Beschreibung
Sollen wir unseren Erinnerungen glauben? Und was könnte passieren, wenn die Kinder für den Eltern in den Krankenhäuser "angebaut" wurden?
Die Spätabendsonne beleuchtet mit den matten Strahlen das Wohnzimmer einer normalen Wohnung in den siebenundzwanzigsten Stock. Ein weiterer Tag ist zu Ende. Trotzdem kann die Ende auch der Beginn sein kann. Das ist eine Geschichte, die ich ihnen erzählen möchte.
Am Fenster steht ein Mann. Es ist nichts merkwürdiges auf ihm, er hat eine mittelgröße Figur, kurze schwarze Haare und lebendige Augen. Ja, die grüne Augen... Das war das, was mir auf ihm immer gefallen hatte. Joseph Goot, meinâ Mann.
Ich gehe still zu ihm. Er bewegt sich nicht, schaut immer nach draußen, irgendwo zum Big Eye. Erst wenn ich meine Hand auf seiner Arm lege, dreht er sich zu mir.
'Hallo, Mary, Ich habe dich nicht kommen hören,' sagt er mit einer klaren Stimme. Obwohl sich seine Lippen gar nicht bewegen, seine Augen lachen auf mich.
'Hast du dich schon entschieden?' frage ich unsicher.
'Wofür?'
'Du weiß doch...'
Er schaut wieder aus dem Fenster hinaus. Wie lange steht er schon da - bei dieser Glassfläche? Eine Stunde? Zwei? Als wir erfunden hatten, wir können keine Kinder haben, hatten wir das Gefühl, das Leben hat keinen Sinn mehr. Ich werde nicht lügen, wenn ich sagen würde, ich hatte oft Lust sich zu richten. Die Zeiten hatten sich aber verändert. Rasant verändert... Es ist so unerwartet passiert, wir waren dafür nicht vorbereitet. Bei einer regelmäßige Untersuchung hat uns Herr Nowak die Möglichkeit angeboten, auf einem Projekt eines Kunstkindes teilzunehmen. Kein Roboter, wirklich ein echtes lebendiges Kind, nur im Labor 'produziert'. Das war eine Gelegenheit, die nur einmal im Leben erscheinen kann.
Ich gucke lachend auf Joseph. Er umarmet mich, sagt aber immer nichts.
'Joseph,' fange ich unsicher wieder an.
'Mary, ich weiß nicht, ob wir das wirklich machen sollen. Es ist etwas Naturwidriges, weiß du... Haben wir eigentlich recht, ein lebendiges Wesen zu bauen?'
'Es ist kein lebendiges Wesen, es ist ein Kind. Viele Eltern hatten das schon probiert und sind völlig zufrieden. Warum können wir das auch nicht versuchen...'
'Ob du meine eigene Meinung wissen willst, war ich dagegen, aber ich wollte wirklich nicht, dass du deswegen unglücklich wärest.'
'Diese Entscheidung müssen wir beide machen, das weiß du doch.'
'Mary...'
'Joseph...'
'Und was würdest du machen, wenn dir das Kind nicht gefällt? Wiederaufbereiten?'
Ich bleibe mit geöffenen Mund stehen. Das kann er wirklich nicht ernst meinen! Die Sonne hat sich schon fast verschinden, die Stadt untertaucht in die Dunkelheit. Wie meine Hoffnung...
'Also gut, wenn es dir wirklich glücklich macht...' sagt er endlich, 'Der Gott steht bei uns...'
'Danke, Joseph...' atme ich aus, 'Danke... Ich liebe dich... Komm, ich bereite dir was leckeres zum Abendessen vor...'
So ist die ganze Geschichte angefangen, die Geschichte, an der ich mich heute sehr gern erinnere, aber damals war ich sehr erschrecken. Wie so eine kleine Entscheidung unseres Leben ändern könnte...
Montag - Tag 1.
Als wir den nächsten Tag zum Jungfrau Maria Krankenhaus gefahren sind, fühlte ich ein unbeschreibbares Gefühl in meinen Innen. Ich bin wirklich nicht fähig das irgendwie zu bestimmen, es war wie eine nette Wärme irgendwo am Herz. So einen wünderschönen Tag hatte London schon lange nicht gesehen. Schon um halb 7 geht die Temperatur über 20 Grad. Wir fahren durch die freie Autobahn. Wir hatten uns so früh auf dem Weg gemacht, um den gewöhlichen Staub auszuweichen. Und das ist gelungen... Ich halte Joseph an der Hand und streiche ihn. Ich habe Angst, er könnte noch seine Meinung ändern. Obwohl ich das nicht zugestehen will, die Frage, ob der Mensch die Recht hat, ein lebendiges Wesen - dieses Wort gefällt mir wirklich nicht - zu bauen, erschien in meinem Kopf schon seit den gestrigen Abend. Der Gott schuf die Welt in 7 Tage, der Mensch lebt hier schon mehr als Million Jahre. Wir sollte fähig sein, um über unseren Schicksaal zu entscheiden!
Mit dieser Behauptung imâ Kopf kommen wir zum Krankenhaus. Joseph hat schon gestern Abend Herr Nowak angerufen, um ihn über 'unsere' Entscheidung zu informieren. Er erwartet uns schon. Ein Mann in einem hellblauen Mantel, der bei der Nebeneingangstür steht, könnte niemand anderer sein. Er nimmt uns in den zweiten Unterstock, wo es zu meiner Ãberraschung nicht nach der Desinfektion riecht. Allerwo waren die Computers und Ärzte in denselben blauen Manteln, der auch Herr Nowak trägt.
Ich halte Joseph fest, in dieser Umgebung fühle ich mich nicht wohl. Ich weiß aber ganz genau, was mir Joseph sagen würde, wenn ich ihm meine Sorgen anvertrauen würde. Es war eigentlich meine Entscheidung dieses Projekt beizutreten...
Herr Nowak führt uns in ein kleines Büro. Wir setzen uns zusammen an den Tisch.
'Ich bin wirklich froh, dass sie diese Entscheidung gemacht hatten,' sagt herr Nowak langsam und bindet seine Hände in ein Dach, dass es so ausgesehen ist, er hätte gebeten.
'Diese Methode ist doch 99% erfolgreich, Sie sollten wirklich keine Angst haben,' redet er monotonisch weiter, 'es ist sehr einfach, sie wählen zuerst alles, was das Kind betrifft, das heißt Geschecht, Alter, Körperkonstitution - viele Eltern möchten ein kleines Mädel mit blonden Haaren und blauen Augen cha cha - die Interessen, und eigentlich wirklich komplett alles, wie das Kind - wollen Sie Kind, oder - aussehen soll. Dann kommt die schwerste Etape für sie, da wir dem Kind die Erinnerungen geben, damit das Kind meint und glaubt, es hat mit ihnen das ganze Leben gelebt. Und dann ist schon alles fast fertig, mann muss nur warten, bis das Körper aufwächst. Irgendwelche Fragen?'
Wenn ich die Wahrheit sagen sollte, war ich von ihrer Rede total verwirrt. Zu Hause sieht alles so einfach aus. Bloß einkaufen gehen und mit einem Kind zurückkehren... Jetzt aber nicht mehr.
'99% erfolgreich?' fragt schließlich Joseph, 'Was ist mit dem letzen Prozent los?'
'Na ja, einmal ist es schon passiert, dass die Erinnerungen beim Prozess der Wachstum mit Erinnerungen von anderen Kindern, die in demselben Zimmer waren, eingemischt wurden. Das wurde aber schon gelöst, sie sollten wirklich keinen Angst haben.
'Wie viele Eltern hatten diese Methode schon versucht?'
' In unserem Krankenhaus... Na ja... Etwa neun hundert Paare.'
'Na los...'
In einer halben Stunde sitzen wir schon bei einem riesengroßen Bildschirm, auf dem ein Mädchenskörper zu sehen ist. Das war hochwahrscheinlich das einzige, was ich und Joseph streitlos entschieden hatten - wir wollen ein Mädchen. Herr Nowak zeigt uns den Prototyp - ein leeres Körper, der bald ein lebendiges Wesen sein soll. Mir war eingentlich ganz egal wie sie aussehen wird, wichtig war, es wird mein Mädchen sein, meine eigene Tochter. Und jetzt habe ich sie gesehen. Ein achtjähriges Mädchen mit braunen lockigen Haaren, braunen Augen und einem lachenden Gesicht. Schließlich habe ich Joseph umgearmt. Dann mussten wir die Interressen auswählen.
Es ist sehr schwer sich zu erinern, was weiter geschehen ist. Ich weiß nicht, ob es deswegen ist, ich war so ergreifend oder ob man mit unseren Erinnerngen gearbeitet hat, aber wenn wir das Krankenhaus verlassen hatten, fühlte ich mich wie Neugeborene, als gleich ein neues Leben angangen sollte. Neues Leben... Das passt schon. Das Leben meiner neuen Tochter. Es war fast Mittag, am Abend sollte ihrer Körper schon fertig sein. Wir hatten die Natur erobert. Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Diese Versen aus dem ersten Buch der Mose sind gleich in meinem Gehirn erschienen. Wenn das Joseph gehört hätte... Ich bin bloß stehen geblieben, habe die Augen geschlossen und die Sonnenstrahlen mein Gesicht wärmen lassen. Ich kann nicht sehen, dass Joseph auch anhaltet und zurück zur Krankenhaus guckt. Ich hatte keine Ahnung, dass er Sorgen macht, die er aber nicht zeigen will. Sorgen, dass das Schaffen von einem lebendigen Wesen nicht ohne eine Gottestrafe bleibt. Ich stehe mit geschlossenen Augen vor dem Krankenhaus, am liebsten würde ich nirgendwo fahren und einfach hier geblieben. Ich weiß nicht was ich ohne Joseph machen würde, er fasst mir am Hand und führt zu unserem Land Rover.
