Stunden der Erinnerung
Ich stand am Wohnzimmer-Fenster und sah traurig hinüber zur Straße; in der Hoffnung, ein lachendes Gesicht zu sehen. Einfach, um nicht das Gefühl haben zu müssen, dass die ganze Welt betrübt war. Ich fand kein Lachen. Nicht einmal ein Lächeln oder Grinsen. Die paar Gestalten, die ich im letzten Tages-licht ausmachen konnte, huschten eilig und ja, irgendwie grau, über den feuchten Asphalt, der etwas beleidigt war, weil sich auf ihm noch nicht einmal das Licht der Straßenlaternen spiegelte –
sie waren noch nicht eingeschaltet. Dabei wurde es nun rasch dunkler; wie üblich in der Übergangszeit, in der der Herbst sich eingenistet hat und noch nicht weiß, wohin er denn überhaupt gehen soll, wenn er schließlich dem Winter zähneknirschend sein Revier überlassen muss, das er – weiß Gott! - oft genug markiert hat. Ungeachtet der Tatsache, dass der Winter sich zumeist auch nicht so richtig entscheiden kann, wann und wie er Einzug halten soll …... zunächst nur kalt? Oder gleich mit Schnee „um die Ecke kommen“, weil es viel mehr Spaß macht, „falsch“ gekleidete Fußgänger oder Autofahrer, die jedes Jahr wieder überrascht sind, dass es so etwas wie
Winter gibt, vor sich her zu treiben und von der Straße zu fegen?
Es war einer dieser vielen Tage, an denen ich – mehr als sonst - an die Katastrophe denken musste, die vor nunmehr drei Jahren über unser bis dahin recht beschauliches Leben hereinge-brochen war
Wohl, weil es die gleiche Jahreszeit wie damals war, als wir unser ungeborenes Kind verloren hatten und meine Frau Pia begonnen hatte, sich Stück für Stück von der Welt zurückzuziehen. Und die Zeit heilt eben nicht alle Wunden. Manchmal vergeht sie auch einfach nur. Steht daneben und sieht zu, wie alles nur noch
schlimmer wird; wie sich zu der Diagnose 'Depression' noch andere psychische Krankheiten gesellen, deren lateinische Namen mindestens genauso übel sind wie die gesundheitlichen Einschränkungen selbst.
Als die Straßenlaternen sich einschalteten, nahm ich das als Zeichen, meinen Fensterplatz zu verlassen und meinen einsamen Körper in die Küche zu schleppen. Früher hatte sich Pia regel-mäßig um die Mahlzeiten gekümmert, aber seitdem ihr fröhliches Summen in der Küche endgültig verklungen war, hatte ich diese Aufgabe – gar nicht einmal ungern, wegen der Abwechslung – übernommen.
Beim Einschalten der Deckenlampe warf ich einen kurzen Blick auf die Glühbirne, die ich neulich ausgetauscht hatte. Sie hatte zu viel Unglück beleuchtet und war resigniert dazu übergegangen, die Küche immer mehr zu verdunkeln.
Stunden der neuen Normalität
Das Abendessen verlief schweigend. Zum Abschluss nahm Pia brav ihr neues Antidepressivum, das auf mich einen guten Eindruck machte. Laut Beipack-zettel hatte es - sinngemäß - genügend Pinsel und Farben für Patienten an Bord, um halbwegs fertige Bilder zu malen. Und tatsächlich hatte Pia in letzter Zeit immer öfter 'aktive Phasen', in denen sie sich beschäftigte oder vermehrt redete.
Und so ließ ich sie gewähren, als sie den Tisch abräumte und offensichtlich den Abwasch erledigen wollte.
Nach einer Weile dumpfer Resignation
blickte ich misstrauisch hoch. Aus der Küche klangen keinerlei Geräusche. Besorgt ging ich zu ihr und fand sie wie ein Häufchen Elend am Tisch sitzen. Sie starrte mit leerem Ausdruck in den Augen vor sich hin. Stumm. Gebeugt. In sich zusammengefallen. Einer Marionette gleich, der man die Fäden zerschnitten hatte. Leise und behutsam setzte ich mich zu ihr und nahm ihre Hand. Sie reagierte nicht. Wortlos saßen wir noch eine Weile an dem kleinen Küchenmöbel, das in früheren, glücklicheren Tagen zwei lachenden Liebenden freudig gedient hatte. Ich war überrascht, als Pia unvermittelt zu sprechen begann.
„Das hab ich früher auch immer machen
müssen. Und alle anderen saßen schon im Wohnzimmer vor dem Fernseher“.
Ich ging davon aus, dass sie ihre Kindheit meinte.
Pia wiederholte den Satz Wort für Wort.
Traurig nahm ich meine Frau bei der Hand.
„Komm, Schatz, ich bring dich ins Schlafzimmer und du legst dich etwas hin, ja?“
Pia sagte nichts, stand aber auf und ließ sich widerstandslos führen.
Während ich sie die Treppe hinauf begleitete, hielt ich behutsam ihre Arme. Immer bereit, fest zuzupacken. Jeden Augenblick konnte sich Pia vor
Irgendetwas erschrecken und um sich schlagen.
Im Schlafzimmer legte ich sie sanft ins Bett, löschte das 'normale' Licht, so dass nur noch die kleinen LED's brannten, die ich in der Wand installiert hatte, damit Pia sich orientieren konnte und nicht in Panik geriet, falls sie nachts aufwachte. Anschließend verließ ich den Raum.
Draußen lehnte ich mich erschöpft mit dem Rücken an die geschlossene Tür.
Langsam ließ ich mich zu Boden sinken.
