Kurzgeschichte
Und du redest von Einsamkeit?

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"Einsamkeit zu zweit lässt dich auch in der Wärme frieren"
Veröffentlicht am 27. November 2020, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Das Wichtigste in meinem Leben ist meine Familie, mein Mann, meine beiden Töchter, meine Schwiegersöhne und meine fünf Enkelkinder. Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Schon im Alter von sechs Jahren schrieb ich kleine Geschichten. Die ersten Gedichte folgten dann, als ich etwa zwölf war. An die Öffentlichkeit ging ich jedoch erst vor einigen Jahren. Nach zahlreichen Gedichten und Geschichten, die in Anthologien und ...
Einsamkeit zu zweit lässt dich auch in der Wärme frieren

Und du redest von Einsamkeit?

Und du redest von Einsamkeit?

„Mir ist so schrecklich kalt, Justus“. Ich will nicht jammern, aber nach dem endlosen Schweigen musste dieser Satz nun raus. Er schaut mich an, grinst. „Kein Wunder Lilly, sieh dich mal um. Du wolltest in diese Eiswüste.“ Er hat recht, zweifelsfrei. Diesen verlassenen Ort habe ich vorgeschlagen, aber nur, um ihm mitzuteilen, dass es so nicht weitergeht. Zuhause hätte es ein Wortgefecht gegeben, dem ich mich nicht mehr aussetzen will. Ich dachte, diese Eiseskälte könne ihm ein wenig den Atem nehmen und ihn einfach zuhören und nachdenken lassen. Das habe ich

jetzt davon. Wir frieren auf dieser Parkbank fest und die Worte erstarren, kaum, dass sie meinen Mund verlassen. Erneuter Versuch. „Justus,“ Kondenswölkchen „ich will sagen, mich friert’s in unserer Beziehung.“ Wolkentürme bauen sich vor seinem Gesicht auf, mutieren zu einem Fragezeichen vor seiner Stirn. Er schüttelt den Kopf. „Meinst du, Lilly, ich stricke einen Pullover, der unsere Beziehung wärmt?“ Wieder dieses dämliche Grinsen. Ich schlucke meine Tränen hinunter, sie würden eh sofort gefrieren, beschließe Klartext zu reden. „Ich bin einsam.“

Sein spöttisches „Ach!“ höre ich nicht, erkenne es aber an dem Wölkchen vor seinem Mund. Zwecklos, denke ich resigniert und krieche tiefer in meinen Lammfellmantel. Plötzlich greift eine warme Hand nach meinen Eisfingern. Justus zieht mich hoch. „Komm!“ Ich folge nur widerwillig, aber sitzen zu bleiben, käme dem Erfrierungstod gleich. Während wir durch den Park wandern, höre ich ein Summen. Es ist Justus, aus dessen Mund die Töne leise herausströmen. Die Melodie kommt mir bekannt vor. Automatisch formen meine Gedanken die Worte. So how can you tell

me you're lonely … Der Himmel verdunkelt sich rasch, Blau löst sich in diffusem Grau auf und das blauglitzernde Farbenspiel des Schnees scheint zu erstarren. Kaltes, ödes Weiß, wäre da nicht das Summen. Ich mag es nicht hören. Justus zieht mich mit und ich trotte wie ein Esel hinterher, ein einsamer gewissermaßen. Das Summen endet plötzlich. Nein, es wandelt sich und ich höre die Töne, noch ehe ich ihren Ursprung sehe. „Voilà!“ Justus macht eine einladende Handbewegung, als sei er ein Conférencier auf einer Bühne. Typisch, denke ich, doch dann sehe ich ihn. Einen Mann, allein steht er am Fuße einer