'Wir schaffen das,' sage ich ohne irgendwelche Einleitung und küsse ihn kurz.
'Doch, mein Liebling. Ich hätte nie gedacht, ich werde was solches teilnehmen. Gott steh bei uns.'
'Nö, Joseph, alles wird OK, glaub mir, ich fühle das.'
Er lacht kurz und öfftet mir die Tür von unseres Auto.
'Ich lade dir auf einen wunderbaren Mitttagessen ein, was sagst du dazu...?' sagt er und steigt selbst ein. In diesem Augenblick hatte ich keine Ahnung, was meine Entscheidung verursacht. Ich hatte das Gefühl, nichts könnte schlecht enden, alles ist super.
Zwei Stunden später waren wir wieder am Krankenhaus. Ich war so neugierig, dass ich ganz vergessen habe die Tür zu schließen und Joseph musste sich zurückkehren. Ich warte auf ihn bei der Eingangstür. Ich habe das Gefühl, als die Zeit gestoppt würde. Als ob alle Fluren kilometrlange wären, als ob sich alle Krankenschwester wie in einem verlangsamenen Film benehmen, alles dauert so lange, bevor wir endlich vor den Zimmer mit dem Kartenzutritt kommen. Nummer 143742. Das steht auf dem Schild auf der Tür. Meine Tochter ist ein Nummer?! Ich war aber zu unkonzentriert, um das richtig wahrnehmen. Fast im denselben Augenblick, als wir zum Zimmer kommen, ist von nirgenwoher Herr Nowak erscheint. Wir begrüßen uns herzlich, aber trotzdem so schnell wie möglich. Er öffnet uns die Tür. In dem Zimmer ist ein einziges Bett. Unter blauer Decke liegt ein Mädchen. Kein Computerprogramm kann zeigen, wie meine Tochter in der Wirklichkeit aussieht. Als ich neben ihrem Bett knie, fingt mein Herz an zu plärren. Die Glücksträne.
'Ich muss sagen, alles läuft problemlos,' konstatiert Herr Nowak, 'Haben Sie schon den Namen gewählt?'
Als ob er türkisch gesprochen hätte. Seit gestrigen Abend hatte ich alles geplant - ihr neues Zimmer, Kleidung, Schule, Versicherung, alles, was ich nötig finde. Aber den Namen? Wie konnte ich so was Wichtiges vergessen?
'Genes,' sagt langsam meinâ Mann. In demselben Augenblick liebe ich schon diesen Namen. Genes... Ich drehte mich zu ihrem Gesicht. Genes... Passt ganz genau zu ihr.
'Genes Goot,' schreibt Herr Nowak auf das Blatt, der neben dem Bett liegt, 'Sie ist schon fast fertig, der Körper ist schon komplett funktionsfähig, jetzt sind wir in der Phase, wann die Neuronalnetze gebaut sind und die Erinnerungen und Fähigkeiten eingegliedert sind.'
'Wann wächst sie auf?' frage ich ein bisschen undgeduldig.
'Sie ist heute Abend vorbereitet zu ihr zu gehen,' meldet Herr Nowak mit ämtlicher Stimme.
'Ich freue mich schon so viel...'
'Das sagen alle Eltern...'
'Sie mussten schon viele Mütter wie ich sehen, nicht wahr?'
'Zu uns kommen tausende Mütter mit Hoffnung, aber nicht alle nehmen an diesem Projekt teil. Einige meinen... Ehm... Es ist gegen die Natur die Kinder so zu 'produzieren'. Aber die Mutter, die das Kind von uns haben, sind ja fast immer glücklicher als früher'
Phillip wirft einen allessagenden Blick auf mich. Gegen die Natur. Das will er auch sagen.
'Es tut mir wirklich Leid, dass ich das sagen muss, aber sie müssen weggehen, Genes braucht jetzt vor allem Ruhe, damit sie ihre neuen Erinnerungen richtig gliedern kann. Andershin können wir das Prozess wirklich schwer behindern.'
'Und wann können wir für Genes kommen?'
'Abends... Um 18:00 kann sie schon mit ihnen gehen.'
'Wir sind Ihnen wirklich unglaublich dankbar!'
Ich öffne meine Augen. Das ganze Körper tut mir weg. Es ist nicht zu wundern, wenn ich annehme, ich hatte aus dem 7 Stock herausgefallen. Ich habe das Gefühl, mein ganzes Leben spielt sich vor meinen Augen. Ich bin ein normales Mädchen, das mit den Puppen gern spielt. Letztes Jahr war ich mit meine Mutti und Vati am Meer, das war die schönste Lebenszeit, die ich bis jetzt erlebt hatte. Ich freue mich schon nach Hause. Mein Name ist Genes Goot und ich bin 8 Jahre alt. Wirklich ein ganz normales Mädel. Hochwahrscheinlich nur ein bisschen ungeschickt, wenn mir so was passieren kann. Ich zwinkere ein paar mal mit den Augen. Wie spät ist es? Ich versuche aufzustehen, aber die Schläuchen, an denen ich angebunden bin, verhindern mir das zu machen. Ich liege ruhig. Weiter. Am Abend kommen meine Eltern, ich fahre nach 2 Monaten im Krankenhaus zurück nach Hause. Das ist ja prima, oder?
Auf einmal öffnet sich die Tür. Ich wende mich gleich um. Ein Mann in dem hellblauen Mantel ist gleich gekommen. Es ist merkwürdig, ich habe ihn hier noch nicht gesehen. Und ich habe wirklich viele Ärzte und Krankenschwester gesehen...
'Guten Tag,'â flüstere ich unsicher.
'Hallo, mein Kleines, wie geht es dir?' fragt der Arzt.
'Ziemlich gut. Wer sind Sie?'
'Ich heiße Mike Patterson, und ab jetzt werde ich dein Arzt sein.'
'Und wo ist Herr Nowak, der ist mein Arzt.'
'Nicht mehr, mein Kleines, nicht mehr. Komm mit mir, wir müssen noch einen Test machen.'
Einen Test? Ich soll in ein paar Stunden nach Hause fahren und ich muss noch irgendwelchen Test machen? Das hat doch keinen Sinn, die Ergebnisse kommen erst in ein paar Tagen und dann bin ich schon zu Hause... Aber der Arzt sollte wissen, was er tut, es ist sicher klug ihm aufs Wort zu gehorchen... Er schaltet mir endlich von den Geräten aus, ich kann mich selbständig bewegen. Langsam stehe ich auf. Ich weiß, dass es unlogisch klingen kann (ich bin doch 8 Jahre alt), aber ich fühle mich, als ob ich zum ersten mal auf meinen Beinen stehe. Der Arzt fasst mir an der Hand und wir verlassen das Zimmer. Die Flur ist voll von Ärzten, Eltern mit kleinen oder größeren Kindern, Menschen, die als Wissenschaflter aussehen und ich könnte noch weiter nennen (es wäre aber zu langweilig). Der Arzt führt mich zum Lift. Ich fühle alle Sichte, die sich auf mich konzentrieren. Ich halte die Hand des Arztes so fest wie möglich. Ich habe Angst. Ich weiß nicht warum, aber von allen diesen Menschen habe ich Panik. Als ob mir ein riesiger Stein vom Herz fallen würde, wenn die Lifttür hinter uns schon geschlossen sind.
Wir fahren nach unter. Unten?! Ich bin aber jetzt so erschreckt, dass ich nicht klar denken kann. Hier in dem Unterstock sieht es ganz anders aus. Keine Fluren, keine Eltern, nur Menschen an den Computern, die immer tippen und tippen. Ich zittere von Angst, ich möchte aber nicht, dass der Arzt das erkannt. Was würde er über mich meinen... Ein achtjähriges Mädchen und es hat eine grundlose Angst? Das geht nicht... Ich versuche zu lachen, aber ich schaffe das nicht. Ich bin wirklich froh, wenn wir wieder allein in einem großen Zimmer sind, wo so viele für mich unbekannte Geräte sind, dass es kein Sinn hat diese Geräte zu beschreiben. Wirklich allein. Ich setze mich auf einen Drehstuhl, während der Arzt was in den Schränken sucht. Er kehrt sich mit einer kleinen Spritze zurück. Ich sitze weiter ruhig und drehe mich auf dem Drehstuhl (das ist auch der Zweck von Drehstuhlen, nicht wahr?).
'Jetzt musst du wirklich brav sein, mein Kleines,' sagt der Arzt leise und fasst mein Arm. Ich sehe nur die Spritze, die immer näher und näher ist. Und dann erinnere mich auf nichts mehr.
Dienstag - Tag 2.
Ich öffne wieder meine Augen. Endlich zu Hause... Es ist Dienstag, oh nein... Die Schule.. Ehm.. Warte kurz... Es sind doch immer noch Sommerferien! Ich bin ein Irre, das ich das vergessen hatte? Meine Lehrer würden sicher wundern, wenn ich in die Schule komme. Frei... Heute habe ich den ganzen Tag frei. Prima, auf F1 spielt ein Märchen. F1 ist mein Lieblingssender. Ich springe in einem Augenblick aus das Bett. Wo ich gestern meine Kleidung liegen lassen habe? Na klar, aufgeräumt imâ Schrank. Zwei Minuten später habe ich schon den new age Rock und Bluse an. Ich gehe zum Fenster. Mein Zimmer ist wirklich hübsch, aber eine Sache fehlt hier. Das Spiegel. Auf der Glassscheibe sehe ich aber meine Spiegelung auch. Ja, es passt gut.
