Der Tag der Entscheidung
Die 17jährige Daniela von S. aus Krefeld stoppte ihr Fahrrad mitten auf der Rheinbrücke, die nach Duisburg führte. Es war fünf Uhr früh an einem Sonntag und die Stadt gehörte ihr fast ganz allein. Ein Zeitungsausträger huschte im morgendlichen Zwielicht vorbei, einige Kraftfahrer fuhren von A ihrem eigenen Schicksal nach B entgegen und niemand interessierte sich für das Mädchen.
Es lehnte das Rad gegen das Brücken-geländer, schaute sich kurz um und
schwang sich dann hinüber, um auf der anderen Seite auf dem schmalen Beton-streifen stehen zu bleiben. Sie hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest, lehnte sich vor und sah in die Tiefe.
Eine Stunde zuvor hatte sie regungs- und tatenlos mit angesehen, wie ihr Begleiter sich mit der rechten Hand an die Brust gegriffen, sie mit großen Augen angestarrt und mit der linken Hand wild zuckend immer wieder auf das Telefon gedeutet hatte.
Er hatte auf dem Boden gesessen, mit dem Rücken an das zerwühlte Bett gelehnt und herumgezappelt. „Wie ein Fisch“, hatte Daniela so für sich gedacht.
„Ja. Wie ein alter, dicker, wabbeliger Fisch“.
Und er war nackt. So nackt, wie ihn Gott sicher nicht erschaffen hatte.
Überhaupt keiner der Götter, auch keiner der längst vergessenen, hätte so etwas erschaffen.
Höchstens geduldet.
Aber auch das nur zähneknirschend.
Prinzessin Daniela
Das schlossähnliche Anwesen lag in dem grünsten grünen Viertel von Krefeld.
Malerisch, den Geruch von Geld ausdünstend und abgeschottet von der normalen Welt durch eine nicht mehr ganz so malerische Mauer.
Die sechsjährige Daniela hockte auf dem Fußboden ihres Kinderzimmers und knuddelte ihren Teddy, der neugierig über ihre Schulter in die Welt hinaussah.
Er hatte nur noch ein Knopfauge, weil das andere längst weggeliebt worden war, aber das störte ihn nicht. Er liebte
und wurde geliebt. Nur das zählte. Wenn es etwas gab, das ihn störte, dann war es das Jucken auf dem Kopf, denn dort waren schon viel zu viele Tränen in seinem Fell versickert und getrocknet.
Sein Auge fiel auf die vielen pädagogisch wertvollen Bücher, die ungelesen im Regal standen. Daniela las lieber richtige Kinderbücher und träumte bisweilen, wie sie auf der kleinen Raupe Nimmersatt durch Taka-Tuka-Land ritt und mit Räuber Hotzenplotz spielte.
Das war die Zeit, in der Daniela ihren Vater zwar vermisste, aber immer noch liebte.
In den folgenden Jahren änderten sich ihre Gefühle für den selten anwesenden Vater, der den Globus mittlerweile öfter umrundet hatte als der Weihnachtsmann.
Aus Enttäuschung wurde Ärger und aus Ärger schließlich Wut.
Einmal, als sie im Fernseher etwas von einer Testamentsstreichung gehört hatte, riss sie ein Blatt Papier aus ihrem Matheheft und verfasste extra ein Testament, nur, um ihren Vater daraus zu streichen.
„Hiermit vermache ich alle meine Spiel-sachen und meine wertvollen, pädago-gischen Bücher Papa, Mama und meiner Freundin Bea“.
Danach strich sie mit dem härtesten Bleistift, den sie hatte, das „Papa“ mehrmals durch.
Als Daniela neun Jahre alt war, erfuhr sie, dass ihre Eltern schon seit Jahren geschieden waren.
Gespielin Daniela
Der attraktive Herr in den besten Jahren saß auf der Terrasse im Tennisclub bei einem kühlen Drink und registrierte mit Genugtuung den einen oder anderen bewundernden Blick von Damen ver-schiedener Altersklassen.
Er gab sich gelangweilt und harmlos..
