Kurzgeschichte
Wolken-mädchen

0
"Wolkenmädchen"
Veröffentlicht am 08. Dezember 2020, 22 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de
Wolkenmädchen

Wolken-mädchen

Stunden der Erinnerung

Ich stand am Wohnzimmer-Fenster und sah traurig hinüber zur Straße; in der Hoffnung, ein lachendes Gesicht zu sehen. Einfach, um nicht das Gefühl haben zu müssen, dass die ganze Welt betrübt war. Ich fand kein Lachen. Nicht einmal ein Lächeln oder Grinsen. Die paar Gestalten, die ich im letzten Tages-licht ausmachen konnte, huschten eilig und ja, irgendwie grau, über den feuchten Asphalt, der etwas beleidigt war, weil sich auf ihm noch nicht einmal das Licht der Straßenlaternen spiegelte –

sie waren noch nicht eingeschaltet. Dabei wurde es nun rasch dunkler; wie üblich in der Übergangszeit, in der der Herbst sich eingenistet hat und noch nicht weiß, wohin er denn überhaupt gehen soll, wenn er schließlich dem Winter zähneknirschend sein Revier überlassen muss, das er  – weiß Gott! - oft genug markiert hat. Ungeachtet der Tatsache, dass der Winter sich zumeist auch nicht so richtig entscheiden kann, wann und wie er Einzug halten soll …...  zunächst nur kalt? Oder gleich mit Schnee „um die Ecke kommen“, weil es viel mehr Spaß macht, „falsch“ gekleidete Fußgänger oder Autofahrer, die jedes Jahr wieder überrascht sind, dass es so etwas wie

Winter gibt, vor sich her zu treiben und von der Straße zu fegen?

Es war einer dieser vielen Tage, an denen ich – mehr als sonst - an die Katastrophe denken musste, die vor nunmehr drei Jahren über unser bis dahin recht beschauliches Leben hereinge-brochen war

Wohl, weil es die gleiche Jahreszeit wie damals war, als wir unser ungeborenes Kind verloren hatten und meine Frau Pia begonnen hatte, sich Stück für Stück von der Welt zurückzuziehen. Und die Zeit heilt eben nicht alle Wunden. Manchmal vergeht sie auch einfach nur. Steht daneben und sieht zu, wie alles nur noch

schlimmer wird; wie sich zu der Diagnose 'Depression' noch andere psychische Krankheiten gesellen, deren lateinische Namen mindestens genauso übel sind wie die gesundheitlichen Einschränkungen selbst.

Als die Straßenlaternen sich einschalteten, nahm ich das als Zeichen, meinen Fensterplatz zu verlassen und meinen einsamen Körper in die Küche zu schleppen. Früher hatte sich Pia regel-mäßig um die Mahlzeiten gekümmert, aber seitdem ihr fröhliches Summen in der Küche endgültig verklungen war, hatte ich diese Aufgabe – gar nicht einmal ungern, wegen der Abwechslung – übernommen.

Beim Einschalten der Deckenlampe warf ich einen kurzen Blick auf die Glühbirne, die ich neulich ausgetauscht hatte. Sie hatte zu viel Unglück beleuchtet und war resigniert dazu übergegangen, die Küche immer mehr zu verdunkeln.








Stunden der neuen Normalität

Das Abendessen verlief schweigend. Zum Abschluss nahm Pia brav ihr neues Antidepressivum, das auf mich einen guten Eindruck machte. Laut Beipack-zettel hatte es  - sinngemäß - genügend Pinsel und Farben für Patienten an Bord, um halbwegs fertige Bilder zu malen. Und tatsächlich hatte Pia in letzter Zeit immer öfter 'aktive Phasen', in denen sie sich beschäftigte oder vermehrt redete.

Und so ließ ich sie gewähren, als sie den Tisch abräumte und offensichtlich den Abwasch erledigen wollte.

Nach einer Weile dumpfer Resignation

blickte ich misstrauisch hoch. Aus der Küche klangen keinerlei Geräusche. Besorgt ging ich zu ihr und fand sie wie ein Häufchen Elend am Tisch sitzen. Sie starrte mit leerem Ausdruck in den Augen vor sich hin. Stumm. Gebeugt. In sich zusammengefallen. Einer Marionette gleich, der man die Fäden zerschnitten hatte. Leise und behutsam setzte ich mich zu ihr und nahm ihre Hand. Sie reagierte nicht. Wortlos saßen wir noch eine Weile an dem kleinen Küchenmöbel, das in früheren, glücklicheren Tagen zwei lachenden Liebenden freudig gedient hatte. Ich war überrascht, als Pia unvermittelt zu sprechen begann.

„Das hab ich früher auch immer machen

müssen. Und alle anderen saßen schon im Wohnzimmer vor dem Fernseher“.

Ich ging davon aus, dass sie ihre Kindheit meinte.

Pia wiederholte den Satz Wort für Wort.

Traurig nahm ich meine Frau bei der Hand.

„Komm, Schatz, ich bring dich ins Schlafzimmer und du legst dich etwas hin, ja?“

Pia sagte nichts, stand aber auf und ließ sich widerstandslos führen.