So ein wunderschönes Morgen. Unser Familienhaus liegt auf dem Lande, man muss mindestens 3 Kilometer gehen um das nächste Gebäude zu finden. Da, irgendwo in der Ferne liegt das Meer. Ich war dort noch nie... Schade... Aber ich bin immer noch zu klein um alles zu kennen. Jeweils fahre ich sicher mit meinen Eltern ans Meer... Meine Eltern...! In einen Augeblick sind meine Ideen auf das Meer verschwunden. Von unten (mein Zimmer ist imâ â Stock) kommt zu mir ein leckeres Duft von frischgebackten Baguetten. Ah... Ich hab so einen Hunger, als ob ich hundert Jahre nichst im Mund gehabt hätte. Ich trampele die Treppen hinunter.
'Guten Morgen, Mutti, guten Morgen, Vati...' begrüße ich mit einer gespielenen Höfflichkeit.
'Guten Morgen, Michaille,'â spielt meine Mutti mit.
Ja, Michaille Gibeau, das bin ich. Ich habe ihnen eigentlich noch nichts über mich erzählt, nicht wahr? So mein Name ist Michaille TËnèbreux und ich bin 8 Jahre alt. Ich bin ein ganz normales franzözisches Mädchen, die gern zwischen den Weinbergen läuft und mit denâ Puppen spielt. Wir leben in einem Haus in einem vergessenen Gebiet etwa 40 Km von Marseille entfernt. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich dieses Gebiet je verlassen hatte. Schon als ich ein Kind war, hatte ich meinen Eltern auf dem Weinberg geholfen. Es ist wunderschön, wenn man die Weinkugel sammeln und gleichzeitig essen kann. Aber ich rede zu viel, das Frühstück ist schon auf dem Tisch. Wir setzen uns zusammen an den Tisch.
Meine Eltern gucken auf mich, auf sich und wieder auf mich.
'Was ist los?' frage ich verständiglos.
'Nichts, gar nichts...' schüttelt die Mutti den Kopf, 'Hast du schön geschlafen?'
'Ja, Mutti.'
Vati und Mutti gucken auf mich, als ob sie mich noch nie bevor gesehen hatten. Ist etwas komisches auf mich? Habe ich vom Schlafen aufgestehene Haare?
Ich will nicht blöd aussehen, ich frage lieber auf nichts mehr, statt das setzte ich mich auf Muttis Schoß.
'Du bist mein kleines nettes Mädchen, Michaille,' sagt sie wieder mit einer ungewöhlichen Stimme.
'Mom, was ist passiert? â Du benehmst dich so...'
'Wie, meine Kleine?'
'Ich weiß nicht...'
Sie umarmet mich und drück mich wie ein Plüschbärchen zu sich.
'Mom, ich bin nicht klein!'
'Nein, sicher nicht, du bist unser kleines Freulein.'
'Mom...?!'
'Vergisst das, Michaille...' Und lacht breit. Endlich begreife ich alles. Das ist ihr Spiel... Ich habe mit Guten Morgen, Mutti anstatt gewöhlichen Hallo angefangen, dann kann ich mich gar nicht wundern, wenn jetzt Mutters Spiel läuft. Ich kann den ernsten Gesicht nicht halten und fange auch an zu lachen.
'Na komm, Prinzessin, wir helfen dann der Mutti das Geschirr abzuspülen,' sagt Vati und gibt mir eine Baguette mit einem rießengroßen Käseplatten.
'Danke, Königchen...'
Jetzt lachen wir schon alle drei.
Mein Vater muss leider jeden Morgen zur Arbeit gehen. Er ist ein Labortechniker oder so was. Immer, wenn ich ihn bitte um mir etwas über sein Job zu erzählen, antwortet er, ich bin noch zu klein um das zu verstehen. Na klar, ich bin zu klein...
Zum Glück, meine Mutter arbeitet nicht. Eigentlich weiß ich nicht, ob ich zum Glück sagen kann, aber ich bin sowie so froh, dass sie mit mir ist und ich den ganzen Tag nicht allein bin. Es ist aber seltsam, dass der Vater heute zu Hause geblieben ist.
Nach dem Frühstück machen wir zusammen einen Spaziergang zwischen den Weinbergen. Wir spielen Fangen zwischen den Weinpflanzen, als wir endlich nach etwa einer Stunde ganz erschöpft auf einem Gipfel bei einer Kapelle in das Grass fallen und nur schwer atmen. Der Boden ist kalt, aber die Vormittagssonne wirft gemütliche Strahlen an uns.
Wir legen nebeneinander, Vati, Mutti, und ich zwischen ihnen. Auf einmal stehe ich auf.
'Mom...' wende ich mich zur Mutti, 'Dad...' wende ich mich zur Vati, 'Ich liebe sie!'
'Wir lieben dich auch.'
Es passiert wie ein Blitz vom hellen Himmel. In einem Augenblick lache ich zusammen mit meinen Eltern, in den anderen hatte ich dunkel vor meinen Augen. Ich war in einer unbekannten Wohnung, irgendwo oben, über der Stadt. Stadt... Aber was für ein Stadt. Alles ist kalt, in die Nebel getaucht, das sieht gar nicht wie meine geliebte Frankreich aus. Wie ein Schlange windet sich der Fluss durch diese Metropole, die Häuser sind allerwo, wohin wir nur schauen. Unter mir, da bei dem Fluss, steigt aus dem Nebel ein Riesenrad aus, hinter dem zwei Pfeiler eine uralte Brücke verstecken. Immer, wenn sich ein Schiff zur Brücke nähert, hebt sich die Brücke und die Schiffe können durchfahren. Ich war hier nie, damit bin ich mich ganz sicher, und trotzdem habe ich das Gefühl, diese Stadt sei bekannt. Bekannt... Von Bildern? Von Fernsehen? Keine Ahnung.
Und dann bin ich wieder zurück. Zurück auf den sonnigen Berghängen, wo alles mit dem starken Duft von Rosmarin gedeckt ist. Ich schaue ein paar Sekunden zum Himmel, die gar nicht so grau(sam) wie im Traum ist, auf den Himmel, wo klarweiße Wolken fliegen. Ich stehe vom kalten Boden auf und setze mich.
'Schön geschlafen?' höre ich Muttis Stimme hinter mir, 'Nie Nacht war zu kurz, oder?'
'Was? Wie bitte?'
Mutti lacht nur breit und fasst mich um den Schultern. Ich blicke abwesend in die Ferne.
'Schlechtes Traum?'
'Ich weiß nicht,'zuckte ich mit den Schultern, 'Es war nicht schlecht...'
'Worüber hattest du geträumt?'
'Ich... Ich war in einer Stadt. In einen unbekannten Stadt... Ich meine, ich musste es schon auf irgendwelchen Bild sehen. Dort war ein rießengroßes Rad bei dem Fluss und eine Brücke, die sich heben kann, damit die Schiffe durchfahren können. Nicht so kleine Schiffe, die Sainte-Marie-sur-Mer, sondern wirklich große Schiffe.'
Ich entdecke, ich erinnere mich an alle Detailen von diesem Traum. Die Träume merkt man nicht so pünktlich, oder?
Mutti und Vati wechseln sich einen kurzen Blick.
'Michaille, fühlst du dich wohl?' fragt Vati befürchtend.
'Ja, ich habe mich nie besser gefühlt,' antworte ich verständisslos.
'Es ist hochwahrscheinlich von der Hitze, wir sollen lieber nach Hause gehen...'
'Ich möchte aber nicht nach Hause... Mir gefällt es hier, zwischen den Weinbergen, du weißt das doch...'
'Ich habe was gesagt. Wir gehen jetzt nach Hause. Und keine Widerrede mehr. Hast du schon eine Brücke gesehen, die sich aufheben kann?'
Es ist von der Hitze... Das kann er doch nicht ernst meinen!!! Ich bin sicher, dass die Stadt existiert, irgendwo in meinem Gedächtniss. Ich muss erfinden, was für eine Stadt das ist! Aber der Vati darf darüber nicht wissen.
Trotzköpfig gehe ich fern vor meinen Eltern. Wievielmal habe ich das schon gemacht... Immer, wenn mir etwas nicht gefallen hatte, wollte ich mit meinen Eltern nichts zusammen haben.
