsten Straßen-ecke hatte sich ein Stau gebildet. Neugierig stieg er aus und hoffte, von

einem Nachbarn Näheres zu erfahren.

Er musste weit laufen, um jemanden fragen zu können. Alle Fahrer und ein paar Leute,  die sich aus den Häusern dazugesellt hatten, waren vor dem ersten Auto versammelt und beobachteten die alte Frau Schneider, die das letzte Grundstück in der Straße besaß und sich redlich abmühte, der Schneemassen Herr zu werden. Da vorher niemand die Straße passieren konnte, warteten alle geduldig. Einige telefonierten mit ihren Mobil-telefonen. Wohl, um ihren Arbeitgeber zu informieren, dass es später werden würde.

Einer der Autofahrer hatte trotz der Kälte die Scheibe der Fahrerseite

heruntergekurbelt und Musik war zu hören. Einige Leute lachten. Da hatte wohl jemand einen Witz erzählt. Andere traten frierend von einem Bein aufs andere.

Die alte Frau indes geriet langsam an ihre Grenzen. Der viel zu große Schieber rutschte ihr immer wieder seitlich weg. Einmal, als sie dabei ausglitt, weil sie ihr gesamtes Gewicht auf das Werkzeug gestützt hatte, nestelten einige in der Menge, die immer größer wurde, Handys hervor und machten Fotos. Ein paar davon waren sicher schon gepostet, bevor Frau Schneider sich wieder hoch-gerappelt hatte.


Eine Haustür öffnete sich und Frau Hansen erschien, einghüllt in einen dicken Wintermantel und einem langen Wollschal, den sie bis zu den Augen hochgezogen hatte. Sie war vor ein paar Jahren – der Liebe wegen – aus dem hohen Norden hierhergezogen und hatte sich in den Ruhestand begeben, nachdem sie einen Kiosk in den Sylter Sand gesetzt hatte. Und genauso lange wurde sie von der Dorfgemeinschaft als „Zugereiste“ misstrauisch beäugt.

Nun aber johlte die Menge begeistert, weil sie ein großes Tablett mit heißen Würstchen balancierte. Und auf einem Pappschild, das sie sich um dem Hals gehängt hatte, stand: „Nur 1.50 €!“

Jeder beeilte sich, um von der Köstlich-keit zu naschen, bevor sie vergriffen war.


Die alte Frau Schneider war mittlerweile wieder gestürzt. Sie weinte und schaffte es irgendwie, auf die Knie zu kommen. Sie zog ihre Handschuhe aus, was eine Weile dauerte, weil vermutlich ihre Hände inzwischen gefühllos geworden waren. Sie faltete die Hände zum Gebet und es sah so aus, als ob ihre Lippen die Worte:“ Lieber Gott! Hilf mir!“, zu formen schienen. Aber das konnte man sich später ja noch in Ruhe auf dem Smartphone betrachten, indem man die Fotos vergrößerte.


Der Stau wurde länger. Kinder wollte zur Schule oder in den Kindergarten gebracht werden und ihre Mütter nutzen die Gelegenheit, um in den nächstgelegenen Supermarkt zu fahren, oder, bei diesen winterlichen Bedingungen, den kleinen Dorfladen aufzusuchen.

Indes erschien Frau Hansen mit einer neuen Ladung Würstchen auf der Bild-fläche. Auf dem Schild stand nun: „Würstchen 4,- €! 1 Tasse Kaffee 2,- €!“. Hinter ihr senkte ihr Mann Heinrich verlegen den Blick, folgte aber tapfer seiner Frau mit einem Tablett, auf dem sich eine schwarz-silberne Thermoskanne und ca. ein Dutzend großer Tassen befanden.


Peter Hohenscheidt, der sich das alles teils amüsiert, teils angewidert ange-sehen hatte, hatte nun genug. Obwohl er sich seine Anzughose ruinierte, kämpfte er sich an den anderen vorbei durch den an die Seite geschaufelten Schnee und kam der alten Frau Schneider zu Hilfe. Nach einer guten Viertelstunde hatte er schließlich eine Spur freigeschaufelt, die breit genug war, um Autos hindurch zu lassen. Frau Schneider bedankte sich und er suchte schnell seinen Wagen auf.


Es dauerte noch eine Weile, bis die Straße zur Ruhe kam. Frau Schneider sah dem letzten Wagen nach und blickte dann

zur Haustür von Frau Hansen, die inzwischen die leeren Tabletts ins Haus gebracht hatte und nun auf sie zu kam.

Sie grinste über das ganze Gesicht und mit den Worten:

„Hier, dein Anteil!“, reichte sie Frau Schneider ein paar Geldscheine.

Die Angesprochene steckte freudig das Geld schnell weg, mahnte dann aber: „Beim nächsten Mal nimmst du aber von Anfang an 4,- Euro!“

„Nun ja, ich hatte zunächst ein schlechtes Gewissen, weil die Dinger im Einkauf doch nur 30 Cent gekostet haben.....“

„Papperlapapp!, herrschte Frau Schneider sie an.

