Die Nacht
Der 42jährige Stefan B. aus K. öffnete die Balkontür seiner komfortablen Drei-Zimmer-Wohnung, trat an die Brüstung und sah mit stumpfem, leerem Blick acht Stockwerke hinunter auf den breiten Bürgersteig, der im Mondlicht gut zu erkennen war und eigentlich hätte bedrohlich aussehen müssen.
Schließlich legte Stefan beide Hände auf die Mauer vor ihm, die vom letzten Regen noch etwas feucht war. Er
registrierte die feinkörnige Struktur des Betons, dann zog er sich hoch, schwang die Beine über das Hindernis und sprang hinunter.
Dreißig Minuten vorher hatte er seiner schlafenden Tochter an die Brust gefasst und dabei masturbiert.
Er war sofort tot.
Der Tag
Der Flügel stand in einer Ecke des geräumigen Wohnzimmers. Blickfang vor zwei ausladenden Regalen, die nicht nur Bücher, sondern auch kleine Skulpturen, Pflanzen, Bilderrahmen mit Familien-fotos und Nippes enthielten.
Das Klavier war vor sechs Jahre verstummt. So wie das Lachen von Susanne, deren Foto seitdem in einem Rahmen mit Trauerflor den Flügel zierte. Stefan, der an diesem Tag alleine des 17jährigen Hochzeitstages gedachte,
nahm traurig das Foto von dem so passenden schwarzen Instrument in die Hand und setzte sich langsam, fast andächtig, auf den kleinen drehbaren Hocker, der zum Flügel gehörte. Mit feuchten Augen tauchte der Mann in das Bildnis seiner Frau ein. Es zeigte Susanne in einem weißen Kleid, wie sie, leicht vornübegebeugt, konzentriert die Tasten streichelte. Wie immer dauerte es nicht lange, bis auch die anderen Bilder wieder auftauchten. Sie waren nur zwei Tränen weit entfernt. Der allein Liebende stellte das Foto seiner Frau auf den Notenhalter, legte die Arme in stummer Umarmung darum, ließ den Kopf darauf sinken und sah seinen Tränen nach, wie
sie auf die Tasten fielen, die Susanne einmal berührt hatte. Eine kleine Pfütze bildete sich und Stefan, der sich ernsthaft fragte, ob es sich nun um eine Liebes- oder Trauerpfütze handeln möge, überlegte, ob er wohl den Verstand verlöre, als er plötzlich lächeln musste. Er richtete sich auf und wischte sich mit dem Handrücken eine Träne, die an der Nasenspitze hängengeblieben war, weg. Denn der kleine Tropfen juckte etwas und Tränen sollen nicht jucken, sondern die Haut und die Seele tröstend streicheln. Stefan schloss die Augen und immer noch lächelnd rief er sich einen Vorfall in Erinnerung, an den er gerade hatte denken müssen.
Lange vorher
„Jetzt, da wir verheiratet sind, musst du alles tun, was ich sage!“
Susannes Augen blitzten entschlossen.
„Wer sagt das?“, wollte Steffan wissen.
„Meine Mutter!“.
„Ach die“, winkte Steffan ab. „Die spinnt doch“.
Susanne sprang auf und rief:“ Du Blödmann! Das sag ich ihr!“
Dann griff sie nach ihrem roten Eimerchen, der quietschgelben Schaufel, kletterte wütend aus dem Sandkasten und
schnaufte verächtlich: „Mit dir spiele ich nie wieder „Hochzeit“!“
Sprach’s und stakste empört davon.
Steffan sah ihr irritiert nach.
Damals hatte er es natürlich noch nicht gewusst, aber danach hat er niemals in seinem Leben ein anderes Mädchen oder eine andere Frau angesehen.
„Never ever“, wie seine Tochter Babsi sagen würde.
Steffan lächelte liebevoll bei dem Gedanken an sie und in sein Lächeln hinein hörte er, wie sie ihren Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür steckte.
Der Nachmittag
Der Teenager schloss die Tür hinter sich, legte die Sporttasche im Flur auf den Boden und zog sich Jacke und Schuhe aus. Nachdem Barbara ihren Vater im Wohnzimmer gefunden hatte, blieb sie im Türrahmen stehen und sah betroffen zu der Szene am Klavier. Sie wusste, dass heute Hochzeitstag war, hatte aber gehofft, ihren Papa nicht wieder am Flügel vorzufinden. „He, du“, sagte sie leise, während sie zu ihm ging und ihn umarmte. „Hallo Babs“, entgegnete er, sah sie liebevoll mit geröteten Augen an und fügte
entschuldigend hinzu: „Dein Daddy hat wieder geflennt wie ein kleines Mädchen“.