Als ich mit einer zweiminutigen Vorsprung vor meinen Eltern zu unserem Haus gekommen bin, kriege ich den Efeuraster hinauf bis zu meinem Zimmer. Ich weiß schon, wie die Fenster in meinem Zimmer, auch wenn sie geschlossen sind, öffnen. Das Internet... Dort finde ich sicher die Stelle, die ich kennenlernen will. Ich schalte mein Computer ein. Aus dem Fenster sehe ich meine Eltern, wie sie langsam den Weg zum unserem Haus gehen. Ganz ruhig, ohne Eile, sprechen sie miteinander. Ich bin aber schon auf dem Internet. www.google.fr. Aber was soll ich suchen? Eine Brücke? In der Welt sind Millionen Brücken. Ein Rießenrad? Was für ein Rießenrad... Ich lege meine Finger auf die Tastatur und ohne Nachdenken schreibe ich Brücke, Stadt, Rad. Auf dem Bildschirm erscheinen gleich Hängebrücken, ein Vergnügungspark in Lyon, aber keine Stadt im Nebel. Ich schreibe weitere und weitere Wörter, aber keine Brücke sieht wie in meinem Traum, keine Stadt hat so einen Schlangenfluss, nichts. Aber diese Stadt muss doch existeren. Ich weiß das.â Ich kann nicht logisch erklären, wie ich so sicher sein kann, es ist aber bloß so. Es war schon zehn Uhr, als mir die Augen schon so weh tun, dass ich nicht mehr auf den blinkenden Bildschirm gucken kann und den Computer ausschalten muss. Trotzdem sitzte ich noch ein paar Minuten auf meinem Rollstuhl und denke nach. Langsam bin ich mit meinem Vater einverstanden. So eine Stadt existiert nicht. Ich stehe auf und gähne. Am liebsten würde ich ins Bett fallen und wieder einschlafen. Das geht aber gar nicht, es ist schon fast Mittag... Na ja...
Langsam, ein bisschen geschlagen, gehe ich nach unten. Vati ist dort nicht mehr, er ist hochwahrscheinlich auf den Weinberg gegangen um zu arbeiten. Es tut mir Leid, niemand hatte mir das gesagt, ich werde sicher auch gehen. Und wo ist meine Mutti? Ziellos bummele ich durch das Erdgeschoss herum.
'Hallo...' höre ich Muttis Stimme aus der Küche. Was soll ich machen? Ohne nachzudenken lenke ich meine Schritte in die Küche. Mutti steht am Küchenschrank und schneidet die Tomaten. Ich rieche den Duft von gekochten Gemahlfleich. In einer Weile lache ich breit. Lasagne... Die liebe ich!
'Hilfst du mir?' fragt Mutti und streckt ein Rührlöffel zu mir aus.
'Nö, ich sehe lieber Fern, dort ist Donald Duck,' versuche ich mich herauszudrehen.
'Du Faulenzcher...' guckt Mutti in meinen Augen, 'Du lasst deine Mom hier allein?'
Ich bleibe betroffen stehen. Sie kocht doch am liebsten allein, oder? Ich helfe ihr oft beim Kochen, aber es dauert immer zweimal länger, als wenn sie selbt das Mahl vorbereite. Dann lacht aber Mutter schon herzlich.
'Das war nur Spaß,' erklärt sie und streichelt mich an den Haaren. Nur ein Spaß... Diese Wörter klingen noch lange danach in meinen Ohren, als ich ruhig beim Fernsehen sitze und Cartoons schaue. Ich denke vielleicht nur zu viel... Nach ein paar Minuten macht mir aber der Fernseher kein Spaß mehr. Nach draußen... Ich möchte nach draußen gehen, auf die frischen Luft. Die Märchen auszuschalten ist aber gar nicht so einfach, wie es aussehen kann. Draußen, vor dem Haus, ist aber so prima... Ich lasse den frischen Wind mit meinen Haaren spielen und mit den zugekneifenden Augen beobachte ich die Sonne. Ich stehe dort nur im hellblauenâ T-Shirt aber trotzdem ist mir nicht kalt. Es ist doch mitte Sommer... Die Augen schließen mir aber selbst. Zwischen den Heidekraut schläft man herrlich. Nur ein kurzer Augenblick höre ich die Wiesepferde zirpen, aber dann vertaucht alles wieder in den Nebel. Es ist seltsam. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es möglich ist, denselben Traum zweimal zu haben. Ich bin wieder in der nebeligen Stadt irgedwo und nirgenwo. Ich sehe Züge, die unter der Erde fahren, ich sehe zweistockige rote Büssen, ich bin in diesem Augenblick wie Alice im Wunderreich. Einerseits hasse ich diese grausame dunkle Welt, andererseits fühle ich etwas mutterliches, etwas, was mir mit dieser Traumwelt bindet. Und wieder die selstame Brücke und Riesenrad am Flussufer...
Erschreckend wache ich auf. Wieder geschlafen und wieder der unerklärte Traum. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich so eine Träume je bevor gehabt hatte. Als ob mein Leben vor ein paar Stunden voll geändert wäre, als ob mein Leben erst voll angefangen hat. Ich lebe doch 8 Jahren, an was für Unsinne denke ich! Ich strecke mich und lege wieder auf den Rücken. Der Azurhimmel deckt mich wie ein Schild. Azur... So schön azur, kein Nebel...
'Stopp, du musst aufhören darüber nachzudenken, Michaille, oder willst du sich davon verirren?' spreche ich mit selbst und selbst antworte ich auch:â 'Doch nicht, aber was für Traume habe ich?'
Es musste kommischt aussehen, wenn ein kleines Mädel auf der Wiese spricht aber niemand anderer ist zu sehen. Ich spiele mit den Heidekrautblätter und singe leise ein Liedchen.
Wenn die Sonne zwischen Bergen schläft
wenn Hänsel und Grete zu Hause sind,
dann nehme ich dir in die Welt
wo alle deine Wünsche erfüllen sind.
In die schöne Zauberwelt,
der nur deiner ist,
mit den kleinen Träumen
wo dein Auge ist.
Deine Mutti sing das Lied,
so schläft mein...
Ganz unerwartend deckt jemand meine Augen zu. Ich höre gleich auf zu singen und fasse große Hände, die mir verhindern die Sonne zu sehen.
'Wer ist das?' fragt eine bekannte Stimme.
'Hallo, Dad...' flüsterte ich lachend und hebe seine Hände auf. In dem Sonnenschein sehe ich seinen kleinen Augen. Er legt mir ein Heidekrautzweiglein auf der Nase und setzt sich neben mich.
'Dieses Lied haben wir dir gesungen, als du noch klein warst,' sagt Vati, 'Erinnerst du dich daran?'
'Nö...'
Ich höre mit angehaltenem Atem Vatis Erzählung zu. Ich sei ein sehr lebhaftes Kind gewesensein, ich glaube nicht, dass ich solche Lämpereien gemacht hatte. Wenn Sie jemals mit Ihren Eltern sprechen, müssen Sie wissen, worüber ich rede.
Die Zeit läuft aber zu schnell, wenn man gsichlücklich fühlt. Bevor das zu bemerken, es ist der Mittag. Die Speise ist schon auf dem Tisch. Wir sitzen zusammen auf der Außerterasse. Salat mit Senf als Vorspeise und Lasagne - obwohl das nicht tÿpisch franzözisch ist, schmeck so appetitilich. Und trotzdem hängt die ungeantwortete Frage in der Luft. Es ist nichsts mehr als meine Interesse zu wissen, wo ist die Brücke... Wir reden nur sehr wenig - was bei uns Franzosen auch gar nicht gewöhnlich ist. Ich mag die Lasagne, aber heute bohre ich nur darin.
'Was ist, Michaille...?' fragt Mutti mit Sorgen.
'Nichts...' schüttele ich den Kopf, 'eigentlich nur... Warum wollt ihr mir nicht sagen, wo die Brücke ist?'
Plötzlich herrscht auf der Terasse nur Stille. Mutti und Vati gucken aufeinander, niemand antwortet mich aber.
'Mom, Dad, was ist schlecht auf einer Brücke?'
'Meine Kleine, du bist noch zu klein, um das zu wissen...'
'Klein? Na gut...'
Ich stehe auf einmal auf und marschiere beledigt in das Haus. Zwischen den Steinmauern ist es kalt, aber es macht mir nichst. Bücherschrank... Vielleicht finde ich in einem Buch das Bild von der merkwürdigen Brücke... Ich weiß nicht, was mir auf dieser Brücke anzieht. Eigentlich hasse ich, wenn ich etwas nicht weiß. Als ich klein war, hat mir die Mutti gesagt, ich werde sicher ein Detektiv sein. Das würde ich jetzt wirklich gern sein. Ich halte an vor dem Bücherschrank zu stehen und schweife über hunderte Bücher, die meine Eltern hier haben. Wo soll ich suchen? So viele Bücher... Es wäre einfacher eine Nadel in Heukuppe zu finden als ein Bild irgendwo in diesen Büchern.
'Was tust du hier?' Vati steht schon hinter meinen Rücken.
'Ich suche die Brücke...' erkläre ich trotzköpfig.
'Geh zum Teufel mit deiner Brücke, die existiert nicht!' explodiert er plötzlich.
'Dad?!'
Er setzt mich zurück und nimmt aus dem Schrank fünf große Bücher weg.
'Einige Bücher sind nicht für kleine Kinder,' sagt Vati kompromisslos.
'Dad...'
'Später begreifst du das...' lacht er versöhnlicher, 'Aber jetzt bist du noch klein...'
In diesem kurzen Augenblick, als er nur ein paar Zentimeter von mir steht, schaffe ich die Namen der Bücher zu lesen. Länder der Welt, Englische grammatik, Die Stadt der Doubledeckers, Gentechnologien der neuen Welt, Kinder für alle. Was haben diese Bücher zusammen?
'Und bitte, suche danach nicht mehr...' abschließt der Vati unser Gespräch und mit Bücher in den Ärmen kehrt er in die Küche zurück. Ich bleibe in dem Wohnzimmer allein - allein, nur mit den Büchern. Zwischen diesen Büchern finde ich aber nichts, was ich brachen könnte, das ist in den fünf Büchern, die der Vater weggenommen hat.