„Okay, wenn du meinst“, nickte Frau Hansen.

„Und lass den teuren Senf weg!“, mahnte die Rentnerin.

Frau Hansen grinste zustimmend, kroch etwas tiefer in ihren Mantel und sah zu, dass sie wieder in ihre warme Stube kam.


Die alte Frau sah ihr noch eine Weile nach. Dann eilte auch sie ins Haus, kicherte und murmelte: „Gott! Wie ich den Winter liebe!“




ENDE


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Feedre OH was für eine Geschichte!
Zuerst wird man nachdenklich
dann etwas wütend
und dann könnte man wiehern....
WOW....so super Uli
ich schicke mal ein paar liebe Grüße ins Wochenende
Feedre
Diese Woche - Antworten
Lagadere 

Guten Morgen, liebe Feedre!
Es ist schon so, dass man im Moment jeden Lacher gebrauchen kann.
Manchmal, wenn man sich die Nachrichten anschaut, hat man den Eindruck, dass nur Irre durch die Gegend laufen.

Früher war das besser geregelt; da waren die Irren alle auf der Autobahn unterwegs und man konnte denen ausweichen, indem man auf der Landstraße blieb.
Heute steigen die in ihr Flugzeug, treten jemanden vors Schienbein und fliegen wieder zurück! Oder empfangen sie in ihrem eckigen, runden oder ovalen Office.
Am besten guckt man überhaupt keine Nachrichten mehr und stattdessen....was weiß ich.....nur noch Sesamstraße.

:-)

Danke dir und pass auf dich auf!

LG Uli

Vorgestern - Antworten
Feedre Wie hieß dieser berühmte Irren Arzt, der das Buch geschrieben hat..
"Die Irren sind alle draußen"....also alles ganz normal...grins...
In diesem Sinne, pass gut auf dich auf..:-)))
Feedre
Vorgestern - Antworten
Lagadere 

Muss ein weiser Mann gewesen sein :-)
Ich schieb dir mal etwas von dem Waffel-Duft rüber, der hier noch im Raum steht.
Zunächst hab ich gedacht: "Oh, so viele Klumpen. Da war ich wohl etwas zu fix".
Für das Ergebnis war es aber dann nicht wichtig.
Ist das nicht oft so im Leben, dass wir nur die Klumpen sehen?

LG Uli


Vorgestern - Antworten
Feedre ja die Klumpen...:-))...sind überall drin......
so manches Mal im Leben denkt man....:
schieß dich in den Sack und stirb tanzend..:-))
Feedre
Vorgestern - Antworten
Lagadere 
Der war gut, lach!

Vorgestern - Antworten
Enya2853 Oh weia, die lieben Nachbarn. Da kann einem beim Lesen schon mal der Hut hochgehen. Und am Ende muss man schlucken.
Nun, was soll man machen, wenn jemand Schnee schippt? Keine einfach zu beantwortende Frage. Grübel ...
Für deine Geschichte bekommst du ein dickes Lob. Der Kandidat hat 100 Punkte. Perfekt inszeniert.

Eine angenehme Woche, zurzeit ja ohne Schnee.
Liebe Grüße
Enya
Vergangenes Jahr - Antworten
Lagadere 

Irgendwo - ich glaube, in einem Gedicht - hab ich mal geschrieben (sinngemäß):
Beindruckend, was Nachbarn alles machen
Beängstignd, was Nachbarn alles machen.

Der Mensch ist schon sehr......... menschlich :-)
Vor ein paar Tagen hab ich einen Bericht gesehen über einen "Anzug", mit dem Querschnittsgelähmte wieder "gehen" können.
Wahnsinn! Sieht aus wie aus einem Science Fiction-Film und das "Gehen" ist noch wackelig, aber in der Zukunft werden Gelähmte sich wieder (oder noch mehr) am Leben beteiligen können!
Jedenfalls die,die sich das leisten können......
Aber schon beeindruckend, was Menschen alles machen....

Danke Dir, Enya und ich wünsche Dir weiße Weihnachten - auf die warten wir hier schon seit einer Ewigkeit.

Liebe Grüße
Uli

Vergangenes Jahr - Antworten
Valerina 
Ach wie traurig, nur nicht mit anfassen ...
Ich werde es mir gut merken, sobald wir wieder hoch Schnee haben.

Auch dieses Buch gefällt mir sehr.
Wünsche dir ein besinnliches 3. Adventwochenende.

Lieber Gruß
Valeri
Vor langer Zeit - Antworten
Lagadere 

Danke Dir, Val!
Dir auch ein schönes Rest-Adventswochenende!
Und schneemäßig sieht's erst mal mau aus; morgen "überquert uns eine Warmfront", meint der Wetterdienst.
Egal.
SOLANGE ES WEIHNACHTEN WEISS IST!!!!

LG Uli

Vor langer Zeit - Antworten
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