Aldebaran war ein merkwürdiger Name. Mehr noch für einen Jungen, der sich einfachheitshalber stets Aldo nannte, als für den späteren Mann. Nun, seine Eltern waren Künstler - was gleichermaßen als Grund und Entschuldigung dienen mochte.
Der alte Aldo, der in dieser bedeutsamen Nacht in seiner abgedunkelten Wohnung am Fenster stand und mit leerem Blick auf die Außenwelt starrte, hatte schon lange nicht mehr über seinen Namen nachgedacht, der aus dem Arabischen kam und soviel bedeutete, wie: Der
(Nach-) Folgende.             
Er lächelte zynisch, als er die Möglichkeit in Betracht zog, dass tatsächlich bei seiner Geburt noch jemand nach ihm aus Mutters Schoß gepresst worden war. Ein körperloses Wesen, das nun seit siebzig Jahren auf ihn einschlug. Vielleicht, weil es erbost darüber gewesen war, dass Aldo und nicht "es" der Erstgeborene, der Mensch, war.
Draußen war es nicht viel heller, als in Aldos kleiner Welt. Eine Welt, in der er der einzige Bewohner war. Sich selbst Verwandter und Freund. Er hatte nie das Talent gehabt, Freunde zu finden oder zu
halten. Die wenigen Bekannten, die noch am ehesten in Frage gekommen waren, in der Hierarchie aufzusteigen, hatte Aldebaran stets als Störenfriede empfunden. Alberne Gesellen, die dummes Zeug geschwätzt und über Witze gelacht hatten, die Aldo nicht einmal ein Schmunzeln hatten entlocken können. Eine Welt, die in dieser Nacht untergehen sollte.
Aldebaran warf einen Blick auf die Schlaftabletten, die bereit lagen. Sie waren gewissermaßen Kumpane, denn auch sie würden in dieser Nacht sterben. Aldo lächelte bei dem Gedanken, dass die kleinen Kapseln sich wohl vor Furcht
zitternd zum Abschied die Hände ge-reicht hätten, hätten sie von seinen düsteren Gedanken gewusst. So sie denn nicht empört gewesen wären über das schreiende Unrecht, das ihnen wider-fahren sollte; schließlich waren sie gedacht, Schlaf zu schenken und nicht den Tod.
Aber Aldo war fest entschlossen. In den vergangenen Monaten war er sehr still und nachdenklich gewesen. Hatte in sich hineingelauscht, in der Hoffnung, etwas von dem zu finden, was früher in ihm gebrannt hatte: Neugier, Fragen über Fragen, Freude, Lebenslust, Wissens-durst, Hoffnungen und Pläne. Doch der Blick nach innen, der sich mühsam hatte
einen Weg bahnen müssen, vorbei an dem Geröll, das das Leben hinterlassen hatte, war ergebnislos erloschen. Da war nichts mehr, das es zu finden gab. Viel zu dunkel war Aldebarans Leben geworden und er war zu dem Schluss gekommen, dass er einfach sein Leben gelebt hatte. Und während draußen die Dunkelheit dem Tag immer mehr zusetzte, wurde es Zeit für Aldo, seine Reise in die völlige Finsternis anzutreten. Ein letztes Mal ließ er den Blick durch seine Wohnung schweifen. Ahnte die vertrauten Gegenstände mehr, als dass er sie tatsächlich sah. Dann, als er gerade die Gardinen zuziehen wollte, entdeckte er am Ende der Straße eine Gestalt, die
reglos auf der Fahrbahn stand und in ein seltsam diffuses Licht gehüllt war. Sie schien einen länglichen Gegenstand in der Hand zu halten. Und Aldo erschrak zutiefst und flüsterte: "Der Sensen-mann!" Rasch schloss er die Augen. Presste sie fest zusammen und traute sich nur zögerlich, sie wieder zu öffnen.
Die Erscheinung war verschwunden. Obwohl nun etwas ängstlich und von düsteren Vorahnungen angeweht, löste Aldo entschlossen alle Tabletten in Wasser auf und trank das Glas in einem Zug leer. Die letzte CD war schnell gewählt. Puccini sprach ein letztes Mal zu ihm.