Treppe, die zu einem großen Torbogen führt. Er spielt Saxophon und die weichen Töne seiner bluesartigen Musik hüllen ihn ein. Niemand, der ihm zuhört. Völlig versunken spielt er sich seine Traurigkeit von der Seele. Magisch angezogen löse ich meine Hand aus Justus’ Griff, gehe ein paar Schritte auf den Einsamen zu und lasse die Töne in mich hineinfließen. Justus legt seinen Arm um meine Schulter. „Und du redest von Einsamkeit?“ Aber diesmal höre ich in seiner Stimme weder Spott noch Vorwurf. Ein Lächeln kommt mir so absichtslos hoch, ich weiß nicht woher, es scheint mir, als sei es lange in mir gewesen. Der Saxophonist

unterbricht sein Spiel nicht, aber seine Augen lächeln auch. „Komm!“, sagt Justus wieder und zeigt auf das Portal. Stufe für Stufe erklimmen wir die Treppe und als wir unter dem Torbogen stehen, hat sich meine Sichtweise verändert. Wir sind auf einem bunten Jahrmarkt, der einem Kaleidoskop aus Farben gleicht. In all dem Glanz sehe ich sie. Die Frau, die frierend in ihrer Bude steht und darauf hofft, dass jemand ihre bunten Socken kauft. Den jungen Mann, der allein an einem Stand harrt, die Flasche Rotwein in seiner Hand, halb geleert. Das Mädchen mit den Rastazöpfen, das einen Hund hinter sich herzieht und an jedem Mülleimer stehen

bleibt und in den Abfällen stochert. Sie alle wollen am bunten Jahrmarkt des Lebens teilhaben. Auf einmal überkommt mich ein Gefühl von Scham, das auch nicht von den Lichtern der Karussells und der heiteren Musik aus den Lautsprechern verdrängt werden kann. Inmitten des strahlenden Glanzes wohnt sie, die Einsamkeit. Meine Einsamkeit … Noch ehe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, sagt Justus: „Deine Einsamkeit ist hausgemacht, Lilly!“ Sachlich, fordernd, beinahe kühl kommen diese Worte, doch eigenartigerweise wird mir auf einmal warm. Justus nimmt meine Hand. Als ich zu ihm aufschaue, lächeln seine

Augen.
„Gehen wir nach Hause, Lilly.“ Die melancholischen Töne des Saxophons begleiten uns, als wir durch den Torbogen laufen.

Impressum

Text: Enya Kummer
Cover/Bildnachweis: My pictures are CC0. When doing composings: auf Pixabay

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Hörbuch

Über den Autor

Enya2853
Das Wichtigste in meinem Leben ist meine Familie, mein Mann, meine beiden Töchter, meine Schwiegersöhne und meine fünf Enkelkinder.
Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Schon im Alter von sechs Jahren schrieb ich kleine Geschichten. Die ersten Gedichte folgten dann, als ich etwa zwölf war. An die Öffentlichkeit ging ich jedoch erst vor einigen Jahren.
Nach zahlreichen Gedichten und Geschichten, die in Anthologien und Gemeinschaftsbüchern ihren Platz fanden, habe ich 2013 meinen Debütroman »Das Murmelglas« gemeinsam mit Victoria Suffrage veröffentlicht. Im März 2015 erschien das Kinderbuch »Die Abenteuer von Stups und Moni. Wenn freche Wölfe Nebel pupsen«, das ich ebenfalls mit Victoria Suffrage geschrieben habe.
Im Dezember 2017 erschien mein Roman »Julie. Am Ende ist Erinnern«, gefolgt von »Septemberblues«. Die Fortsetzung von »Julie« erschien im März 2020.
Wenn ich noch ein Ziel habe, was das Schreiben angeht, so ist es ein Psychothriller. Mal schauen.
Zur Zeit schreibe ich an einem (fast) autobiografischen Familienroman.
Meine Geschichten erzählen von menschlichen Grenzsituationen, die immer von einem Funken Hoffnung begleitet werden.
Ich habe Mathematik, Psychologie und Pädagogik studiert und war im Bildungsbereich tätig. Inzwischen genießen mein Mann und ich unser Rentendasein und die Beschäftigung mit unseren lebhaften Enkelkindern.


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Lagadere Hach....Streets of London.....bringt memories back
Grad gestern hab ich einen Film gesehen, der hier seeehr gut passt. Familiel mit drei Kindern, genug Geld, Haus, 1 glücklicher (zufriedener) Vater, 3 mehr oder weiniger zufriedene Kinder und....
eine Frau/Mutter, die sich fragt: Was ist aus meinen Träumen geworden?
Wo ist mein ICH geblieben in all dieser Harmonie, usw.
Anschließend bricht sie mit allem und geht wieder auf die Uni.
Der Vater versteht überhaupt nix mehr. Der Zuschauer....äh..auch ich....ebenfalls nicht. Bis man sich damit auseinandersetzt. Womit der Film sein sekundäres Ziel erreicht hat (das primäre dürfte "Unterhaltung" sein).

