Sonstiges
Der See der Schande

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Veröffentlicht am 01. August 2021, 22 Seiten
Kategorie Sonstiges
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Der See der Schande




"Man sieht die Sonne untergehen und erschrickt doch, wenn es plötzlich dunkel ist". Franz Kafka



Sommer 2021



Und noch immer singt das Land.

Doch einige der Menschen blicken

beim rastlosen Marsch in die Glückseligkeit

über die Schulter zurück


Ihre Augen suchen nach den Abgehängten,

die in Spanien, Kroatien,

Türkei und Griechenland

stumm auf positive Tests starren



































Doch nur kurz währt der Moment der Erkenntnis,

weicht einer Grill-Begeisterung,

die dafür sorgt, dass sich etliche Tiere

ängstlich aneinanderdrängen



Flieg! Maikäfer flieg!

Weit und breit kein Krieg im Land

Doch Schunkelland ist abgebrannt





Vorsichtig fingert die Arzthelferin die erste der Packungen mit dem abgelau-fenen Vakzin aus dem Kühlschrank und reicht sie fast schon andächtig dem Hausarzt. Verlegen senkt sie den Blick; der Schmerz in den Augen ihres Chefs ist nur schwer zu ertragen.

Verbittert, mit steinerner Mine, legt der enttäuschte Mann die Packung mit dem teuren Inhalt in eine Entsorgungsbox. Sanft, beinahe zärtlich agieren seine feingliedrigen Hände, übertragen die düsteren Gedanken auf den sinnlos

gewordenen Hoffnungsträger.

Es ist sehr still im Raum. Eine ange-spannte Ruhe, die sich erst löst, als der Arzt sich entschlossen strafft und barsch weitere Päckchen fordert.


Aber es ist nur ein leises Aufatmen. Niemand der anwesenden Journalisten sagt etwas. Stumm surren die Kameras der verschiedenen Nachrichtensender.

Unaufgeregt.

Teilnahmslos.

Es ist nicht ihre erste Beerdigung.

Dass die ansonsten recht abgebrühten Reporter keine Fragen stellen, hat einen einfachen Grund:

Jeder weiß Bescheid. Alle Informationen sind bekannt. In ganz Deutschland werden heute, oder in den nächsten Tagen,  zigtausend abgelaufene, von der Bevölkerung ignorierte Impfstoffdosen verworfen. Allein in Hamburg 60.000 Exemplare.

Mitten in der Pandemie, zu einem Zeitpunkt, da nur die Hälfte der Einwohner zweimal geimpft ist.

Nach ungefähr einer halben Stunde ist die Entsorgungsbox gefüllt.

Wortlos sieht der Arzt, der zeit seines Lebens Menschen geholfen hat, zu dem Totengräber hinüber.

Der nickt bestätigend, schreitet langsam und würdevoll zu dem kleinen Tisch, der mit einem schwarzen Tuch bedeckt ist, hebt die verschlossene Box behutsam an und trägt sie schließlich ruhigen Schrittes aus der Praxis.

Hinaus in den Nieselregen.


Nicht nur der Himmel weint. Tausende Geimpfte und Genesene können die Tränen der Fassungslosigkeit nicht zurückhalten.

Fast geräuschlos folgen sie dem Mann in Schwarz, der seine enttäuschte Fracht auf ein kleines, batteriebetriebenes Wägelchen gelegt hat und nun mitten auf

der Straße seinem Ziel entgegenschreitet: einem großem Loch, das  die Menschen beim Abbau von Braunkohle in die Erde getrieben haben.


Immer mehr Geimpfte schließen sich dem Marsch an.

Hier und da zerreißt ein leises Schluch-zen die surreal anmutende Stille, als der Trauerzug die Innenstadt passiert.

Einige der geimpften Autofahrer halten an, steigen aus und senken den Blick.

Lachende Kinder unterbrechen ihr Spiel und sehen fragend ihre Eltern an, die aber auch nur mit den Schultern zucken können.

