Der fremde
Sah sie nicht zauberhaft aus in ihrem roten Mantel? Wie ein scheues Reh bewegte sich die junge Frau in der Einkaufspassage und betrachtete neugierig die Schaufenster. Sie ahnte nicht, dass sie gerade belauert wurde von ihm, der nichts Besseres zu tun hatte,
als Passanten beim Einkaufen zu beobachten. Die smarte Blondine war Wolfgang sogleich aufgefallen, ihm wie ein roter Punkt direkt ins Auge gesprungen. Nun konnte er sich nicht satt an ihr sehen. Weil diese drohte, aus seinem Blickfeld wieder zu entweichen,
stand er von der Bank auf und folgte ihr eiligen Schrittes. Vor dem Laden, in den sie gegangen war, blieb er stehen und zündete
sich eine Zigarette an.
Es dämmerte bereits und ein kalter Wind
zog durch die Straßen an diesem Tag im Dezember. Was sie in dem Blumenladen
wohl so lange suchte, fragte sich unser Wolfgang genüsslich an seiner Zigarette ziehend. Aber er hatte und nahm sich
reichlich Zeit und warf immer mal einen prüfenden Blick auf das Objekt seiner Begierde durch die Schaufensterscheibe.
Dann endlich mit einem großen Strauß
roter und weißer Rosen in der Hand trat
die junge Frau unmittelbar neben dem Wartenden aus der Tür. "Da wird sich aber jemand über den Blumengruß freuen", hauchte dieser mit betont sanfter Stimme. Erschrocken blickten ihn zwei blaue Augen
an. "Oh, ja, wird sie", bestätigte Ruth und fügte noch hinzu: "Sie sind für meine Großmutter zum Fünfundachtzigsten." Wolfgang nickte und ließ seine strahlend weißen Zähne blitzen.
"So eine Art Großmutter, die immer sagt,
sie sollen nicht mit Fremden reden?" "Ja, genau so eine", schmunzelte Ruth. Er war derart entzückt von ihr, dass er den Blick gar nicht abwenden konnte. Die ist so süß, die könnte ich glatt fressen, dachte er im Stillen.
Bevor die junge Frau wieder in die Menge entschwinden konnte, meinte er schnell:
"Hier in der Straße ist ein guter Weinladen. Vielleicht mag die Oma ja auch guten Wein?" Es folgte ein begeistertes Nicken von Ruth. Gemeinsam steuerten sie geradewegs auf
den Weinhandel zu. Wolfgang konnte Ruth einen guten Rotwein empfehlen und diese freute sich über dessen Beratung, da sie selbst keinen Wein trank und sich daher
nicht so gut damit auskannte. "Wollen wir
noch ein Stück zusammen gehen?", fragte Wolfgang forsch. "Gern, ja gehen wir noch
ein paar Schritte die Straße runter bis zum Markt!", antwortete Ruth bereitwillig. "Dort wohnt sie wohl, die alte Dame?", wollte
Wolfi ganz beiläufig wissen. Ruth schüttelte den Kopf und ging nun schweigend neben Wolfgang die Einkaufsstraße entlang.
Als sie den Markt erreichten, kam ihnen
ein großer, kräftiger Mann eifrig entgegen.
Er begrüßte Ruth mit einem Kuss auf die
Stirn. "Du bist in Begleitung?", fragte er die
junge Frau. "Ja, stell dir vor, der nette Herr
hat mich bezüglich eines Weines für Großmutter beraten. Wir haben uns ganz zufällig vor dem Blumengeschäft getroffen." Argwöhnisch beäugte der Mann Wolfgang, bevor er sich als Onkel von Ruth vorstellte: "Gestatten, Jäger, Max Jäger."
Wolfgang verzog keine Mine, doch kochte innerlich, als er unter dem fadenscheinigen Vorwand, er müsse noch zu einem Termin, fortschlich und in der Menge untertauchte.
Zumindest die junge Ruth hat den doch
so freundlichen und hilfsbereiten Wolfgang danach nie wiedergesehen.