An jenem Tag vor 6 Jahren
Die 40jährige Maria-Theresia S. aus K. öffnete kurz nach Mitternacht die Tür ihrer ärmlichen Zwei-Zimmer-Wohnung, schritt über den Treppenabsatz und blieb vor der obersten Stufe stehen. Sie musste eine Weile warten, bis ihr betrunkener Mann schwankend und vor sich hin- brabbelnd oben ankam. Als er sie entdeckte, hielt er überrascht inne. Dann stieß er einen Schwall gelallter Wörter hervor, aus dem nur ihr Name deutlich herausragte: Threschen. Maria-Theresia antwortete nicht. Sie wartete darauf, dass er die Hand vom Geländer nahm..
Etwas später kehrte sie in ihre Wohnung zurück, löschte das Licht im Flur und ging ins Schlafzimmer.
Streng genommen hatte sie vor zwei Minuten ihren Mann ermordet. Sie zuckte mit den Schultern und legte sich schlafen.
Damals
Ihr Vater schlug sie eigentlich ständig. Meistens mit voller Wucht. Nicht mit den Händen, sondern mit Worten. Mit Gestik und Mimik. Sie wusste damals nicht, warum und erfuhr es auch später nicht. Diese Frage beschäftigte sie ein Leben lang. Warum sie? Ihre Geschwister – zwei Mädchen und ein Junge – wurden anders behandelt Einmal, als sie fast volljährig war und an einem eiskalten Wintertag an der Bushaltestelle stand, fragte sie sich, ob sie jemals in ihrem Leben in den Arm genommen worden
war. Sie versuchte angestrengt, sich zu erinnern. Als der Bus endlich kam, grübelte sie immer noch Und auch als der Fahrer sie zuhause absetzte, nur wenige Meter von dem elterlichen Bauernhof entfernt, war ihr noch keine Situation eingefallen, die einer Umarmung irgendwie nahe kam. Viel einfacher war es, sich andere Vorfälle ins Gedächtnis zu rufen. Zum Beispiel die Geschichte mit ihrem Tagebuch, das sie so gut im Rollladenkasten versteckt hatte. Ihrer Mutter waren beim Putzen einige weiße Krümel auf dem Fußboden aufgefallen. Ob sie von der Raufasertapete stammten oder vom Mauerputz, hatte Maria-Theresia nie erfahren. Jedenfalls las ihr
Vater am nächsten Morgen beim gemeinsamen Frühstück genüsslich daraus vor.
An dem Tag starb etwas in Maria-Theresias Seele.
Später, als sie ihre Periode bekam, war ihre Seele schon zur Gänze tot. Maria-Theresia war überrascht, dass es trotz-dem noch so weh tat, als ihr Vater nach einer Nacht, in der das Mädchen vor Schreck wie am Spieß geschrien hatte, am Frühstückstisch lauthals verkündete: „He, Leute! Unser Dummerchen ist jetzt eine Frau!“
Mutter warf ihm einen bösen Blick zu, schwieg aber. Wie gewöhnlich.
„Ich mach doch nur Spaß!“, lachte der Bauer, der nie ein Buch gelesen hatte. Hätte er es getan, hätte er vielleicht gewusst oder geahnt, oder sich zusam-mengereimt, wie wichtig gerade der Vater für ein Mädchen – eine Frau – war. Dafür konnte er wunderbar Felder umpflügen.
Etwa ein Jahr später, als Maria-Theresia 14 Jahre alt war, half sie ihrem Vater draußen auf der Weide dabei, eine Böschung zu roden. Als sich der schlecht gesicherte Traktor langsam in Bewegung setzte und auf ihren Vater zu rollte, hätte sie rufen und ihn warnen können, aber sie brachte keinen Tor hervor.
Sie sah nur fasziniert zu.
Danach wurde alles besser.
An jenem Tag vor 6 Jahren
Nachdem der Rummel sich gelegt hatte und das letzte Blaulicht erloschen war, schlurfte Maria-Theresia in die Küche und setzte Kaffeewasser auf. Schlafen lohnte sich nicht mehr. Die Nacht war gelaufen. Der „Unfalltod“ („Das musste ja mal so kommen“, O-Ton der
Nach-barin) war zu den Akten genommen worden und, wäre es nach der Witwe gegangen, so hätte man die Akte unterwegs weggeworfen. Am besten beim Klärwerk. Einfach über den Zaun.
Maria-Theresia wärmte sich die Hände an der heißen Kaffeetasse.
Von nun an musste alles besser werden.
Damals
Der Hof wurde nun von dem Bruder des Verblichenen geführt. Maria-Theresia arbeitete viel. Nach der Schule, an den Wochenenden.
In der Schule war sie fleißig. Schon deswegen, weil sie gerne dort war. Irgendwann drückte ihre Klassenlehrerin ihr ein Buch in die Hand. Das war der Beginn einer langen Reise.
Ansonsten beobachtete sie die Menschen - Kinder und Erwachsene gleichermaßen – wann immer es ging.
Sie lernte.