Traurig falle ich in einen Sessel. Das ist doch nicht fair. Hat man doch nicht in der Schule gelernt, dass der Mensch Recht auf die Informationen hat? Es tut mir so Leid, dass ich wegen einer blöden Brücke mit meinem Vater gestritten habe. Jemand legt sein Hand auf meine Schulter. Ich drehe mich um. Mutti kniet besonnen neben meinem Sessel.
'Vati hat Recht...' sagt sie ruhig, 'Du bist ja ein bisschen klein um das Wissen von den Büchern wahrnehmen zu können.'
Sie sagt das beinahe entschuldigend. Ich bin nicht fähig ein einziges Wort auszusprechen. In dem Kopf habe ich so einen Mischmasch, so viele Ereignisse auf einmal. Ich kuschele auf Muttis Schoß, wie ein Katzenjunge bei der Katze.
Die Nulllaune bleibt mir bis zum späten Nachmittag. Ich verbringe Stunden beim Fernsehen. Die Reise um die Welt in 80 Tagen, Tin Tin, Asterix und Obelix... Ich weiß nicht, was alles ich gesehen habe, beim Abendessen tun mir aber meine Augen sehr viel weh. Meine Eltern schweigen, als ob ich etwas Unentschuldigbares getan hätte. Mutti versucht mich ein bisschen aufzumutern, aber ich habe bloß keine Lust mit ihr Petanque zu spielen. Wenn ich spät in der Nacht in meinem bequemen Bettchen auf den Rücken lege und durch einâ Dachfenster die Sterne beobachte, zitterte mir der ganze Körper. Was ist passiert? Noch gestern hatte ich hundertprozentig gemeint, dass keine Sache mich außer Fassung entführen kann.
Die Sterne sind so weit entfernt... Lebt jemand da? Vielleicht guckt in diesem Augenblick jemand von einer diesen Sternen und stellt sich dieselbe Frage wie ich. Ich fühle mich allein. Als ob ich in diese Welt nicht passe. Was für einâ Unsinn... Ich muss mir selbst lachen, was für Gedanken ich habe. Ein funkelnder Stern fliegt den Himmel über. Ich sollte etwas wünschen...
Irgendwo im Dunkel erschient eine weibliche Gestalt. Sie schwebt in der Luft und mit den Trauriges weißes Gesicht, lange Haare, weinerliche Auge...
'Gute Nacht, Genes,' fliegt eine bekannte Stimme durch die Nacht. Genes? Wer ist Genes? Mit blinzenen Augen suche ich die Dunkelheit durch. Als ob die Gestalt nur ein Geistspenst wäre... Genes... Dieser Name... Wo habe ich das schon gehört? Ich muss wissen, was in den Büchern war, die der Vati weggebracht hatte.
Ich stehe auf und nur im Pyjama gehe ich auf den Fußspitzen nach unten. Das Haus tauch in der Dunkelheit. Mit den Händer vor mir gehe ich die Treppe hinunter. Ich sehe fast nicht. Wo könnte der Vati die Bücher verstecken? Nur blasse Strahlen der Mond beleuchten schwach die Zimmer. Ich habe Angst das Licht anzubrennen. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie der Vati böse würde, als ich über meine Träume erzählt hatte.
Das Wissen versteckt in den Büchern ist nicht für so ein kleines Mädchen... Was gefährliches können die Bücher verstecken? Als ich klein war hatte mir die Mutti so viele Bücher vor dem Schlafen gelesen... Und jetzt sind die Bücher gefährlich?!
Wo man ein Buch vor einem vorwitzigem Kind verstecken kann? Auf das Dach? Unter einen Kissen?â In den Gartem vergraben? Ich stehe hoffnungslos in der Küche. Es ist mir ein bisschen kalt. Wie spät is es eigentlich? Die Uhr an der Wand ticken regelmäßige, aber der Zifferblatt sehe ich nicht. Mit angehaltenem Atem trappele ich in Elterns Schlafzimmer. Schitt für Schritt nähere ich mich zu ihrem Bett. Was würde geschehen, wenn ich sie aufwachen würde?â Mutti and Vati schlafen aber ruhig weiter, obwohl ich nur ein paar Meter von ihr stehe. Am liebsten würde ich zu meinen Eltern in das Bett hineinkriechen, unter ihren Flügel. Anderseits habe ich von diesen Personen Angst. Umsichtig suche ich die Schränke durch. Das Buch ist aber nirgendwo. Unter dem Bett? Ich sinke in die Knie. Vati atmet häftig aus und wälzt auf den anderen Bock um. Ich traue weder mich zu bewegen noch zu atmen. Vati schläft zum Glück weiter.
Ich habe keine Mut mehr in Elterns Schlafzimmer zu suchen. Bad, Küche, Toilette, Flur, das Buch ist nirgendwo zu finden. Ich bin so schläfig...
Müde falle ich auf das Sofa im Wohnzimmer. Plötzlich erscheint vor meinen Augen ein Buch. Diderot. Eine Enzyklopädie. Alle meine Müdigkeit ist auf einmals weg. Ich springe aus und nehme den ersten Teil. Blatt für Blatt suche ich mit der Hoffnug, gerade auf der nächsten Seite meine Stadt zu finden.
Hier ist das! Ich habe das wirklich gefunden!!! Wortlos gucke ich auf die graubraune Brücke. London, England. England? Ich war nie außer Frankreich... Und trotzdem, wenn ich das Bild sehe, habe ich das Gefühl, diese Brücke ist für mich bekannter als alle wunderschöne Heidekrautwiesen, zwischen den ich schon 8 Jahre lebe. Ich schließe das Buch und räume es zurück in den Bücherschrank. London... Mutti hat Recht, jetzt fühle mich noch desorientierter als je bevor. Diese Bücher sind doch noch nicht für mich... Ich bin zu klein...
Langsam kehre ich in mein Zimmer zurück. Wenn ich in mein Bett falle, bin ich auf mich selbst ärgerlich, ich hatte meine Eltern nicht gehört. Anstatt ruhig in meinen Bett zu schlafen suche ich irgendwelche Brücke... Na gut, ich verbessere das nicht mehr daran, bestens wäre jetzt wirklich einschlafen und alles vergessen. Eine Brücke in London... Hochwahrscheinlich habe ich sie im Fernsehen kennengelernt... Ich murmele unter die Decke. Ich bin wirklich blöd...
Stille Schritte auf der Treppe. Ich öffne wieder meine Augen. Vati... Er steht über mein Bett, mit dem Finger auf dem Mund.
'Psss...' flüstert er und lacht. Weiß er, dass ich gegen seinen Wille in den Büchern gesucht hatte? Von Vatis Gesicht habe ich Angst. Der Gänsehaut läuft mir über denâ Rücken, als Vati sein Pyjamas-Hemd auszieht.
'Du bist mein braves Mädel, Michaille,' wispert er.
'Dad?'
'Möchtest du nicht deine Nachtbluse ausziehen? Michaille...'
'Dad... Du hast wieder getrunken?'
'Ich? Michaille... Ich liebe dich...'
'Dad...'
Ich habe schlechtes Gefühl davon. Vati legt sich auf mein kleines Bettchen mit Fingerspitzen streicht er mir auf der Brust. Allmählig zieht er mir die Nachthemd aus, ich fühle seine Finger auf solchen Plätzen, dass... Ich springe aus dem Bett aus.
'Michaille, was tust du denn...' sagt er mit schmeichlerischer Stimme.
'Ich?' glaube ich nicht meinen Ohren.
'Komm zu mir...'
'Nein...' flüsttere ich unsicher.
'Komm zu mir...'â wiederholt Vati.
'Nein... Ich kann nicht...'
'K-o-m-m z-u m-i-r!'
'Vati, du hast getrunken!!!'
'Ich habe gesagt, komm zu mir!'
Ängslich weiche ich zur Wand zurück. Was ist den los?
'Komm zu mir, du...'â Vater schreit fast.
'Nein, Dad...'
Er spring auf und und mit zwei Schritten ist er bei mir. Ich kann nirgendwo mehr abbiegen.
'Du wirst machen, was ich sage! Du bist meine Tochter!!!' schreit er, 'Ich habe dich gekauft und du wirst machen, was ich sage.'
Von Angst kann ich gar nicht sprechen, ich zittere nur mit dem ganzen Körper. Vati fasst mir fest und drückt zu sich. Ich versuche mich zu befreien, aber erfolglos. Nein... Ich kann gar nicht beschreiben, was mir Vati macht, mein Wörterwissen schafft das nicht. Ich stürzte auf dem Boden ein um mich zu schützen.
'Du kleine Kuh... Steh auf! Steh gleich auf...'
Ich verstehe gar nicht, warum sich der Vater so benihmt, wie ein kleines Kind plärre ich bei seinen Fussen.
'Steh auf! Du wirst machen, was ich sage! Plärre nicht. Du bist nichts, nur ein Konzumprodukt! Wenn ich dich nicht brauche, werfe ich dir weg und besorge ein braveres Mädel. So höre mir zu! Wenn du jetzt nicht aufstehts, kannst du gehen, wohin du willst! Aber in diesem Haus bleibst du nicht!'
'Vati...'
'So?'
Ich fühle, wie mir alle meine Kräfte verlieren. Ich höre auf den Widerstand zu legen. Er nimmt mich in die Arme und holt wieder zum Bett. Es schmerzt furchtbar, als er das getan hatte, ich traue aber nicht einen einzigen Laut zu sagen. Alle meine Träume, alle meine Erinnerungen, die ich ans Vater hatte, alles stürzt. Ich fühle unrein und habe Angst das jemanden zu sagen. Und das wiederholt sich 2 Wochen. Dann bin ich aus dem Fenster hereingesprungen...