Während ich sie die Treppe hinauf begleitete, hielt ich behutsam ihre Arme. Immer bereit, fest zuzupacken. Jeden Augenblick konnte sich Pia vor

Irgendetwas erschrecken und um sich schlagen.

Im Schlafzimmer legte ich sie sanft ins Bett, löschte das 'normale' Licht, so dass nur noch die kleinen LED's brannten, die ich in der Wand installiert hatte, damit Pia sich orientieren konnte und nicht in Panik geriet, falls sie nachts aufwachte. Anschließend verließ ich den Raum.

Draußen lehnte ich mich erschöpft mit dem Rücken an die geschlossene Tür.

Langsam ließ ich mich zu Boden sinken.

Es war so still im Haus.

Man konnte jedes Geräusch hören, das von draußen herein kam.

Aber da war kein Laut.

Als ob die Welt den Atem angehalten hätte.


Und dann kam Mutter.












Intermezzo


„Mutter! Du hättest anrufen können“.

„Und DU hättest dir inzwischen irgendeine Arbeit suchen können!“ „Oh, wieder auf Kriegsfuß?“

„Keineswegs. Ich bin gekommen, um mich um meine Tochter zu kümmern. – Und nenn mich nicht Mutter!“ „ICH kümmere mich um Pia!“

„Jemanden mit Drogen ruhig  zu stellen, nenne ich nicht „kümmern!““ „Du misstraust der modernen Medizin“?

„In erster Linie misstraue ich DIR!“

„Ich weiß, „Mom“. Und wie gedenkst DU Pia zu helfen? Mit Hühnersuppe und

Spaziergängen an frischer Luft? Wie bei 'Sissi'?“

„Zum Beispiel - ja. Wenn ein Mädchen krank ist, braucht es seine Mutter – und keinen Versager, der nichts auf die Reihe kriegt!“

Ich vergrub die Hände in den Hosentaschen und ballte sie dort zu Fäusten. Dann deutete ich mit dem Kinn auf Elviras Koffer. „Du bleibst länger?“

Meine Schwiegermutter straffte sich  und stieß entschlossen hervor: „Solange es nötig ist!“

„Beim letzten Mal hast du es nur 48 Stunden ausgehalten“.

„Ach, der Herr Schwiegersohn zählt die Stunden!“

„Du nicht?“

Elvira schluckte die passende Antwort herunter und fragte stattdessen:

„Also – wo ist Pia?“

„Lass sie schlafen. Sie steht bald auf“.

„Sie steht in genau 30 Sekunden auf!“

Ich, ein abgestoßener Koffer und ein alter Regenschirm sahen ihr nach, wie sie die Treppe zum Schlafzimmer hinauf- stampfte.




Stunden des Lichts

Drei Tage später war 'Mutter Elvira' entnervt verschwunden.

Wie erwartet, hatte ihr Besuch Pia sehr mitgenommen. Sie lag im Bett, weigerte sich zu essen und als ich ihr eine von den neuen Tabletten in den Mund schieben wollte, drehte sie den Kopf weg. Wie ein unartiges Kind.

Ohne weiter darüber nachzudenken, zwang ich sie, die Tablette zu nehmen und anschließend ein halbes Glas Wasser zu trinken. Ohne dass ihre Augen mich böse anblitzten, drehte sie sich zur Seite, so dass ich nur noch auf ihren Hinterkopf blickte. Als ich die Hand ausstreckte, um

ihre wunderschöne, schwarze Locken-pracht zu streicheln, schüttelte sich Pia und vergrub sich in ihrer Decke.

Eine Weile saß ich noch auf der Bettkante und dachte zärtlich zurück an die Zeit, als ….. mir kam ein Gedanke; ich stand auf, ging zu dem hübschen Regal im Schlafzimmer und nahm ein kleines, in Leder gebundenes Geburts-tagsgeschenk heraus, deren leere Seiten ich nach und nach mit selbst ausgedachten Geschichten und Gedichten füllte, die ich Pia abends manchmal vorlas.

Ihr Lieblingsgedicht: „Wolkenmädchen“ , das den ersten Schnee des Winters beschrieb, würde sie vielleicht aufheitern.

Die betreffende Seite im Buch war wegen des „Eselsohres“ leicht zu finden und so las ich kurz darauf mit leiser Stimme:


Noch sind die Pfützen grau und spiegeln matt

den müden Wind der Trägheit wider

Geduckte Gestalten haben die klammen Kleider satt

lassen sich im Herbst-Blues nieder

Ein Vogel, alt und lahm, der alles schon gesehen

spricht mit einem Wurm, der weise ihm verspricht

mit Worten, die im Nieselregen der Zeit verwehen

dass die Welt bald zeigt ein schöneres Gesicht


Und in der Ferne erklingt leise eine Melodie

ein Rauschen ist's, ein Sehnen und Fleh'n

Die Natur hebt an zur weißen Winter-Sinfonie

mit Tönen, die in unser aller Herzen weh'n


Ich schau gen Himmel mit seinem weißen Kleid

plötzlich ist's so eng im Hause hier!

