Sie zog fröstelnd ihre Jacke enger um sich. Hier auf dem zugigen Bahnsteig pfiff der Wind um die Ecken. Wenigstens müsste sein Zug jeden Moment einfahren.Â
Sie würden in ein Café gehen und dort konnte sie auftauen. Sie lächelte, obwohl ihr zum Heulen zumute war. Auftauen … ob sie jemals wieder auftauen würde. „Nein, dieses Mal nicht!“ Erst an den seltsamen Blicken, die ihr zugeworfen wurden, merkte sie, dass sie laut gesprochen hatte. Dabei hatte die Romanze so traumhaft begonnen. Mit einer zufälligen Begegnung im Chat room. Chatten aus Langeweile, einfach ein wenig unverbindlicher Small Talk,
vielleicht ein Flirt. Weder er noch sie waren wirklich auf der Suche. Aus der zunächst oberflächlichen Unterhaltung wurde bald echtes Interesse. Sie trennten sich mit einer virtuellen Verabredung: „Morgen, gleicht Zeit im selben Chatroom.“ Aus der einen Verabredung wurden viele, bald konnte sie es kaum erwarten, mit ihm zu plaudern.Â
Dann die schüchterne Frage nach der Telefonnummer, doch sie war noch voller Misstrauen. Ihre Antwort: „Wenn du mir deine Handynummer gibst, dann rufe ich vielleicht mal an.“Â
Sie brauchte einige Zeit, bis sie ihm eine SMS schrieb. Er blieb geduldig, wartete, bis sie sich meldete, antwortete immer
sofort. Schließlich schienen sie alles voneinander zu wissen. Hatten Tausende von Sätzen geschrieben und sich hundert Mal virtuell umarmt. Hatten Fotos getauscht, waren sich auch hier auf Anhieb sympathisch. Natürlich war sie neugierig; wie mochte seine Stimme klingen? Irgendwann rief sie ihn nach einem längeren Geplänkel per SMS einfach an. Seine Stimme klang jugendlich, schließlich war er zehn Jahre jünger als sie. Das hatte sie gewusst. Er schien mit dem Altersunterschied weit weniger Probleme zu haben als sie. „Was soll’s, ich mag dich, ganz egal wie jung du bist“, das war sein Standardspruch. Nach dem ersten Telefongespräch war es
nicht mehr lange hin bis zu einem Treffen. Auch hier erkannten sie sich wieder. Er lebte 500 km weit weg, war beruflich viel unterwegs. Sie kamen so oft wie möglich zusammen. Ein Abenteuer: Liebe im Hotelzimmer, losgelöst von allen Alltagsproblemen, ohne Verantwortung.Â
Doch nach und nach schlichen sich Bedenken ein. Sie wurde unsicher. So schön das Beisammensein mit ihm war, so kam es ihr mehr und mehr oberflächlich vor. Er lebte den Moment, ohne sich um die Zukunft zu kümmern. Alle Versuche über ihre Bedenken zu reden lachte und küsste er weg. „Lass uns jetzt leben, was später kommt – wen
interessiert das!“ So hatte sie sich nach und nach von ihm entfernt. Konnte sich nicht mehr fallen lassen. Hatte die Beziehung beendet und sich doch wieder mit ihm getroffen, denn er akzeptierte ihre Entscheidung nicht. Wollte nicht verstehen und ernst nehmen, faszinierte sie weiterhin mit seiner Unbekümmertheit.