Es ist schon fast dunkel, als die Men-schenmenge den noch zu schaffenden „See der Schande“ erreicht und einen riesigen Parkplatz mit Leichenwagen passiert, deren Kennzeichen von den entferntesten Gegenden der Republik erzählen. Im Lichtschein der aufge-stellten Scheinwerfer glitzern die Salz-kristalle der vom Fahrtwind getrockneten und verwischten Tränen auf dem ehemals schwarzen Lack. Fast sieht es so aus, als ob Gott mit seinen Fingern spielerisch nachdenklich darübergefahren wäre, als wolle er sagen: „Was macht Ihr denn schon wieder .......“



Bis alle Trauernden sich um das Erdloch versammelt haben, ist es vollständig dunkel geworden.

Jeder hat sich mindestens ein Fläschchen Impfstoff abgeholt. Während sich das Licht der Scheinwerfer in den silbernen Verschluss-Kappen der kleinen Glas-flaschen spiegelt, warten alle auf das Zeichen, das den Beginn der Aktion markieren soll.

Als es endlich ertönt, beeilen sich viele damit, sich der kostbaren Flüssigkeit zu entledigen. Sie wollen nur noch fort von hier, denn jede menschliche Seele erträgt nur einen gewissen Teil an Schmerz



Es wird Wochen, Monate dauern, bis der See mit Vakzinen und Tränen gefüllt ist.

Ein unaufhörlicher Strom von abgedun-kelten Autos wird noch diesen Ort anfahren.

Und der Mensch wird aufhören zu trauern.

Wird den See der Schande vergessen.

Das ist seine Natur.

Lediglich dieser erste Tag wird wohl in Erinnerung bleiben und diejenigen, die überleben, werden ihren Kindern und Enkeln davon erzählen.

Von diesem einen Tag, an dem fast ganz Deutschland weinte.

Dem 31. Juli 2021









EPILOG





























Walburga blickt besorgt in das Gesicht ihres Mannes, das trotz der großen Entfernung schwach beleuchtet wird.

"Alles in Ordnung?"

"Ja", entgegnet ihr Mann, der weiterhin mit versteinerter Mine die Geschehnisse am "See" verfolgt. "Ich habe schön brav meine Medikamente genommen. Mach dir keine Sorgen".

Sie lächelt aufmunternd.

"Wir können es nun eh nicht mehr ändern".

"Ist schon gut, Wally. Dann geht das Elend eben über den Winter weiter. Vielleicht sind die Leute ja auch ganz

scharf auf Homeschooling, geschlossene Kindergärten, all die Einschränkungen und die fette Abrechnung nach der Wahl".

Er lacht trocken, sieht seine Frau an und fügt hinzu: "Komm, lass uns gehen".


Während sie langsam die Anhöhe verlassen, lacht der alte Mann unvermittelt erneut und bleibt stehen.

"Sag mal, Wally, hab ich dir eigentlich schon von dem blöd grinsenden Zwerg erzählt, der in einem Wohnwagen vor dem Kanzleramt campiert?"

Walburga lächelt.

"Ja, der Politiker, der einen Stock braucht, weil er kein Rückgrat hat", lacht

sie und fährt fort: "Außerdem waren wir ja gerade bei dem Thema: "Verlängerung der Pandemie", also erzähl es mir ruhig nochmal".

"Also gut, Schatz. - Das ist nämlich so.........begonnen hat die Geschichte mit dem selbsternannten Messias aus Bayern, dem...... nun hab ich den Namen vergessen! - Sag mal, Wally: Werd ich alt?"

"Ich hoffe es", lächelt Walburga in die Sorgenfalten auf seiner Stirn hinein und strahlt ihn an. "Ich hoffe es".



© Ulrich Seegschütz

Aug|2021

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derdilettant Ja, so ähnlich war das.
Kann jederzeit wieder passieren ...
LG
Alan
Vergangenes Jahr - Antworten
Lagadere 

Ich weiß noch, wie das damals immer näher kam.... Wahnsinn.
Obwohl ich - wie mein Vater - SPD-Mann bin, fand ich es neulich nicht okay, wie Spahn an den Pranger gestellt wurde wegen der Bestellung zu vieler Masken.
A'ber die Politik ist gnadenlos.

Nochmal Danke und .....

mach's dir gemütlich!