Niemand sollte bemerken, dass er eine bestimmte Person beobachtete.
Diese Person hatte zwei schlaksige dünne Beine und die blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebun-den, der mit dem kurzen, weißen Röck-chen um die Wette hüpfte.
Auf der Sporttasche der Person, die die Sommerferien nutzte, um mit ihrer besten Freundin Tennis zu spielen, stand der Name Daniela.
Prinzessin Daniela
Daniela kletterte den Berg zum Abitur in einem exklusiven Internat in einem idyl-lischen Städtchen in der Schweiz empor. Das Lernen fiel ihr leicht, die Mitschüler
waren ebenfalls aus gutem Hause und ihren Teddy hatte sie auch dabei.
Das war die Zeit, als Daniela versuchte, ihren Vater aus ihrem Leben zu verban-nen.
Trotzdem weinte sie sich lange Zeit abends in den Schlaf.
Gespielin Daniela
Der attraktive Herr verließ die Terrasse des noblen Krefelder Tennisclubs und schlenderte zu dem Tennisplatz, auf dem Daniela und ihre Freundin Bea gerade ihr Spiel beendet hatten.
Er baute sich auf, vergrub die Hände in den Hosentaschen und lächelte den beiden entgegen.
Daniela, von Haus aus misstrauisch, gab sich distanziert, als er sich mit Christian Degenhardt vorstellte und ihr seine gepflegte, schöne rechte Hand zur Begrü-ßung reichte.
Sie sah verlegen zu ihrer Freundin Bea, die unmerklich mit den Schultern zuckte.
Dann blickte Daniela kurz wieder zu dem Fremden und beschäftigte sich bald darauf mit ihrer Sporttasche.
Während ihre Seele den attraktiven Mann keine Sekunde aus den Augen ließ!
Sein Lächeln, seine strahlend weißen Zähne, seine braungebrannte Haut, der lässig über die Schultern geworfene, helle Pulli und seine ruhige, feste Stimme bei dem kurzen Small Talk führten dazu, dass Daniela ohne ihre Seele den Club verließ, weil diese schon zu Christian geflogen war, und weil sie sie wiederhaben wollte, stimmte Daniela einem Treffen mit ihm zu.
Und so saß Daniela nur 24 Stunden später neben Christian in seiner Luxus-Limousine mit Chauffeur und sah durch die Heckscheibe, wie die Tennis-Anlage, an der sie sich verabredet hatten, immer kleiner wurde.
Da es angefangen hatte zu regnen, fuhren sie nur so durch die Gegend und redeten.
Christian stellte die Art von Fragen, die man gerne beantwortet, und so erzählte Daniela bereitwillig von sich und ihrem Leben.
Abends schwärmte Daniela in ihrem Tagebuch von dem schönen Tag und dem fast 50jährigen Mann und schlief kurz darauf mit einem Lächeln ein.
Beim zweiten Treffen führte Christian die 16jährige in ein nobles Café und beichtete ihr seine Einsamkeit seit dem Tod seiner Frau.
Und weil er Daniela nicht wie einen Teenager, sondern wie eine erwachsene Frau behandelte, wollte sie ab diesem Tag als Erwachsene kein Tagebuch mehr führen und schlief ohne Eintragung lächelnd ein.
Bereits bei der dritten Verabredung lag plötzlich seine Hand auf ihrem Ober-schenkel.
Sie saßen wieder in seiner Limousine, die fast geräuschlos durch Krefeld auf
dem Weg zu seinem Haus rollte.
Daniela trug ein leichtes Sommerkleid, und als Christians Hand so unerwartet ihre Haut berührte, zuckte sie zusammen, aber sie ließ es geschehen. Starrte unsicher aus dem Fenster und niemand sagte etwas.
Seine Hand streichelte sie sanft. Knapp oberhalb ihres Knies.
Daniela, die aufgeklärt war und keines-wegs "hinter dem Mond" lebte, was „diese Dinge“ betraf, schloss die Augen und lehnte sich zurück. Eigentlich ging ihr das alles zu schnell. Aber dass er sie begehrte, war ja wohl auch ein Zeichen seiner Liebe.
