Es war einmal.....
......vor gar nicht so langer Zeit, da bereitete sich ein kleines, verträumtes Städtchen in den Bergen auf das Fest der Liebe vor.
Man schrieb bereits den 24. Dezember, und so blieb den Menschen nicht mehr allzu viel Zeit. Doch war man von von hektischer Betriebsamkeit weit entfernt; hier in den Bergen sind die Bewohner einiges gewohnt und gehen die Dinge etwas gelassener an.
Lediglich ein kleiner Schneesturm sorgte
an diesem Tag für etwas Unruhe.
Er ließ hier eine Fahne knallen, wirbelte dort einen gerade zusammen geschobenen Schneehaufen auf und trieb eine empörte Mülltonne durch mehrere Straßen vor sich her, bis er, müde des lärmenden Spiels, davon abließ, auf dem Absatz kehrtmachte, um mit voller Wucht durch die Hauptstraße zu fegen. Laut lachend und fauchend trieb er die Passanten vor sich her und scheuchte sie in die Läden oder in schützende Bushaltestellen. Nach ein paar Minuten zog er sich zurück, betrachtete zufrieden sein Werk und lauerte auf ein Opfer, das so dumm war, die Nase vorzustrecken.
Hungrig bissen die Stollen der neuen Winterreifen in die Schneedecke und zogen meinen Audi freudig die letzte Anhöhe hinauf.
Es war Heiligabend und ich folgte einer Einladung von Freunden, die eine Ferienhütte gemietet hatten.
Im Radio dudelten nur Weihnachtslieder, die man irgendwann nicht mehr hören kann.
Endlich - nach der vorsichtigen Fahrt war die Steigung genommen, und überrascht und berührt von dem Anblick, der sich mir bot, hielt ich an.
Einige Kilometer vor mir schmiegte sich mein Zielort unten im Tal schutzsuchend
an die Hügel der tief verschneiten Landschaft.
Es schneite etwas und wäre der Himmel nicht grau, sondern blau gewesen, ich hätte mich gefühlt, als ob mich jemand mitten in eine Ansichtskarten-Karten-Idylle hätte plumpsen lassen!
Ohne Zwischenfälle erreichte ich die kleine Gemeinde. Da ich wegen des Wetters zeitig losgefahren war, war ich nun etwas zu früh dran und beschloss, mich etwas in dem malerischen Städtchen umzusehen.
Ich stellte meinen Gefährten auf einem Parkplatz ab und marschierte los.
Bereits nach einigen Metern fiel mir ein kleines, verwittertes Häuschen auf, vor dem viele Kinder und einige Erwachsene standen. Fast alle hatten brennende Kerzen dabei, die wegen des leichten Schneefalls immer wieder ausgingen und neu angezündet werden mussten.
Verwundert ging ich weiter, hatte aber über die vielen Eindrücke in der Stadt meine Beobachtung bald vergessen. Außerdem ließen mich Schneeflocken und der schneidende Wind frösteln. Nach einer knappen Stunde fühlte ich mein Gesicht kaum noch und so ging ich auf die Suche nach einem schnuckeligen Restaurant.
In einer kleinen Seitenstraße fand ich dann schließlich ein gemütliches Gasthaus und trat ein.
Da kaum Gäste anwesend waren, wählte ich einen freien Fensterplatz neben einigen älteren Herren, von denen ein paar sogar so etwas wie eine Tracht trugen.
Ich erfuhr, dass die Küche erst in ungefähr einer Stunde öffnen würde und bestellte mir einen Cappuccino.
Während ich die Beine ausstreckte, ab und zu an meinem heißen Getränk nippte,, fiel mir auf, dass einer der Alten mich immer wieder musterte. Ich nickte grüßend in seine Richtung. Dann fiel mir
meine Beobachtung mit dem kleinen Häuschen wieder ein, und ich fragte den Mann danach. Er wandte sich seinen Begleitern zu, und dem nun folgenden Gespräch entnahm ich, dass die ohnehin hatten aufbrechen wollen.
Der alte Mann nahm sein Glas Tee und setzte sich zu mir.
"Haben Sie etwas Zeit? Dann erzähle ich Ihnen, was es mit dem Haus auf sich hat."
"Die Küche öffnet erst in einer knappen Stunde", lächelte ich.
Seine Stimme war dunkel, klar, mit einem leichten Dialekt behaftet und sehr angenehm.
Er rührte kurz mit einem Glasstab in seinem Tee und blickte eine Weile in das Glas, um die Bilder der Erinnerung zu sammeln.
Dann begann er zu erzählen...
"Es war der 24. Dezember, also heute vor 44 Jahren. Auch das Wetter war so wie heute. Es schneite und ein heftiger Wind rauschte durch die engen Gassen.
Nur wenige Menschen waren an diesem Nachmittag unterwegs. Einige Kinder spielten im Schnee, das bedeutete, sie schrieen und prügelten sich."
Er lachte kurz.
"Fleißige Hausfrauen dekorierten, backten, kochten und hielten
gelegentlich ihre roten Wangen aus den offenen Fenstern zum Abkühlen in die kalte Winterluft, um sich gleich darauf erneut aufgeregt in die Weihnachtsvorbereitungen zu stürzen.
Hunde und Katzen spürten die allgemeine Aufregung und stimmten kräftig mit ein in den Chor aus Weihnachtsstimmen, der jeden Tag etwas lauter durch das kleine, tief verschneite Tal geklungen war.