LG Uli

Vergangenes Jahr - Antworten
Tetris Hallo Uli.
Gut, dass du diese Geschichte noch mal gepostet hast. Unglaublich - es ist alles noch gar nicht lange her, aber kein Mensch denkt mehr daran. An all das Schlimme und die ungezügelte (unverständliche) Wut der Menschen.
Verdrängung - das können wir alle miteinander richtig gut.
Grüße
Tetris
Übrigens: Bin momentan sowas von außer Gefecht. Ist kein Corona, aber vielleicht ne neue, unbekannte Variante von irgendwas ... ;o)

Vergangenes Jahr - Antworten
Lagadere 

Stimmt. Man denkt kaum noch dran. Die Geschichte in der Ukraine hat dabei sicher "geholfen".
Danke Dir und gute Besserung!!!

LG Uli

Vergangenes Jahr - Antworten
Valerina 

Du müsstest mich gesehen haben Uli,
denn ich war dabei und habe geheult vor Wut,
weil ich Angst hatte, dass diese ungenutzten Impfstoffdosen
irgendwann denen fehlen würden, die impfbereit sind,
aber zu dieser Zeit noch nicht „dran waren“

und ich höre sie von den Stationen schluchzen: „Ach hätte ich doch“ …

jetzt muss ich aber wirklich was Lustiges lesen,
was mich aus dieser Stimmung holt :(

oder ich schreibe es selbst :-)

Lieber Gruß
Valeri
Vor langer Zeit - Antworten
Lagadere 

Und ich hatte Kopfschmerzen vor lauter Kopfschütteln.
Es war einfach nicht zu begreifen....

Jaaaaa! Schreib etwas Lustiges! Dann kann Marie weiterschlafen. Als Teenager braucht man viel Schlaf! Wer weiß, vielleicht hat sie bald ihr erstes Date! Und im Kino legt er den Arm um sie..... und sie lehnt sich an ihn.......das Herz pocht..... und sie ärgert sich, weil sie den Labello vergessen hat und ihre Lippen vielleicht spröde sind, sollte er den Mut fassen, sie zu küssen!
Oder sie packt ihn sich einfach und knutscht ihn nieder!

Los! Schreib! Ich LECHZE nach lustig!

:-)
LG Uli

Vor langer Zeit - Antworten
Valerina 
Mannnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn!!!
Wieso hast du Marie schon wieder versteckt???
Hab mich gefreut auf sie!
So schnell kann ich doch nicht alles lesen,
muss noch so viel nachholen, menno :(
ich kann doch nicht hexen, och Uli

Entweder ist Marie morgen wieder da, oder ich knutsch dich mit spröden Lippen nieder, dann lechzt du nicht mehr nach lustig,
sondern nach Luft

:-)
Vor langer Zeit - Antworten
Lagadere 

Lach, du sollst ja auch nicht lesen, sondern schreiben!!
Und immer diese alten Geschichten, das ist doch nichts.
Man isst ja auch kein altes Brot, sondern besorgt sich frisches!
Als ich aus Gefangenschaft kam (zu Fuß von Russland, im Winter, ohne Schuhe, frierend, verzweifelt, ängstlich), kam ich auch durch ein völlig zerstörtes polnisches Dorf und dort lag in einer Bäckerei ein Schild auf dem Boden: "Hartes Brot ist nicht hart. KEIN Brot, DAS ist hart!"
Als ich dann endlich, endlich, nach Jahren der Qualen und Entbehrungen, völlig abgemagert, nach Hause kam, wollte ich meiner Frau davon erzählen und da hat sie....

ABGEWUNKEN und gesagt: "Ach, immer diese alten Geschichten".
Und da war mir klar, dass sie einen anderen hatte!
Und ich weinte 3 bittere Tränen!
(Die hab ich heute noch. Aufbewahrt in meiner alten, leeren Brotdose!)
Na ja, und seitdem hab ich ne Aversion gegen alte Geschichten.

:-)

Vor langer Zeit - Antworten
Valerina 
Geschichten sind NIE alt,
aber KEINE Geschichten zu schreiben
bzw. lesen zu können,
würde so manchen ganz schön alt aussehen lassen :)
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPuck Ach, schön, Uli, das dein Text wieder da ist.
Der "See der Schande" und die "Omega-Variante" sollten viel mehr Menschen erreichen, als sie es hier bei myStorys tun.
Leserbrief, Kolumne, Tageszeitung......?
Viele Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
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