So oder so: Sie wollte ihn auf keinen
Fall verlieren.
Und als sie wenig später sein Haus, sein Schlafzimmer erreichten, führte der erfahrene Mann das Mädchen auf Gipfel, von deren Existenz es bisher keine Ahnung gehabt hatte.
Danielas Glück war nun vollkommen.
Das war die Zeit, in der Daniela gar nicht mehr an ihren Vater dachte.
Austauschschülerin Daniela
Fast ein Jahr lang war alles in Ordnung.
Daniela liebte nicht mehr ihren Teddy
sondern Christian.
Sie vertraute ihm und himmelte ihn an.
Lediglich ihre Freundin Bea tat ihr etwas leid, weil sie ein bisschen zu kurz kam.
Und Christian schätzte die Stunden der Zweisamkeit. Er konnte von ihrem kleinen Po, ihrem festen , aufregenden Busen, der biegsamen, schlanken Gestalt und dem hübschen Gesicht seiner Kind-frau gar nicht genug bekommen.
Er kaufte schöne, teure Kleider für sie. Einige davon so eng, das sie wie eine zweite Haut an ihr klebten und spannten.
Aber bereits nach neun oder zehn Monaten zog es ihn immer öfter wieder in den Tennisclub.
Und dort saß er bei einem kühlen Drink in der Frühlingssonne, genoss den einen oder anderen bewundernden Blick von Damen verschiedener Altersklassen und beobachtete ein dralles, junges Ding, wie es mit kurzem, wippendem Röckchen über den Tennisplatz sprintete.
Und wieder traf sich Daniela heimlich mit Christian am Tennisplatz.
Und wie meistens, fuhren sie zu ihm nach Hause.
Alles war so wie immer.
Bis sie den älteren Herrn im Wohnzim-mer entdeckte, der schon auf sie wartete.
Christian machte sie miteinander bekannt, erzählte Daniela, dass er sich
neu verliebt hatte und dass sein Freund Erich sehr einsam sei.
Wie durch einen Nebel hörte Daniela die geliebte Stimme reden und musste hilflos mit ansehen, wie Christian mit dem Vor-schlaghammer der Gleichgültigkeit ihre schöne Welt zertrümmerte.
Innerlich gestorben, ließ sie sich ohne Gegenwehr von dem Alten in ein Zimmer führen.
Ließ sich schlagen, ausziehen und aufs Bett werfen.
Die widerlichen Dinge, die er sagte und tat, registrierte jemand anders. Nicht sie.
Irgendwann wehrte sie sich. Schlug um sich. Versuchte, das Gewicht, das auf ihr lag, wegzuschieben und zur Tür zu gelangen.
Aber sie hatte keine Chance.
Schließlich, als ihr Peiniger sich an die Brust griff und blass wurde, hätte Daniela weglaufen können.
Aber sie blieb und starrte ihn an, bis es vorbei war.
Der Tag der Entscheidung
Daniela wusste nicht, wie lange sie schon das Geländer umklammerte und in die Tiefe starrte.
Sie hatte nicht nur kein Zeitgefühl mehr,
sondern überhaupt keine Empfindungen.
Sie konnte auch keine Entscheidung treffen.
Falls sie sich in ein paar Minuten fallen ließ, dann weil eine Stimme in ihr dazu riet.
„Komm schon. Lass los. Dann ist der Schmerz vorbei“.
Zwei kräftige Arme packten sie von hinten und hielten sie so fest, dass ihr die Luft wegblieb. Zwei weitere Arme erschienen und Daniela fühlte sich über das Geländer gezogen.
Sie sah verwirrt in ein besorgtes Gesicht, das irgendwie in einer Uniform steckte,
dann in ein zweites, das fast genau so aussah.
Dann knipste jemand das Licht aus.
Als sie wieder zu sich kam, ruhte sie sicher im Arm ihres Teddys, der sie erleichtert aus einem Auge ansah.
Er wusste etwas, das sie in ihrer Benommenheit noch nicht wusste:
Alles würde wieder gut werden.
© Ulrich Seegschütz