Kurzgeschichte
Sonnenaufgang

Schwarz. Tiefes Schwarz. Ein Schwarz, das dem Auge schon nach wenigen Metern nicht mehr erlaubt, zwischen Himmel und Erde zu unterscheiden. Stille. Makellose Stille. Kein Windhauch, kein zu früh erwachter Vogel, nicht einmal das Heben und Senken der Brust im Rhythmus des Atmens verursacht ein Geräusch. Eingebettet in ein völliges Fehlen von Sinneseindrücken und in eine geradezu absurde Einsamkeit fühlt er sich doch geborgen. Schwebend im Schoß der Welt. Kein Gestern, kein Morgen stört diese Empfindung untrukturierter Ewigkeit, während er, auf den nackten, flachen Fußsohlen, die Knie umfassend seinen zusammengekauerten Körper balanciert und den Tag ewartet.

Gegen Osten hin beginnt die Wüste langsam Kontur zu gewinnen und das Hochplateau hebt sich dunkelgrau gegen die immer noch schwarzen Felsen im Norden und Süden ab. Tief unten beginnt sich eine Ahnung von Meer abzuzeichnen. Noch hält die Welt inne, schöpft Kraft für den Tag, aber sie ist schon Welt, mit Gestern und Morgen und ohne Ewigkeit. Die Linie des Horizontes gewinnt an Klarheit und Kraft. Auch seine Silhuette hebt sich nun deutlicher gegen das beginnende Morgengrauen ab. Er erhebt sich, hebt die Hände und beginnt die Worte des Gebets zu sprechen, die seine Kultur ihm vorgibt. 'Allahu akber – Gott ist groß'.

Und dann: Die Explosion. Erwartet und doch überraschend. Ein aus dem Meer aufsteigender Feuerball. Sich selbst und die Welt mit einem sich ständig verändernden Farbenspiel von tiefem Purpur bis hin zu kräftigem Orange überziehend, Raum erzeugend, dort wo noch vor einer Minute noch vollständige Dunkelheit herrschte.

Mit rasanter Gleichmäßigkeit erhebt sich die Sonne aus dem Meer, als ob ein gigantische Präzisionsmechanismus dafür verantwortlich sei, der in unnatürlicher Stille sein Werk vollbringt. Zwei, drei Minuten und der Sonnenball hat eine Handbreit Himmel zwischen ich und den Horizont gebracht. Schnell genug, um den Beobachter an der Realität seine Wahrnehmung zweifeln zu lassen.

Die Welt erwacht. Wind setze ein. Die Stille weicht dem winzigen Geräusch der Sandkörner, die über den Boden getrieben werden und Teil des Jahrtausende währenden Werkes der Zerkleinerung werden, an dessem Ende die Wüste steht.

Er erhebt sich. Es ist an der Zeit, die offene Ebene zu verlassen und die engen Täler und Schluchten des Wüstengebirges aufzusuchen. Hier unter der offenen Sonne werden sehr bald Temperaturen herrschen, die auch für einen Beduinen unerträglich sind.