Aldos kleine Welt füllte sich mit den
kostbarsten Melodien und verzückt schloss er die Augen und tat das, was er immer tat, wenn er Puccini hörte: Er sah seiner Seele beim Fliegen zu.
Als er die Augen wieder öffnete, saß jemand auf seinem Bett. „Ist es jetzt soweit?“ Der Sensenmann nickte.             
„Einen Moment noch“, beschwor der sterbende Aldebaran den Tod. „Meine Lieblingsstelle kommt gleich!“
Sein Lebenswille flackerte kurz auf.
Der Sensenmann beugte sich vor und schloss Aldo fest in die Arme.
Die Musik wurde leiser.
Bis sie sich schließlich im Dunkel der Nacht verlor.
Das schwarze Tuch, in das Aldebaran eingewickelt war, wurde gleichzeitig an mehreren Stellen zerrissen. Hände griffen nach dem Alten, strahlend helles Licht suchte sich seinen Weg in seine geschlossenen Augen. Stimmen schwirrten um ihn herum. Die Hände zerrten hier, drückten dort und schienen mit den Stimmen in direktem Zusammen-hang zu stehen.
Jemand rief nach ihm.
„Herr Harrasi! Öffnen Sie die Augen! Sehen Sie mich an!“ Ein Schlag ins Gesicht folgte. „Hallo! Herr Harrasi! Sprechen Sie mit mir!“             
„Puls bei 40“, raunte jemand. Wieder ein Schlag ins Gesicht. Aldo öffnete die Augen, damit die Schläge aufhörten. Die Erleichterung der helfenden Peiniger war deutlich zu spüren.             
Selbst für ihn. Wo war er hier nur wieder hineingeraten? Da er nicht mehr denken mochte, schloss er die Augen wieder. Es würde sich schon alles aufklären. Er hatte Zeit.
Zwischendurch erwachte Aldo ein paar Mal. Einmal lag er in einem Kranken-wagen, ein andermal in einem Kranken-haus.
Wo er sich im Moment befand, wusste er nicht. Nachdem er sich erneut aus dem
Meer der Dunkelheit an die Oberfläche gekämpft hatte, versuchte er sich zu orientieren. Sein erster Blick fiel auf einen Teenager, der im Rollstuhl an seinem Bett saß und „Hi!“, sagte.
„Hi“, erwiderte Aldo höflich und sah sich in dem weißen, sterilen Zimmer um. „Wo bin ich?“
„Klapse“, entgegnete das Mädchen im Rollstuhl lakonisch.
„Oh!“ – Aldo überlegte und verschiedene Einzelheiten fielen ihm wieder ein. „Dann hast Du auch versucht …..?“ Das Mädchen nickte.
„Is schief gegangen“.
„Aber Du bist so jung …… ganz schön dumm“.
„Zum Glück sind Sie schlauer!“
Aldo lächelte.
„Also. Warum?“
„Ich muss los. Therapie“
Das Mädchen drehte ungeschickt seinen Rollstuhl und rief über die Schulter: „Man sieht sich!“
„Man sieht…..“, erwiderte Aldo, aber da war das Mädchen schon draußen.
Erschöpft ließ sich der Alte aufs Kissen fallen, schloss die Augen und schlief wieder ein.
Auge in Auge mit einem Psychologen, versuchte Aldo ein paar Tage später, die letzten Unklarheiten in seinem Kopf aufzuarbeiten und die gewonnene Klaheit
seinem Gegenüber zu vermitteln. Nach zwanzig Minuten aber gelangte der Alte zu der Überzeugung, dass der Psychologe, obwohl sicher nicht dumm, ihm intellektuell nicht zu folgen vermochte und auch nicht die geringste Absicht signalisierte, von seinem Schub-laden-Denken abzuweichen.
Also erzählte Aldo ihm, was er hören wollte, um die Geschichte nicht unnötig hinaus zu zögern.
Als der noch relativ junge Mann mit seinen Fragen nicht aufhören wollte, warf Aldo ein, dass er zu erschöpft sei und man das Gespräch später fortführen könne.
Nachdem sich die Tür hinter ihm
geschlossen hatte und er auf dem Weg zu seinem Zimmer war, murmelte er: „Blöder Idiot!“ und schüttelte den Kopf. 