'N... Nein, ich kann nicht..'
'Weg! Weg!!! Geh zum Teufel!!!'
'Dad, bitte...'
Er fasst ergreift mich an die Haare und zwingt aufzustehen. Für eine kurze Weile stehen wir gegenübereinander wie Statuen. Es muss doch nur ein schlechtes Traum sein. So viele Jahre zusammen und plötzlich etwas solches. Mein eigener Vati...
'Geh zum Teufel...' preßt er zwischen den Zähnen, 'Und kehrt nie mehr zurück!!!'
Ich versuche zu mein Bett zu gehen um mindestens mein Teddy mitzunehmen, mein Vati steht mir aber in dem Weg.
'Nur mein Teddy...'â plärre ich und strecke meine Hände hin.
'Nichts. Der bleibt hier für's nächste Mädel... Geh mir aus den Augen!'
Für's nächste Mädel? Nächste...?! Nur ein Albtraum, es ist nur ein Albtraum! Ich versuche meinen Vati umzuarmen, er setzt mir aber zurück.
'Du kleine...' sagt er noch.
'Vati...' bitte ich voll von Angst.
'Verschwinde! Geh' wo du gemacht wurdest! Ich habe gesagt, GEHE!' schreit er und sein Gesicht ist rot wie ein glühender Ofen.
'GEHE!!!â GEHE!!! Verschwinde mir aus den Augen!'
Ich wende mich und laufe. Laufe... Die Treppen hinunter, durch die Flur nach draußen, nur in den Pantofeln und im Schlafanzug. Ich höre noch lange Vaters Stimme in meine Ohren. Ich halte vor unserem Haus an. Es ist dunkel, traurig, lebenslos. Du bist nichts, nur ein Konzumprodukt! Wenn ich dich nicht brauche, werfe ich dir weg und besorge ein braveres Mädel. Ich verstehe gar nichts. Acht jahre glücklich mit meinem Eltern leben und jetzt werfen sie mich aus? Oma... Oma hilft mir sicher. Sie wohnt nur 4 oder 5 Kilometr von unserem Haus. Sie sagt meinem Vati, er sölle mir zurücknehmen... Mein Herz schlagt wie verrückt. Gedankenlos knie ich auf den Boden - mit gebundenen Händen. Mit klarer leisen Stimme sage ich die beruhigenden Wörter her. Ich brauche Beruhigung...
Vater Unser im Himmel,
Geheiligt werde dein name,
Dein Reich komme,
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben
unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
Sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen
'Geh weg von meinem Haus! GEH WEG!!!'
Nur unklar sehe ich Vaters Gestalt. Er steht auf der Schwelle mit gebogenen Ärmen und lacht. Aber was für ein Lachen ist das... Lautes, gestelztes, gräßliches... Wie von Blitz getroffen springe ich auf und laufe, laufe, laufe... Laufe zur Mond... Da, hinter dem Berg, dort lebt meine Oma und Opa.
Es ist kalt. Ich habe nur einen dünnen Schlafanzug, nichts, worin ich mich einmummmeln könnte um mich mindestens ein bisschen zu erwärmen. Ich laufe weiter. In der Mitte der Nacht laufe ich über Heidekrautwiesen und zittere von Kälte. Ãberdies bin ich nicht sicher, ob ich wirklich in Omas Richtung laufe. Ich halte das nicht mehr aus, falle auf den weichen Heidekraut und plärre wie ein kleines Kind. Ich bin doch ein kleines Kind.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort lege. Eine Stunde, zwei... Keine Ahnung. Total erfroren liege ich bloß unter den freien Himmel und weine. Niemand ist hier, der mir in den Armen nimmt und tröstet. Stille... Tote Stille... Ich habe keine Kraft mehr weiterzulaufen. Es bleibt nur zu sterben. Ich schließe die Augen.
Mittwoch - Tag 3
'Genes, steh auf, meine Kleine...'
Ich bin gleich aufgewacht. Mit geklebten Augen gucke ich nach vorne. Eine Frau beugt zu mir. Mutti... Flüstere ich, obwohl ich sicher bin, sie ist nicht meine Mutter.
'Steh auf, Genes, du kannst hier nicht liegen...' Mit steifen Händen versuche ich diese Frau zu berühren. Sie verscheindet sich aber plötzlich wie ein Geistspenst.
Der Morgen graut. Der Himmel ist heller und heller. Mein Schlafanzug ist nass von der Tau. Ich schaue um mich herum, aber die Frau ist spurlos verschwunden. Schwer stehe ich auf. Ich kann fast bewegen, mein kleines Körper ist vom Kälte paralysiert. Die ersten Morgenstrahle erwachen mich zurück ins Leben. Mit aller Mühe geling es mir schließlich von dem Boden aufzustehen. Der nasse Schlafanzug klebt mir auf den Körper. In der Ferne zwitschern die erste Morgensvögel. Es war kein Albtraum, es ist bittere Realität. Mutti... Vati... Ich will schreien, ich will sie rufen... Ich bin aber allein und muss weitergehen. Das ist die einzige Möglichkeit, die ich habe, um zu überleben.
Ich streife in den Wienbergen, den richtigen Weg habe ich schon vor vielen Stunden verliert. Und schließlich bin ich da. Ich stehe zwischen den Felsen bei einen rießengroßen Weinberg und unter mir befindet sich das Haus. Das Haus meiner Oma. Ich habe das geschaffen. Am liebsten würde ich vom Glück in die Luft springen, aber ich habe zu wenige Kräfte. Langsam steige ich nieder. Als ob auch die Sonne plötzlich mehr scheint. Ein kleines gemütliches Haus. Obwohl ich so müde bin, die letzen Meter laufe ich, um nur so bald in Mutters Schoß sitzen zu können.
Die Tür sind geschlossen. Sie sind nicht zu Hause?â Alle meine Hoffnungen verlieren wie Dunst über dem Topf. Sie müssen doch zu Hause sein. Ich klinge und klopfe, rufe und weine. Und dann öffnen sich wirklich die Tür. Genau die Oma, die in meinen Gedächtniss habe, die steht vor mir. Ich falle ihr fast in die Arme, als...
'Hey...â Wer bist du? Was machst du hier...' fragt meine Oma. Diese Worte schlagen mich zum Boden.
'Omi? Du erkennst mir nicht? Michaille TËnèbreux ... Deine Enkelin...' sage ich sehr still. Ich habe wirklich fast keine Kräfte mehr...
'Enkelin? Bist du aus der Kirsche hinuntergefallen? Meine Tochter hat keine Kinder...'
'Aber Oma, du hast mir als ich klein war so viele Märchen erzählt, wir sind bei der Kappele da über unserem Haus gesessen und du hast mir erzählt, wie es ausgesehen hat, als du klein warst. Erinnerst du nicht?'
'Ich habe keine Ahnung, wer du bist...'
'Aber du bist meine Oma...'
'Du musst mich mit jemanden verwirren... Aber du bist wie ein Eiszapfer. Na ja, nur im Pantofeln und dieser dünnen Kleidung draußen sein... Komm, ich gebe dir ein warmes Frühstück und dann kehrst du nach Hause. Deine Eltern haben schon sicher Angst.'
Ich bleibe Wortlos stehe, aber die Frau, die ich als meine Oma in meinen Erinnerungen hatte, fasst mich ums Hand und führt mich in die Küche. Allerwo ist so warm... Langsam schmelze ich aber erst wenn ich eine Tasse warmen Chockolade in der Händen hat, fühle ich meine Finger. Aber das macht mir nichts aus. Warum erinnert meine Oma nicht an mich? Wer bin ich? Bin ich wirklich Michaille? Ich habe das Gefühl, als ob meine Seele nur einâ Theater wäre, wo unlogische Bilde erscheinen, aber ich bin das nicht. Wer bin ich? Ich erinnere mich sehr gut auf meine Oma, aber was würde das heißen, wenn diese alte Dame auch die Wahrheit sagte. Was würde das heißen, wenn sie mich wirklich nicht kennt? Welchen Erinnerungen kann ich (oder darf ich) glauben?â Ich trinke die warme Chockolade langsam ab. Erstaunliche Wärme ausbreitet sich in jeder meine Zellen. Meine Oma wirft ein Mantel über mir um. Ich mummele gleich ein.
'Und jetzt sagt mir deinen Namen,' sagt die... Oma...
'Ich habe das schon gesagt. Michaille TËnèbreux.'
'Die TËnèbreuxs haben keine Kinder... Wo wohnst du?'
'Du weiss das, Omi, hinter diesem Berg...'
'Sag mir keine Blödsinne.'
'So ist es aber...'
'Wenn du mir die Wahrheit sagen würdest, kannst du hier bleiben. Andershin...'
'Ich sage aber die Wahrheit!' rufe ich machtlos.
'Du kannst dich entscheiden.'
Ich denke über alle Möglichkeiten, die ich jetzt habe.
Wenn ich in die Wärme bleiben will, das Lügen scheint als die einzige Möglichkeit, die ich habe.
'Ich... Ich bin hier nur... auf den Ferein,' fabele ich, 'Ich bin Michaille Goot und wohne in London...'
Was für ein Unsinn habe ich gesagt! Ein englisches Mädchen und spricht so gut französisch? Das kann doch niemand glauben! Die Dame lächelt aber plötzlich.