Lernte, wie man sich bewegte, sich ausdrückte und wie man mit anderen Menschen umging. Trotzdem blieb sie introvertiert und lebte in ihrer eigenen Welt. Und wenn die Bilder der Vergangenheit auftauchten, dachte sie schnell an etwas Schöneres. Durchfall, Keuchhusten oder eitrigen Ausschlag.
Mit 22 Jahren heiratete sie den Ersten, der sie in den Arm genommen und ihr die Worte gesagt hatte, die sie schon immer hatte hören wollen. Albert war Maurer, etwas älter als sie und trank bei der Arbeit manchmal ein kühles Bier.
Kurz nach der Hochzeit zogen sie nach Krefeld, wo seine Verwandten wohnten. Am Vortag schlich sich Maria-Theresia aus dem Haus und lief zum Friedhof, um sich von ihrem Vater zu „verabschieden“. An seinem Grab blickte sie sich kurz um, ob jemand in der Nähe war, dann zog sie sich den Slip herunter, hob ihren Rock an, hockte sich hin und pinkelte auf das Grab.
Albert war ganz nett. Er war fleißig, verdiente gut und Maria-Theresia begann, sich als normale Frau zu fühlen. Beinahe jedenfalls. Denn da waren noch diese Probleme im Schlafzimmer. Da sie keinerlei Körper- und kein
Selbstwert-gefühl hatte, sondern nur die Furcht davor, die Kontrolle über sich abzu-geben, lag sie einfach nur da und ließ es über sich ergehen. Albert schien es zu genügen. Jedenfalls sagte er nichts.
An sich kein großer Denker, merkte er allerdings schnell, dass seine Frau sich alles gefallen ließ und so fand er mit der Zeit Gefallen daran, sich bedienen zu lassen und sie herum zu kommandieren. Und sie fügte sich. So, wie sich auch ihre Mutter gefügt hatte.
Und so lebten sie einige Jahre vor sich hin. Kinder kamen keine. Irgendwann hatten sich beide deswegen einmal
untersuchen lassen. Maria-Theresia erinnerte sich nicht mehr an den genauen Wortlaut des Arztes, aber irgendetwas mit seinen „Dingern“ war wohl nicht in Ordnung.
Das war vielleicht ganz gut so. Denn Alberts Trinkerei hatte mit der Zeit zugenommen und die Arbeitslosigkeit folgte fast zwangsläufig. Danach wurde alles schlimmer. Albert schimpfte nur noch. Also zwischen zwei Schlucken. Maria-Theresia ging putzen. Auch Toiletten. Was ihr seltsamerweise nichts ausmachte. „Zuhause“ schubste Albert seine Frau immer häufiger. Rempelte sie im Vorbeigehen an, als ob sie gar nicht da wäre.
Irgendwann fing das mit den Schlägen an. Trotzdem blieb Maria-Theresia bei ihm. Sie gab sich selbst die Schuld. Und so saß sie eines Abends leer geweint und abgestumpft ihrem Mann beim Abendbrot gegenüber und hörte, wie er sagte: „Eines Tages mache ich dich kalt“. Er sah sie mit wässrigen, Blut unterlaufenen Augen provozierend an. Aber seine Frau zeigte keinerlei Regung. Sie dachte nur: „Er sieht aus wie eine Kuh“. Dann stand sie auf und machte den Abwasch.
Sechs Stunden später stieß sie ihm gegen die Brust und sah ihm nach, wie er die steinernen Treppenstufen hinunter- kullerte.
An jenem Tag 6 Jahre später
Maria-Theresia lebte nun seit 6 Jahren alleine. Sie hatte eine zweite Putzstelle angenommen und kam ganz gut zurecht. Sie ging nicht aus, las viel oder sah fern. Manchmal dachte sie über ihr Leben nach.
Über ihre Träume. Die genauso düster waren wie das Treppenhaus, wenn die Zeitschaltuhr das Licht abdrehte und sie noch nicht ganz oben war. Viel besser war ihr Leben eigentlich nicht geworden. Und nun stand sie im Dunkeln hinter dem
geöffneten Fenster und fing Gesprächs-fetzen von der Straße auf. Ein Mann hatte sich wohl aus dem Hochhaus gegenüber in den Tod gestürzt. Der Name Stefan B. fiel, sagte ihr aber nichts. („Verirrte Seelen - Der Vatermann“) Nachdem es draußen ruhiger geworden war, zeigte die kleine Digitaluhr im Wohnzimmer drei Uhr an. Maria-Theresia ging ins Bett und lag noch lange wach. Dachte über den Tod im Allgemeinen, sowie den eben erlebten Selbstmord im Besonderen nach.
Was den Mann wohl so weit getrieben hatte? Und sie dachte über ihre eigenen Schmerzen der vergangenen 40 Jahre nach.
Am nächsten Morgen zog sie sich sorgfältig an, packte ein kleines Köfferchen und ging zur nächsten Polizeidienststelle. Als der Beamte am Schalter sie fragend ansah, sagte sie: „Ich habe meinen Mann umgebracht“. Von da an wurde alles besser.
© Ulrich Seegschütz