Sie seufzte unmerklich. Dieses Mal würde sie einen Schlussstrich ziehen. Die Ankunft des Zuges lenkte sie von ihren trüben Gedanken ab. Er sprang auf den Bahnsteig, eilte strahlend auf sie zu und nahm sie in die Arme. Einen Augenblick lang bekam sie weiche Knie, wollte ihm
durch den struwweligen Haarschopf fahren. Energisch rief sie sich zur Ordnung, löste sich von ihm. Er schien das nicht zu bemerken, legte einen Arm um sie und sprudelte los. „Mensch, Schnuckelchen, ich fahre nie wieder Bahn. So was Langweiliges. Ich werde mir gleich einen Leihwagen nehmen und mit dem dann zurück fahren. Ein Mist aber auch, dass das Auto ausgerechnet jetzt herumzickt, wo ich den Auftrag so gut wie in der Tasche habe. Ich …“ „Steven!“, sie unterbrach ihn.Â
„Ja, ich weiß, ich rede wieder mal zu viel.“ Wieder zog er sie in die Arme, küsste sie mitten auf der Straße.Â
„Ach Steven, du bist unverbesserlich“,
seufzte sie, nachdem sie wieder Luft bekam. „Wir müssen wirklich miteinander reden.“
Unvermittelt wurde er ernst, steuerte das nächstgelegene Café an, setzte sich schweigend ihr gegenüber. Sie fummelte an dem künstlichen Blumengesteck herum, das zwischen ihnen auf dem Tisch stand. „Schau, es geht nicht. Ich möchte so nicht weitermachen. Unverbindliche Treffen, wenn wir beide Zeit haben, Telefongespräche, aber eigentlich kein richtiges Zusammensein, Liebe auf Raten.“ Er schaute sie ernst an, hörte still zu, ließ sie reden. „Ich möchte jemanden, der für mich da ist …“Â
Noch immer sagte er kein Wort. Sie
verstummte, wusste selbst nicht mehr, was sie eigentlich sagen wollte. Alle klugen Sätze waren plötzlich aus ihrem Kopf verschwunden.Â
Er schaute sie traurig an. „Ich glaube ich weiß, was du sagen willst. Aber ich bin noch nicht so weit. Wenn du mir nur Zeit lässt. Vielleicht später, irgendwann.“Â
Sie schaute weg, blinzelte die Tränen fort. Tief im Inneren hatte sie gehofft er würde auch an ein gemeinsames Leben denken. ‚Später irgendwann‘ das war ihr einfach nicht genug. „Ja dann, ich möchte nicht mehr warten. Dazu bin ich nicht jung genug. Aber darüber haben wir oft genug gesprochen.“Â
Auch er blinzelte den verdächtigen
Schimmer in seinen Augen weg, räusperte sich. „Wie soll es jetzt weiter gehen? Bist du hier hergekommen, um mich endgültig zu verlassen?“ Er schien sie in den Arm nehmen zu wollen. „Aber ich liebe dich.“Â
„Das ist mir nicht genug.“ Sie musste sich zwingen, vernünftig zu sein. Wusste nur zu genau, dass sie sonst niemals von ihm loskommen würde. „Ich sollte jetzt gehen.“Â
„O nein! Du wirst mich jetzt nicht einfach hier sitzen lassen. Das kannst du nicht tun!“ Er schaute sie fast trotzig an. „Wenn das so ist, dann fahre ich sofort wieder nach Hause! Mit dem nächsten Zug.“Â
Sie lächelte, trotz aller Traurigkeit, denn genau das passte zu ihm. „Was ist mit deinem wichtigen Kunden“, fragte sie sanft.Â
„Der kann mich so was von am Arsch lecken!!!“Â
Alle Augen wandten sich ihnen zu. Man verfolgte interessiert, wie er aufsprang, seine Tasche packte und aus dem Café stürmte. Sie beeilte sich, um zu bezahlen, griff sich seine Jacke und eilte ihm hinterher. „Du hast deine Jacke vergessen, du Kindskopf und überhaupt wolltest du doch ein Auto mieten.“
Er schaute sie aufmerksam an. „Dieses Mal meinst du es ernst, nicht
wahr?“
Sie standen auf dem zugigen Bahnsteig und hielten sich gegenseitig fest. „Mir ist ganz kalt“, sagte sie leise. Er zog sie wortlos fester an sich. Sie kuschelte sich in seinen Arm. Nur nicht heulen, dazu würde später noch Gelegenheit genug sein.Â
Der Zug hielt, er ließ sie zögernd los, trat von einem Bein aufs andere. Stieg schließlich ein, ohne etwas gesagt zu haben. Aber eigentlich war ja auch alles gesagt worden.
Auf dem Nachhauseweg schaltete sie das Autoradio ein, Phil Collins sang:
So you ‘re
leaving
in the morning
on the early train. I could say everything’s all right and I could pretend and say good-bye…***
Wütend wischte sie sich die Tränen ab. Warum tat es nur so verdammt weh, vernünftig zu sein ...
*** Der Text ist aus dem Song „Cant Stop Loving“ von Phil Collins.
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