„Ach, Quatsch!“, spielte Barbara die Empörte. „Weißt du denn nicht, dass ein Mann das Weinen erfunden hat?“ In seinen fragenden Blick hinein, fuhr sie fort: „Na, als Eva, die ja völlig nackt war, Adam um Geld bat, weil sie Schuhe kaufen wollte, musste er weinen, weil er ihr nichts geben konnte. Dabei liebte er sie doch so und hätte ihr gerne alles geschenkt, was sie haben wollte“. „Adam war ja auch nackt“, lachte Stefan und drückte seine Tochter noch fester. „Wo hätte er seine Kreditkarte hinstecken sollen?“ Beide lachten. Kurz darauf löste
sich Barbara aus der Umarmung, griff nach dem Foto ihrer Mutter und vertiefte sich eine Weile in den Anblick. „Sie war wunderschön“, stellte sie wieder einmal fest. „Und du hast ihr Aussehen von ihr geerbt“. „Ja, aber leider auch diese beiden riesigen Dinger“, sie deute auf ihre große Oberweite. „Ein bisschen weniger wäre hier wirklich mehr gewesen.“ „Ach, weißt du, Männer mögen das ganz gerne so“, entgegnete Stefan und wechselte das Thema. „Ich mach’ uns einen Happen zu essen und dann schauen wir uns einen Film an, ja?“ „Gute Idee! Ich komme gerade vom Sport. Ich spring schnell unter die Dusche. Machst du uns eine Flasche
Wein auf zum Essen?“
Der Abend
Später, Stefan hatte den Couchtisch im Wohnzimmer gedeckt und mit einer brennenden Kerze aufgewertet, kam Barbara dazu und band sich beim Gehen ein Frottee-Handtuch um den Kopf. „Zur Feier des Tages hab’ ich Mamas Bademantel angezogen – er riecht so schön“.
„Ich….“, Stefan zögerte etwas. „Ich sprühe manchmal etwas von ihrem
Parfüm darauf“. Barbara legte den Kopf schief, sah ihren Vater nachdenklich an und meinte schließlich: „Ich kann das verstehen, wirklich. – Aber du solltest langsam mal nach einer neuen Frau Ausschau halten“. Stefan nickte. „Später, Schatz. Jetzt noch nicht“.
Die Geschichte mit dem Parfüm war ihm etwas peinlich, aber er freute sich auch, dass die alte Verbundenheit, die Ver-trautheit zwischen ihnen noch existierte. Babs würde bald siebzehn Jahre alt sein und mehr und mehr ihre eigenen Wege gehen. Er fragte sich kurz, wie es dann wohl werden würde, schüttelte den Gedanken dann aber ab und legte eine DVD in den Player.
Während des Liebesfilms aßen die beiden, tranken Wein und lächelten oder lachten ab und an. Eine Zeitlang vergaß Stefan sogar seinen Schmerz. Noch vor dem Ende des Films schlief Barbara ein. Sie hatte sich an Stefan gekuschelt und merkte nicht, dass ihr Bademantel sich während des Schlafes etwas geöffnet hatte. Stefan hatte den Arm um sie gelegt und den Rest des Films alleine gesehen. Er schaltete den DVD-Player und den Fernseher mit der Fernbedienung aus, stellte sein leeres Glas weg und sah auf seine Tochter, die tief und gleichmäßig atmete. Sie war nackt unter dem Bademantel und ein Großteil ihrer Brust war zu sehen. Stefan schloss die Augen.
Tief atmete er den Duft von Susannes Bademantel ein. Vermeinte, ihre Nähe, ihre Wärme zu spüren und plötzlich lag seine Hand auf Barbaras Busen. Umfasste und streichelte ihre linke Brust. Und es fühlte sich so gut an. So schön. So vertraut. So erregend. Ihm wurde heiß. Seine Kehle schnürte sich zusammen. Schmerz und Erregung wechselten sich in immer heißer werden Wellen ab. Und Stefan gelangte schließlich zu dem Punkt, an dem es für einen Mann nur noch einen Weg gab.
Er stürzte in ein heißes Meer, fühlte, wie die Wellen über ihm zusammenschlugen. Und er schwamm, schneller, immer schneller. Bis das Meer ihn schließlich
frei gab und den Erschöpften an den Strand warf.
Barbara schlief. Stefan nahm sie auf die Arme und trug sie in ihr Zimmer. Sie wachte unterwegs auf. „Schlaf weiter, Schatz. du bist vor dem Fernseher eingeschlafen. Ich bring’ dich ins Bett“. „Ja, Daddy“, murmelte sie und schloss vertrauensvoll die Augen. Stefan legte sie ins Bett, deckte sie sanft zu und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Einen Moment lang blieb er noch bei ihr sitzen und sah sie an. Kalte Wellen von Schuld und Schmerz fuhren langsam durch seinen Körper. Als er es nicht mehr aushielt, stand er auf, ging ins
Wohnzimmer, nahm Susanne aus dem Bilderrahmen, steckte das Bild in die Brusttasche seines Hemdes, wo es seinem Herzen am nächsten war, ging wie in Trance zur Balkontür und öffnete sie.
© Ulrich Seegschütz
Dez|2018