Bis er nun, in ein paar Stunden zur Mitternachtsmesse mit nur EINER Stimme "Stille Nacht, Heilige Nacht" singen würde, um danach andachtsvoll zu verstummen.
Inmitten dieser emsigen Betriebsamkeit, von den anderen unbemerkt, befand sich eine alte Frau auf dem Heimweg. Der Wind trieb ihr die Schneeflocken ins Gesicht, und sie fühlte, wie die Kräfte sie langsam verließen. Doch hatte sie es nicht mehr weit, und so setzte sie mühsam einen Fuß vor den anderen. In der rechten Hand trug sie eine große Einkaufstasche. Mit der anderen suchte sie Halt an dem schmiedeeisernen Zaun. Hangelte sich von Strebe zu Strebe vorwärts.
Es wurde nun rasch dunkler.
Die letzten Schatten eilten mit hochgeschlagenem Mantelkragen und tief
in die Stirn gezogenen Hüten oder Mützen nach Hause und freuten sich auf ihr warmes Heim. Die kleine Gestalt in ihrem dunklen Mantel sah oder beachtete niemand.
Mittlerweise hatte die alte Frau ihr kleines Häuschen erreicht.
Sie griff zum Treppengeländer, blickte die Stufen empor, seufzte leise und zog sich am Geländer nach oben.
Dann sank sie ganz langsam zusammen und blieb auf den Stufen liegen.
Der Schnee zog sich verlegen zurück.
Es wurde rasch kälter.
Die alte Dame wurde immer müder und
schlief schließlich ein.
Und so wurden die Glöckchen, die bald darauf die Kinder zur Bescherung riefen, zu Totenglocken."
"Eine traurige Geschichte", murmelte ich betroffen.
"Ja", nickte der alte Mann, "aber sie ist noch nicht zu Ende."
Er bestellte sich einen neuen Tee, sammelte sich und fort fort:
"Im Jahr darauf - es war der heißeste Sommer seit vielen Jahren - kam es zu
einem Großbrand. Wegen des Wassermangels endeten die Löschversuche ziemlich kläglich, und bis die Feuerwehren aus den umliegenden Gemeinden hier eintrafen, brannte unser kleines Städtchen, das damals noch ein Dorf war, schon lichterloh. Alle Häuser wurden zerstört oder schwer beschädigt."
Der Erzähler machte eine kurze Pause, sah mir tief in die Augen und fügte hinzu:
"Bis auf eines - raten Sie, welches!"
Ich lächelte und nickte verstehend.
"Und weil die Berg-Bewohner etwas abergläubisch sind, hielten sie es für ein
"Zeichen" und gedenken bis heute dieser traurigen Nacht?"
Interessiert beugte ich mich vor.
Der alte Mann wiegte den Kopf.
"Ja und Nein.
In der Mitternachtsmesse, in der fast alle Einwohner versammelt waren, wusch der Pastor uns gehörig den Kopf!
Ein Mitglied unserer Gemeinde war mitten unter uns unbemerkt und völlig unnötig gestorben.
Eine Stunde lang ereiferte sich der Geistliche! Betroffen und mit hängenden Köpfen verließen wir die Kirche.
Ich war damals noch ganz jung und hatte gerade mein Lehramt an der kleinen
Schule hier angetreten.
Mehrere Klassen waren in einem Raum untergebracht, eine so genannte "Zwergenschule", und ich diskutierte mit meinen Schülern das Geschehen. Schließlich gründeten wir eine Arbeitsgemeinschaft, die sich in der Adventszeit um ältere und allein stehende Mitbürger kümmerte. Die Kinder gingen einkaufen, halfen bei der Weihnachts-Dekoration, und so fort. Und was eigentlich nur für den einen Winter geplant war, fand in den kommenden Jahren eine Fortsetzung! Ja, es wurden immer mehr Einwohner, die sich freudig beteiligten; und nicht nur Kinder!
In der Christmette ist es Tradition
geworden, zu Beginn des traurigen Vorfalls von damals zu gedenken, und in der Schule wird die Geschichte jedes Jahr aufgegriffen und weitergegeben.
Das alles ist bis heute so geblieben. Und DAS, mein Freund, verstehe ich als den wahren Weihnachtsgedanken!"
Er schwieg.
Wir schwiegen beide.
Wenig später verließ ich das Gasthaus.
Es war mittlerweile dunkel geworden, der Schnee hatte sich zufrieden zurückgezogen, und es war kalt.
"Genau wie damals", dachte ich.
Ich ging ein paar Schritte und warf einen Blick auf das kleine Häuschen, vor dem jetzt nur noch einige Menschen standen.
Es war zu spät, um eine Kerze zu kaufen.
Langsam ging ich hinüber zu dem Haus.
Man bemerkte mich, nickte grüßend mit dem Kopf und ich grüßte zurück.
Nach einigen Minuten, die ich schweigend und nachdenklich verbracht hatte, stieß mich eines der umstehenden Kinder an und hielt mir eine brennende Kerze hin.
Ich nahm sie mit einem Lächeln an und blieb noch eine ganze Weile mit den anderen dort stehen.
Nach und nach wandten sich die anderen ab, verabschiedeten sich mit einem stummen Nicken von mir und eilten nach Hause.
Schließlich stand ich allein vor dem kleinen Häuschen.
Die Kerze war fast heruntergebrannt.
Ich bückte mich, stellte sie auf der untersten Treppenstufe ab, trat einen Schritt zurück, verschränkte die Hände wie zum Gebet und sah stumm in die kleine Flamme.
Sie flackerte noch eine Weile. Dann erlosch sie.
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