Wunderbar geschrieben, liebe Enya. Irgendwie immer objektiv, auch wenn's subjektiv verfasst ist. Erstaunlich!
Und natürlich hast auch du das primäre und sekundäre Ziel erreicht - wie immer. Über die weiteren Ziele muss ich noch nachdenken :-)

Dir eine wunderschöne Vorweihnachtszeit, verbunden mit dem aufrichtigen Weihnachts-Wunsch, dass du noch gaaaanz oft Kranichen hinterherschauen mögest.

Uli
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Danach sehne ich mich wirklich, nach den Kranichen. Habe sie ja immer in meiner Heimat am Meer gesehen. Hier ist das nichts.
Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder dorthin komme.

Film habe ich leider nicht gesehen, klingt aber passend.
In meiner geschichte will ich nicht moralisieren, es sind zwei Sichtweisen, jede von ihrem Standpunkt berechtigt, zumindest teilweise.
Und wer sagt denn, dass die scheinbar Einsamen dieses elende Gefühl mehr spüren als jene, die sich in Gesellschaft bewegen.
Ganz liebes Dankeschön für alles.

Hab du auch eine gute Zeit, sei vor allem gut zu dir.
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Liebe Enya,
das ist eine wunderbare Geschichte. Berührend, nachvollziehbar, weil sie realitätsnah ist. Zu zweit, und doch allein ... kein seltenes Phänonem. Wenn das Schweigen zwischen zwei Menschen die Oberhand gewinnt, wird einer daran zerbrechen ... dass es anderen schlechter geht, ist weder eine plausible Erklärung, noch eine Entschuldigung.
Lieben Gruß und einen schönen 2. Advent
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Liebe Kara,
das freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt. Ja, Sprachlosigkeit in der Beziehung zieht meist Schlimmes nach sich. Und das Gefühl, trotz eines Partners einsam zu sein, muss sehr belasten.
Ich danke dir sehr für alles und wünsche dir einen schönen Adventsonntag.
Liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
baesta Eine wunderbar berührende menschliche Geschichte, die uns vor Augen führte, welche Menschen tatsächlich einsam sind und doch wieder auch nicht, sondern das Beste versuchen daraus zu machen.

Liebe Grüße
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Herzlichen Dank für alles, liebe Bärbel.
Vielleicht ist es in der Tat so, dass diejenigen, die wir als "einsam" erachtren oft viel weniger einsam sind als jene, die in Gesellschaft mitten unter uns leben.
Ich wünsche dir einen schönen Tag.
Lieben Gruß
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
derrainer Liebe Enya,
Eine schöne Geschichte, es sind die,die das Leben schreibt,
Einsamkeit, ist schrecklich, wenn man nicht damit umgehen kann,.
Einsamkeit in der Partnerschaft, kommt nie einseitig .
Schön verfaßt, 12 Seiten eh nicht mein, aber die zwei darüber über zehn,
Sind mein Geburtstag Geschenk
Lieben Gruß zu dir Rainer
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Herzlichen Dank, Rainer, fürs Lesen, deine lieben Worte und das Extra-Geschenk.
Ich freue mich und lasse dir einen lieben Abendgruß hier.
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
Brubeckfan Liebe Enya,
die Situation kann sicher jeder nachempfinden, der nicht grade frisch verliebt ist. Das Innen und Außen hast Du gut beschrieben. Was ich zwar nicht mag, ist "Anderen gehts ja nicht besser, oder gar schlechter". Schwacher Trost...
"kommt ein alter Drachen: Ich möchte verstanden werden. Als ob jemals jemanden verstünde" Sinngemäß zu finden bei Doris Anselm, Hautfreundin. Das einzige erotische, ehrliche, lesbare, kluge Buch, das ich kenne.

Viele Grüße,
Gerd
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Herzlichen Dank, lieber Gerd, fürs Lesen und deine Worte.
Ich denke, Justus hat nicht wirklich begriffen, wie es Lilly geht.
Schönen Sonntag dir.
Lieben Gruß
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
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