Es war so still im Haus.
Man konnte jedes Geräusch hören, das von draußen herein kam.
Aber da war kein Laut.
Als ob die Welt den Atem angehalten hätte.
Und dann kam Mutter.
Intermezzo
„Mutter! Du hättest anrufen können“.
„Und DU hättest dir inzwischen irgendeine Arbeit suchen können!“ „Oh, wieder auf Kriegsfuß?“
„Keineswegs. Ich bin gekommen, um mich um meine Tochter zu kümmern. – Und nenn mich nicht Mutter!“ „ICH kümmere mich um Pia!“
„Jemanden mit Drogen ruhig zu stellen, nenne ich nicht „kümmern!““ „Du misstraust der modernen Medizin“?
„In erster Linie misstraue ich DIR!“
„Ich weiß, „Mom“. Und wie gedenkst DU Pia zu helfen? Mit Hühnersuppe und
Spaziergängen an frischer Luft? Wie bei 'Sissi'?“
„Zum Beispiel - ja. Wenn ein Mädchen krank ist, braucht es seine Mutter – und keinen Versager, der nichts auf die Reihe kriegt!“
Ich vergrub die Hände in den Hosentaschen und ballte sie dort zu Fäusten. Dann deutete ich mit dem Kinn auf Elviras Koffer. „Du bleibst länger?“
Meine Schwiegermutter straffte sich und stieß entschlossen hervor: „Solange es nötig ist!“
„Beim letzten Mal hast du es nur 48 Stunden ausgehalten“.
„Ach, der Herr Schwiegersohn zählt die Stunden!“
„Du nicht?“
Elvira schluckte die passende Antwort herunter und fragte stattdessen:
„Also – wo ist Pia?“
„Lass sie schlafen. Sie steht bald auf“.
„Sie steht in genau 30 Sekunden auf!“
Ich, ein abgestoßener Koffer und ein alter Regenschirm sahen ihr nach, wie sie die Treppe zum Schlafzimmer hinauf- stampfte.
Stunden des Lichts
Drei Tage später war 'Mutter Elvira' entnervt verschwunden.
Wie erwartet, hatte ihr Besuch Pia sehr mitgenommen. Sie lag im Bett, weigerte sich zu essen und als ich ihr eine von den neuen Tabletten in den Mund schieben wollte, drehte sie den Kopf weg. Wie ein unartiges Kind.
Ohne weiter darüber nachzudenken, zwang ich sie, die Tablette zu nehmen und anschließend ein halbes Glas Wasser zu trinken. Ohne dass ihre Augen mich böse anblitzten, drehte sie sich zur Seite, so dass ich nur noch auf ihren Hinterkopf blickte. Als ich die Hand ausstreckte, um
ihre wunderschöne, schwarze Locken-pracht zu streicheln, schüttelte sich Pia und vergrub sich in ihrer Decke.
Eine Weile saß ich noch auf der Bettkante und dachte zärtlich zurück an die Zeit, als ….. mir kam ein Gedanke; ich stand auf, ging zu dem hübschen Regal im Schlafzimmer und nahm ein kleines, in Leder gebundenes Geburts-tagsgeschenk heraus, deren leere Seiten ich nach und nach mit selbst ausgedachten Geschichten und Gedichten füllte, die ich Pia abends manchmal vorlas.
Ihr Lieblingsgedicht: „Wolkenmädchen“ , das den ersten Schnee des Winters beschrieb, würde sie vielleicht aufheitern.
Die betreffende Seite im Buch war wegen des „Eselsohres“ leicht zu finden und so las ich kurz darauf mit leiser Stimme:
Noch sind die Pfützen grau und spiegeln matt
den müden Wind der Trägheit wider
Geduckte Gestalten haben die klammen Kleider satt
lassen sich im Herbst-Blues nieder
Ein Vogel, alt und lahm, der alles schon gesehen
spricht mit einem Wurm, der weise ihm verspricht
mit Worten, die im Nieselregen der Zeit verwehen
dass die Welt bald zeigt ein schöneres Gesicht
Und in der Ferne erklingt leise eine Melodie
ein Rauschen ist's, ein Sehnen und Fleh'n
Die Natur hebt an zur weißen Winter-Sinfonie
mit Tönen, die in unser aller Herzen weh'n
Ich schau gen Himmel mit seinem weißen Kleid
plötzlich ist's so eng im Hause hier!
Mit erhobenen Armen dreh ich mich, bald ist's soweit
Komm jetzt, Wolkenmädchen! Tanz mit mir!
Wie ein vergessenes U-Boot tauchte Pia langsam auf und sah mich lächelnd an.
Angezogen, wie ich war, legte ich mich an ihre Seite.
EIN einsames U-Boot in dem großen Meer der Gefühle ist ein gar zu trauriger Anblick!
Und so kuschelten sich die beiden
U-Boote aneinander, schliefen irgendwann ein und glitten nahezu lautlos durch das ruhige Wasser hin zu einem Hafen, der schon seit Jahren auf sie wartete.
Und jetzt, in der Adventszeit, würde es mich gar nicht wundern, wenn auf dem Kai ein hell erleuchteter Weihnachts-baum strahlt!.
Außerdem wird es bestimmt schneien.
Und falls nicht, bleiben wir solange im Hafen nebeneinander liegen, bis es schneit!
Bis Pias Augen wieder leuchten.
Bis ich ihr Summen wieder aus der Küche höre, während sie kocht.
Bis ich zärtlich ihren Kopf in meine Hände nehme, mich in ihren Augen wiederfinde und flüstere:
„Komm, mein Wolkenmädchen! Tanz mit mir!“
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