'Sieh, es schmerzt nicht, oder?' Und holt mir wunderbare Küchleine. Erst in diesem Augenblick erfinde ich, wie groß mein Hunger ist. Die Schüssel verliert in mir in ein paar Minuten.
'Du hattest ja einen richtigen Hunger...' lacht weiter die Frau, 'Warte, ich hole noch irgendwelche Süssigkeiten...'
Sie geht irgenwohin, wo ich nicht sehe. Der Taps von Telefonhörer und ihre Stimme höre ich aber gut.
'Das ist die Polizei? Ich habe hier ein Mädchen, die sagt, sie heißt Michaille Goot. Ich hab' s das Gefühl, sie ist aus dem Heim entgelaufen. Frühlingsberg 18. Ich warte auf sie.'
Mehr höre ich nicht. Ich springe wie eine Eidechse vom Tisch und laufe nach draußen. Polizei... Das fehlt mir noch... Weglaufen... Das ist die einzige Lösung...
Die Sonne hat schon die Trau abgetrocknet, als ich mich zwischen alten Weinpflanzen verstecke und atme heftig. Wer bin ich? Acht jahre meines Lebens verwirren sich in eine unklare Wirrniss. Wer bin ich und wohin gehöre ich? Mit diesen Fragen arbeitet mein Gehirn, aber ich muss sagen, dass er nicht weiß, was damit. Wo soll ich aber jetzt gehen? Nach Hause?â Dort darf ich nicht... Ich setze mich auf einen kleinen Stein und denke nach. Ich fühle mich wie eine Schnecke, die sein Gehäuse verloren hat. Ohne Geld und ohne Zuhause bleibe ich in der Welt. Und ohne Liebe... Die Hoffnug stirbt als das Letzte. Ich habe aber das Gefühl, dass sie schon gestorben ist. Wohin soll ich gehen?
Ich versuche nach Hause zurückkehren. Wo ich andershin soll und gehen kann... Vielleicht hat mein Vater seine Meinung verändert, vielleicht will er nicht mehr die schreckliche Sachen von mir, vielleicht wird alles wieder gut sein... Vielleicht.... Ich habe sowieso keine andere Möglichkeit...
Schritt für Schritt lege ich meine Füße auf das weiche Heidekraut. Mein liebes Gelände, in dem ich aufgewachsen bin, ist auf einmal traurig und dunkel. Die bunten Bäume, untern den ich als ich klein war versteckt hatte und mit meinem Vater versuchen hatte auf den niedrigsten Zweig herauszuklettern, finde ich jetzt wie grausame Monster. Ich bleibe für eine kurze Weile sitzen. Ich bin am Ende aller meinen Kräfte ganz nah. Warum ich? Warum gerade ich? Ich wünsche mir bloß nur von diesem Traum in Muttis Schoss aufzuwachen. Nichts mehr. Ist das zu viel? Ich will doch keine Püppchen, keine wunderschöne Kleidung, nur im Muttis Schoss sitzen... Ist das wirklich so ein großer Wunsch? Mutti hat mir doch nichts getan, sie sagt sicher dem Vater, er soll mich zurücknehmen...
Blitzschnell stehe ich auf und fange wieder an zu laufen. Zwei Stunden später erscheint vor mir unser Haus. Das schönste Haus der Welt... Ich beobachte das mit angehaltenem Atem und ich lache absichtlos. Das ist mein Zuhause. Und in diesem Augenblick passiert das. Ich möchte fast in unseren Garten hineinspringen, als ich ein kleines Mädchen bemerke. Sie ist höchstens zehn Jahre alt, hat lange braune Haare, kleine Figur und spielt mit den Steinen auf dem Zutrittweg. Und bemerkt mich auch. Ich stehe dort wie eine Säule, als dieses Mädchen aufsteht und zu mir geht.
'Hallo, brauchst du was?' redet sie mich von der anderen Seite der Zaun an.
'Wer.. Wer bist du...' frage ich betroffen.
'Michaille TËnèbreux...' sagt das Mädchen mit einer lustigen Stimme. Als mir ein Blitz trifft.
'W.... Wie bitte...' stotterte ich.
'Michaille TËnèbreux... Komischer Name, nicht wahr...'
'Und... Und wie... wie... wie lange... wohnst du... hier?'
'Immer. Neun Jahre... Du bist ja vorwitzig... Wie heißt du?'
Ich stehe sie wortlos gegenüber. Was heißt das? In diesem Haus wohne ich! Das ist mein Heim, meine Zuhause. Ich bin Michaille TËnèbreux. Ich bin... Wer bin ich?
'Hey, du, dein Name...' wiederholt das Mädchen.
Ich bin gar nicht fähig zu antworten. Und was soll ich antworten?â Ich bin doch Michaille TËnèbreux!!! Oder? Ich weiß jetzt nichts mehr sicher. Als ob alles nur ein Traum wäre. Ein Albtraum. Als ob ich nur ein Geist wäre, ein körperloser Geist, der durch die Welt geht, aber den niemand kennt.
'Mensch, wer bist du?' dringt das Mädchen. In diesem Augenblick wende ich mich um und laufe weg. Laufen... Ich habe das Gefühl auseinander selbst zu entlaufen.
'Mom, hier war ein selstsames Mädel, Mom...'
Ich höre noch hinter mir die immer lustige sorglose Stimme dieses Mädchens. Wenn ich dich nicht brauche, werfe ich dir weg und besorge ein braveres Mädel. Die Worte, auf die ich keine Aufmerksamkeit gerichtet habe, sollten mir jetzt alles erklären. Aber was alles?â Ich verstehe gar nichts. Meine Oma erkennt mich nicht, zu Hause ist eine andere Michaille TËnèbreux, was kommt weiter? Was kann noch passieren?
Als sich der Mittag nähert, habe ich immer einen größeren Hunger. Es ist ja nicht richtig in dieser Situation auf Essen zu denken, aber der Hunger ist wirklich schrecklich. Und keine Hoffnung! Keine Hoffnung...
Zu laufen schaffe ich nicht lange. Ich gehe nur... Ich folge meine Nase, es ist mir ganz egal, wohin ich gehe. Die Sonne macht den Feldweg so glühend, dass es fast unmöglich ist, dort barfüßig zu gehen. Ich stürze auf einen Grasplatz. Alles ist so verrückt... Die Grasblätter sind gemütlich kalt. Für meine erschöpften Füsse ist das wie eine Heilsalbe. Wie sich die liebhafte Landschaft verändern kann... Ich hasse jetzt die schlängelnden Feldwege, wo spitzige Steinchen sind, ich hasse wunderschöne Hügelchen, die ich meiden muss...
Tr-tr... Tr-tr... Tr-tr...
'Was soll das sein?' â frage ich mich laut.
'Sicher ein Zug,' antwortete ich gleich.
Ich habe niemanden, mit dem ich sprechen kann. Ein Zug... Wirklich, und nicht weit weg von mir, die Bahn muss gerade hinter diesem Berg sein. Ich weiß nicht, wie ich daran gekommen bin, aber ich stehe auf und gehe in die Richtung - Eisenbahn. Vielleicht gelingt es mir dort was zum Essen finden... Aber weiter? Nein, für diese Frage habe ich doch viel Zeit. Ich gehe bloß nur zur Bahn.
Hinter dem Berg ist nicht nur eine Bahn, sondern sogar ein Bahnhof. Ein kleines Gebäude versteckt sich zwischen den Linden. Drei Gleise sind frei, aber ganz dahinter, auf dem vierten Gleise wartet ein Güterzug. Aber das Logo auf den Waggons macht mir mindestens ein bisschen glücklicher. Carrefour... Ein von den größten französischen Kaufhausketten. Das Wahnbild eines leckeren Brots überwindet alle meine Sorgen und Vorsichtigkeit. Wie ein kleines Reh springe ich über die Gleisen. Zwei Waggons haben ihre Türe geöffnet. Ich laufe gleich in den ersten. Drin ist es ganz dunkel, Blechwände erlauben keinem Sonnenschein dorthin zu kommen. Allerwo sind Kisten mit verschiedenen Anschriften. Aber alles ist in auf ungarisch geschriben, ich verstehe gar nichts.
Grrrrrrrrrrrrrrrr... In diesem Augenblick ist mein â Herz fasst gestoppt. Die Tür wurden geschlossen! Ich bleibe plötzlich in der Dunkelheit. Ich versuche zurück zur Tür gehen, aber ich falle über die Kisten. Als ich endlich zur Tür komme, ist sie schon geschlossen und abgesperrt.
'Hallo, ich bin hier...' schreie ich, 'Hört mich jemand?'
Nichts... Gar nichts. Nur... Mit einem grausamen Schnall zuckt sich der Waggon, bis ich auf den Boden falle. Der Zug fährt langsam ab! Fährt ab!!!â Ich poche an die Tür an, aber wer könnte mich hören? Das Klappen von Rädern überschreitet alles. Das ist ein Malheur! Ich kann nur hoffen, der Zug haltet bald an. Wie erkläre ich aber, dass ich in den Waggon geraten habe...
Der Hunger stellt unversähens meine Gedanken ein. Ich nehme Platz zwischen zwei rießigen Kisten. Ich öffne eine. Ãl... Nur Ãl. Nichts essbares. Gleich erschrecke ich mich von meinem Tat.