Die Tage in der Klinik vergingen nur langsam. Aldo fühlte sich wie eine Fliege, die in einen Teller Haferbrei gelangt war und nun versuchte, an den Rand zu kommen. Einzig Mira, die junge Rollstuhl-Fahrerin, war ein Lichtblick in dieser düsteren Zeit, deren Ende von den Gesprächen mit dem Psychologen abhing. Sie kam aus zerrütteten Verhältnissen: Mutter Trinkerin, Vater unbekannt. Keine Geschwister. Dem Druck in der Schule hatte sie nicht standgehalten und als ihre
Mutter sie eines Tages grün und blau geschlagen und ohne Handy und Computer in ihrem Zimmer eingeschlos-sen hatte, war sie kurzerhand aus dem Fenster gesprungen.
Mira war frech und gab sich betont abweisend, doch war sich Aldo sicher, dass hinter der rauen Fassade ein sensibles, in seiner Würde und Persön-lichkeit tief verletztes Mädchen steckte, das ihn mehr als einmal mit seiner Bauernschläue überraschte.
„Wirst Du je wieder laufen können?“, hatte er sie einmal gefragt.„
Keine Chance. Aber wer läuft denn noch? Vom Bett geht es an den Frühstückstisch, von dort ins Auto, und dann sitzt man im
Büro. Und abends liegt man in der Bade-wanne oder auf der Couch. Außerdem: Auch wenn ich gehen, laufen oder rennen könnte, egal, wo ich hin liefe, ICH wäre auch dort.“. Sie hatte kurz überlegt und hinzugefügt: „Ja, wenn man so schnell laufen könnte, dass man sich selbst und seine Probleme hinter sich lassen könnte……das würde mich schon reizen“.
Weitere Gespräche dieser Art füllten die Lücken zwischen den Mahlzeiten, Anwendungen, die der körperlichen Ertüchtigung dienten und den Unter-haltungen mit dem Psychologen, der nach drei Wochen zu der abschließenden Beurteilung kam, dass der Patient
Harrasi entlassen werden konnte.
Mira, die schon nach kurzer Zeit als nicht wirklich suizidgefährdet eingestuft worden war, konnte die Einrichtung eine Woche später verlassen. Aldo, dem der junge Frechdachs ans Herz gewachsen war, holte Mira ab. Er schob sie ein letztes Mal in den angrenzenden Park und stoppte schließlich an einer Bank, auf der sie oft gesessen hatten.
„Wie geht es nun mit Dir weiter?“, wollte Aldo wissen.
„Das entscheidet das Jugendamt. Die haben mittlerweile die Vormundschaft. Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Eine Pflegefamilie, betreutes Wohnen,
und so was halt“. Aldo zögerte.
„Wenn Du willst, spreche ich mit dem Jugendamt. Vielleicht kannst Du zu mir kommen. Das wird denen nicht auf Anhieb gefallen, aber mich um Dich zu kümmern, würde auch meinem Leben einen neuen Sinn geben. Wir brauchen beide Hilfe“.
Mira musterte Aldo. Forschte in seinen Augen und dachte nach.
„Ehrlich gesagt, hab ich daran auch schon gedacht“. Sie lächelte. „Muss ich dann auch Puccini hören?“
„Nicht unbedingt Puccini. Vorerst jedenfalls“, Aldo lachte. „Aber Musik kann ein Teil der Antwort auf einige Fragen sein, die Du an das Leben
stellst“. Mira legte den Kopf schief und fragte zögerlich:
„Sag mal, Aldo – ist das eine Abkürzung für irgendwas?“ Aldo seufzte, wollte aber das aufkeimende Vertrauen nicht zerstören.
„Aldo ist die Abkürzung für Aldebaran“. Mira stutzte kurz und platzte dann heraus:
„Mein Gott! Du brauchst wirklich Hilfe!“ Beide kicherten und ihr Lachen bahnte sich einen Weg durch die Blätter der umstehenden Bäume, passierte ein paar Schleierwolken, die sich überrascht entschleierten und gelangte schließlich in den Himmel, wo sich unter all den Seelen eine besonders über das Geräusch
freute: die von Puccini, der, als er starb, noch jünger war als Aldo heute  und der gewissermaßen in ihm weiterlebte.
Nun ja, ein bisschen jedenfalls.
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