Mit erhobenen Armen dreh ich mich, bald ist's soweit

Komm jetzt, Wolkenmädchen! Tanz mit mir!



Wie ein vergessenes U-Boot tauchte Pia langsam auf und sah mich lächelnd an.

Angezogen, wie ich war, legte ich mich an ihre Seite.

EIN einsames U-Boot in dem großen Meer der Gefühle ist ein gar zu trauriger Anblick!

Und so kuschelten sich die beiden

U-Boote aneinander, schliefen irgendwann ein und glitten nahezu lautlos durch das ruhige Wasser hin zu einem Hafen, der schon seit Jahren auf sie wartete.

Und jetzt, in der Adventszeit, würde es mich gar nicht wundern, wenn auf dem Kai ein hell erleuchteter Weihnachts-baum strahlt!.

Außerdem wird es bestimmt schneien.

Und falls nicht, bleiben wir solange im Hafen nebeneinander liegen, bis es schneit!

Bis Pias Augen wieder leuchten.

Bis ich ihr Summen wieder aus der Küche höre, während sie kocht.

Bis ich zärtlich ihren Kopf in meine Hände nehme, mich in ihren Augen wiederfinde und flüstere:

„Komm, mein Wolkenmädchen! Tanz mit mir!“

© Lagadere

0

Hörbuch

Über den Autor

Lagadere
I

Leser-Statistik
40

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
yumiko Die Geschichte ist wunderbar schön geschiben liebe
Liebe Grüße Yumi
Heute - Antworten
Lagadere 

Danke dir, Yumi!
Mach's dir gemütlich!!

LG Uli

Heute - Antworten
Gabriele 
Hallo lieber Uli
ich bin heute auf Umwegen zu deiner wunderbaren Geschichte vom Wolkenmädchen gekommen - und - habe sie sanft und stetig in mein Herz aufgenommen!! Es ist eine Geschichte, die nicht nur durch deine wohl gewählten sachten Worte berührt, sondern auch (sicherlich für Jeden) das Gefühl der friedlichen Heilungsmöglichkeit für erlebte Situationen schenkt. Ich hoffe sehr, dass diese Geschichte noch viele Menschen erreicht?!!
Viele liebe Grüße von Gabriele
Gestern - Antworten
Lagadere 

Danke dir, Gabi! Freu mich!

Gegenbesuch folgt - im Laufe des Tages. Versprochen!

Liebe Grüße in deinen Donnerstag, der ja mild werden soll.
Möge er dir ein Lächeln ins Gesicht zaubern!

LG Uli

Heute - Antworten
Tetris Uli
Du bist ein Ausnahmekünstler. Dies ist eine Geschichte wie ein dicker Roman, nur eben komprimiert, und sie ist soso gut!
Gruß
Tetris
Hinweis: Dies ist keine dummdreiste Schmeichelei, sondern mein vollster Ernst!
Vergangenes Jahr - Antworten
Lagadere 

Das ist so lieb von dir!
Und schmeichele mir ruhig - in dieser Zeit der wenigen Leser kommt der frustrieten Seele jede Streicheleinheit gerade recht!

Danke dir innigst und......

schönes Wochenende!

LG Uli

Vergangenes Jahr - Antworten
Valerina 

Mit deinem Wolkenmädchen, das ich heut Morgen schon im Bett gelesen habe, hast du eine Sehnsucht, nach dieser wundervollen Geborgenheit, in mir geschürt, die mich bestimmt noch Stunden begleiten wird ...
"in guten und in schlechten Zeiten"
und ganz still und leise habe ich einen Weihnachtsbaum zum Kai gebracht, denn auch ich möchte, dass Pias Augen wieder leuchten.

Stille Grüße
Valeri

Vor langer Zeit - Antworten
Lagadere 

Während du noch ins Kissen gesabbert hast, hab ich einen neuen Rekord beim Einkaufen aufgestellt! Aber du darfst das natürlich, weiiiiil
URLAUB!
Jedenfalls bin ich jetzt bis nach Weihn. eingedeckt. Der Tag war auch gut gewählt - kaum Leute unterwegs; schon gar nicht so früh.
Gut!

Für das Wolkenmädchen gibt es inzwischen eine Fortsetzung, aber die hat keine........ Seele. Gefällt mir nicht.

Danke dir für's Lesen und so und rufe dir zu:

Mach's dir gemütlich!

LG Uli

Vor langer Zeit - Antworten
Brigitte Oh, was für eine wunderschöne zu Herzen gehende Geschichte!
Sie hat mich wirklich sehr berührt. Voll von Poesie und Liebe. Ich danke dir ganz herzlich für dieses Buch und den schönen Wochenbeginn.
Es gibt auch bei mir Tage, an denen ich das Gefühl deiner Protagonistin gut nachverfolgen kann. Aber bei mir ist es das Alter. Seufz
Liebe Grüße an dich und bleib gesund Brigitte
Vor langer Zeit - Antworten
Lagadere Ja, das Älterwerden ist doof.
Danke Dir für's Lesen und die netten Worte!
Freu mich immer, wenn jemand mein Getippsel liest :-)

Dir einen schönen Abend
Liebe Grüße
Uli
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
30
0
Senden

166249
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung