Während sich die alte Frau Schneider damit abquält, den Schnee vor ihrem Grundstück zu räumen, bildet sich hinter ihr ein Stau.
Statt zu helfen, sieht man interessiert zu.....
Es war die Woche zwischen dem ersten und zweiten Advent und in der Nacht hatte es fast einen Meter Neuschnee gegeben. Nichts Besonderes in den Höhenlagen des Sauerlandes. Lediglich der frühe Zeitpunkt war außergewöhn-lich.
Peter Hohenscheidts Frau Monika, die wegen der Kinder ohnehin nur mit einem Auge schlief, hatte es zum Glück bemerkt und ihren Mann früher als sonst geweckt. Als er in die Küche geschlurft kam, war diese schon mollig warm und Monika hantierte an der Kaffeemaschine. Er umschlang sie mit seinen müden Armen, die sofort hellwach wurden, drehte seine Frau zu sich und holte sich
seine Tagesdosis an Küssen.
Nach dem Frühstück beeilte er sich, nach draußen zu kommen, um seiner Räum-pflicht nachzukommen. Es gab im Dorf keinen Winterdienst und laut Gemeinde-verordnung war jeder Hausbesitzer verpflichtet, auch die Straße vor seinem Grundstück im Winter frei zu halten
In der Zwischenzeit ließ er den Motor seines Autos warmlaufen. Das war zwar verboten, machten aber alle so.
Also war es richtig.
Peter fuhr vorsichtig los, kam aber nicht weit. Gleich hinter der nächsten Straßen-ecke hatte sich ein Stau gebildet. Neugierig stieg er aus und hoffte, von
einem Nachbarn Näheres zu erfahren.
Er musste weit laufen, um jemanden fragen zu können. Alle Fahrer und ein paar Leute, die sich aus den Häusern dazugesellt hatten, waren vor dem ersten Auto versammelt und beobachteten die alte Frau Schneider, die das letzte Grundstück in der Straße besaß und sich redlich abmühte, der Schneemassen Herr zu werden. Da vorher niemand die Straße passieren konnte, warteten alle geduldig. Einige telefonierten mit ihren Mobil-telefonen. Wohl, um ihren Arbeitgeber zu informieren, dass es später werden würde.
Einer der Autofahrer hatte trotz der Kälte die Scheibe der Fahrerseite
heruntergekurbelt und Musik war zu hören. Einige Leute lachten. Da hatte wohl jemand einen Witz erzählt. Andere traten frierend von einem Bein aufs andere.
Die alte Frau indes geriet langsam an ihre Grenzen. Der viel zu große Schieber rutschte ihr immer wieder seitlich weg. Einmal, als sie dabei ausglitt, weil sie ihr gesamtes Gewicht auf das Werkzeug gestützt hatte, nestelten einige in der Menge, die immer größer wurde, Handys hervor und machten Fotos. Ein paar davon waren sicher schon gepostet, bevor Frau Schneider sich wieder hoch-gerappelt hatte.
Eine Haustür öffnete sich und Frau Hansen erschien, einghüllt in einen dicken Wintermantel und einem langen Wollschal, den sie bis zu den Augen hochgezogen hatte. Sie war vor ein paar Jahren – der Liebe wegen – aus dem hohen Norden hierhergezogen und hatte sich in den Ruhestand begeben, nachdem sie einen Kiosk in den Sylter Sand gesetzt hatte. Und genauso lange wurde sie von der Dorfgemeinschaft als „Zugereiste“ misstrauisch beäugt.
Nun aber johlte die Menge begeistert, weil sie ein großes Tablett mit heißen Würstchen balancierte. Und auf einem Pappschild, das sie sich um dem Hals gehängt hatte, stand: „Nur 1.50 €!“
Jeder beeilte sich, um von der Köstlich-keit zu naschen, bevor sie vergriffen war.
Die alte Frau Schneider war mittlerweile wieder gestürzt. Sie weinte und schaffte es irgendwie, auf die Knie zu kommen. Sie zog ihre Handschuhe aus, was eine Weile dauerte, weil vermutlich ihre Hände inzwischen gefühllos geworden waren. Sie faltete die Hände zum Gebet und es sah so aus, als ob ihre Lippen die Worte:“ Lieber Gott! Hilf mir!“, zu formen schienen. Aber das konnte man sich später ja noch in Ruhe auf dem Smartphone betrachten, indem man die Fotos vergrößerte.
Der Stau wurde länger. Kinder wollte zur Schule oder in den Kindergarten gebracht werden und ihre Mütter nutzen die Gelegenheit, um in den nächstgelegenen Supermarkt zu fahren, oder, bei diesen winterlichen Bedingungen, den kleinen Dorfladen aufzusuchen.
Indes erschien Frau Hansen mit einer neuen Ladung Würstchen auf der Bild-fläche. Auf dem Schild stand nun: „Würstchen 4,- €! 1 Tasse Kaffee 2,- €!“. Hinter ihr senkte ihr Mann Heinrich verlegen den Blick, folgte aber tapfer seiner Frau mit einem Tablett, auf dem sich eine schwarz-silberne Thermoskanne und ca. ein Dutzend großer Tassen befanden.
Peter Hohenscheidt, der sich das alles teils amüsiert, teils angewidert ange-sehen hatte, hatte nun genug. Obwohl er sich seine Anzughose ruinierte, kämpfte er sich an den anderen vorbei durch den an die Seite geschaufelten Schnee und kam der alten Frau Schneider zu Hilfe. Nach einer guten Viertelstunde hatte er schließlich eine Spur freigeschaufelt, die breit genug war, um Autos hindurch zu lassen. Frau Schneider bedankte sich und er suchte schnell seinen Wagen auf.
Es dauerte noch eine Weile, bis die Straße zur Ruhe kam. Frau Schneider sah dem letzten Wagen nach und blickte dann
zur Haustür von Frau Hansen, die inzwischen die leeren Tabletts ins Haus gebracht hatte und nun auf sie zu kam.
Sie grinste über das ganze Gesicht und mit den Worten:
„Hier, dein Anteil!“, reichte sie Frau Schneider ein paar Geldscheine.
Die Angesprochene steckte freudig das Geld schnell weg, mahnte dann aber: „Beim nächsten Mal nimmst du aber von Anfang an 4,- Euro!“
„Nun ja, ich hatte zunächst ein schlechtes Gewissen, weil die Dinger im Einkauf doch nur 30 Cent gekostet haben.....“
„Papperlapapp!, herrschte Frau Schneider sie an.
„Okay, wenn du meinst“, nickte Frau Hansen.
„Und lass den teuren Senf weg!“, mahnte die Rentnerin.
Frau Hansen grinste zustimmend, kroch etwas tiefer in ihren Mantel und sah zu, dass sie wieder in ihre warme Stube kam.
Die alte Frau sah ihr noch eine Weile nach. Dann eilte auch sie ins Haus, kicherte und murmelte: „Gott! Wie ich den Winter liebe!“
ENDE
Bitte das Ende nicht verraten
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