Jungfrau Maria, ich weiß, dass ich kein gutes Mädchen bin, aber erlöse mich aus allen Sünden und schütze mich von allen Bösen. Ich möchte nichts schlechtes machen. Zeige mir den richtigen Weg... Jungfrau Maria... Bleib bei mir. Amen.
Mit diesen Gedanken schlafe ich ein. Im Pyjama zwischen Ãlkisten, in ein Knäulchen zusammengedreht. Jungfrau Maria, blieb bei mir...
Das Quitschen von Räder weckt mich plötzlich auf. In der finsteren Dunkelheit sehe ich gar nichts, als ob ich meine Augen gar nicht geöffnet hätte. . Der Zug setzt die Geschwindigkeit langsam herab. Die nächste Station? Das ist das Ende... Wenn sie die Tür öffnen und mir heir finden... Ich werde ins Gefängnis gehen...
Der Zug bewegt sich nicht mehr. Versteckt in die Ecke warte ich, bis das kommt. Aber nichts passiert. Ich sitze in der Stille und Dunkelheit. Ich spitze ängstlich meine Ohren. Keine Schritte, keine Stimmen. Versteckt im Waggon irgendwo in nirgendwo.
Klap-klap... Es fäng an zu Regen. Tausende Regentropfen klabastern monotonisch auf das Blechdach. Ich bin in dem stehenden Wagen schon ein paar Stunden. Und ich habe immer größere Angst. Wie lange kann so ein Waggon unbemerkt stehen?â Einen Tag?â Eine Woche?â Einen Monat? Einen Monat soll ich in diesem Waggon überleben? Ich habe wirklich Angst. Angst von Dunkel, Angst von Stille, Angst von Einsamkeit.
'Hey, Boys, hier ist das.'
Die Stimme klingt rettend und verurteilt. Ich drücke mich an eine Kisteâ . Klapp! Die Tür öffnen sich plötzlich und ein grelles Licht blendet mich gleich.
'Eh... Was machst du hier! Wer bist du? Hey, chef, hier ist ein Mädel...' ruft eine grobe Männerstimme. Ich beschatte meine Augen. Fünf Männer in blauen Arbeitsmanteln stehen bei der geöffneten Tür.
'Bitte, geben Sie mir was zum Essen...' bette ich und schließe meine Augen vor dem Licht.
'Eine kleine Diebin...'
'Nein...'
'Wie bist du drin gekommen?'
'Bitte, geben Sie mir was zum Essen... Ich kann nirgendwohin gehen...'
'Geh, woher du gekommen bist.'
'Bitte...'
Eine kräftige Arm fasst mich unter dem Schulter und hebt mich auf. In dem Licht sehe ich gar nichts. Er wirft mich aus dem Waggon heraus. Ich falle auf den steinharten Betonbahnsteig. Wir sind auf irgendwelchen Lastbahnhof. Es ist schon die Nacht und es regnet. Kalte Wassertropfen fallen auf jeden Zentimeter meines Körpers, der Schlafanzug, der ich immer anhabe, wird bald naß.
'Geh weg, das ist ein Privatgrundstück, du hast hier nichts zu tun. Geh zu deiner Mutti...' Seine Stimme kling nicht mehr so streng.
'Bitte, ich habe wirklich einen Hunger.' Und das ist die Wahrheit. Die Männers Stimme ändert sich in einem Augenblick. Er beschimpft mir zum Diebinen und Obdachlosinnen und mit vielen Worten, dessen Sinn ich nicht kenne. Und nicht kennen will... Es ist mir kalt, ich bin hundemüde und habe einen Hunger. Ich wende mich um und gehe weg. Ich laufe nicht mehr, obwohl ich wollte. Barfüßig gehe ich dem nassen Bahnsteig entlang. Alles ist mir schon ganz egal. Die Erwachsenen, die mir helfen sollten, hatten mich nur beschimpft. Wo soll ich eine Unterstützung finden?â Ich habe keine Ahnung, wie schnell diese Frage beantwortet werden kann. Ich verlasse den Lastbahnhof. Rue d'escape. Got sei dank, ich bin immer noch in Frankreich. Der Schlafanzug klebt sich auf meinen Körper, aber ich beachte das nicht. Ich folge immer meine Nase. Was anderes bleibt mir? Mich irgenwo vor dem Regen verstecken? Das hat doch keinen Sinn...
'Mädel, bist du crazy?â '
Ich wende mich nicht um. Wenn ich die Wahrheit sagen sollte, ich hatte keine Ahnung, dieser Satz wurde zu mir gezielt. Aber es wurde... Ich gehe immer weiter und weiter. Laute Schritte hinter mir. Ein Junge. Er fasst mich an der Hand und führt irgenwo. Ich gehe ohne Widerstand. Und ohne Wörter. Wir laufen zu einer alten Gebaude, aus der Dunst hochgeht. Der Junge öffnet die Tür und lasst mich als erste drin gehen. Irgendwelche Treppen führen nach unten. Hier ist es gemütlich warm... Er zeigt mir, ich sollte nach unten gehen. Nach unten?â Ich habe einen Verdacht, aber was Schlechteres könnte mir noch passieren? Sacht lege ich Füsse auf die Treppe und gehe irgenwohin unter die Erde. Der Junge haltet fest mein Hand und ich muss sagen, es ist nicht unangenehm. Schließlich sind wir dort.
12 Paare der Augen beobachten mir. 12 Kinder. Sechs Jungen und sechs Mädchen. Wir sind bei der Wärmeleitungsröhren! Deswegen ist hier so warm, obwohl da draußen nicht mehr als 10 Grad ist. Auf dem Boden liegen Papierkisten und Stoffe alle Arten. Ich betrachte die Kinder und sie betrachten mir. Niemand sagt aber etwas. Bis ein Junge in einem zerlumpten T-Schirt auf meinen Begleiter anherrscht.
'Paul, du Trottel, wer schleppen heir herum?'
'Keine Ahnung,' zuckt er mit den Schultern, 'Sie ist da oben im Regen gegangen, schau sie an. Sie musst ja crazy sein, nur im Pyjamas draußen herumzutreiben... Sie tut mir einfach Leid.'
'Ah... â Paul hat sich verliebt,' quietscht ein Mädchen mit schmutzigen Haaren. Diese Kinder sehen so... schlampig... aus, aber anderseits... Wer sind sie?â Wieso sind sie nicht zu Hause? Bei ihrer Muttis und Vatis?
'Hi, girl, wer bist du?â ' fragt ein anderer Junge.
'Lass sie in Ruhe,' sagt mein Begleiter streng und drückt mich stärker.
'Julliette, hast du irgendwelche Klamotten? Sie ist nass wie ein Fisch!'
Julliette - das Mädel mit schmutzigen Haaren spring gerne von den Röhren hinunter und hopst zu einer Koppe alten Papier. Ich schweige immer. Wer sind diese Kinder? Ich befürchte mich aber danach zu fragen. Julliette kehrt sich mit nicht so reinem T-Shirt und irgendwelchen Stoffhosen zurück. Ich nehme alles dankbar, aber immer wortlos. Mein Begleiter nimmt mir irgendwohin zwischen die Röhre, wo ich mindestens ein bisschen außer Sicht bin.
'Sagst du mir jetzt, wer du bist?' fragt er leise, als ob er Angst hätte mich zu verängsten.
'Michaille...' antwortete ich langsam.
'Weiss du, du musst entweder wirklich verirrt oder sehr traurig sein, wenn du da in dem Regen nur in diesen dünnen Klamotten läufst. Und dazu noch barfüßig...'
Ich reagiere nicht gleich, anstatt das lege ich mein Hand auf nasse Kleidung. Dann erzähle ich ihm meine ganze Geschichte. Von Anfang an - als ich noch klein war, bis zum Augenblick, als mir mein Vati missbrauchen wollte. Er hört nur aufmerksam zu, es ist zu erkennen, er glaubt mich nicht.
'Na klar, du hast keine Zuhause, du bist wie wir. Welcome to Paris,' sagt er.
'Was?'
'Du bist in Paris... Und jetzt solltest du umziehen, Pierre hat auch lange in nassen Klamotten herumbummelt, dann hat er aber Lungenentzüngung bekommen und ist gestorben. So ich rate dir, dich umzuziehen.'
Ich bin aber immer so gefroren, ich kann nicht den geklebten Schlafanzug ausziehen. Paul hilft mir aber willig.
'Und wer sind sie?' lege ich die Frage, auf die ich die Antwort schon ein paar Minuten wissen möchte.
'Wir?â Kinder der U-Bahn. Keine Eltern, keine Zuhause. Zum Beispiel meine Eltern trinken sehr viel und interessieren sich gar nicht, was ich mache. So habew mich einmal entschieden, als sie wieder so betrunken waren, dass sie angefangen haben mir zu schlagen, zu entfliehen. Seitdem wohne ich hier. Und niemand sucht mich.'
'Hmmm...'
Noch die Hose und ich bin im Trocken. Wir kehren zurück in die Kindergruppe. Ich muss noch einmal meine Geschichte erzählen und sie erzählen mir, was ihnen passierte. Plötzlich zieht ein Junge, desen Namen ich noch nicht kenne, eine seltsame Flasche. Er gießt ein paar Mililiter in einen Igelitbeutel, schließt das und schüttelt heftig. Dann legt er das Beutel zu seinem Mund bei und atmet ein. Ich sehe, wie sich das Beutel mit seinem Atem verkleinigt und vergrössert.
'Verdünner,' erklärt Jeannine, ein 13 Jähriges Mädchen mit wunderschönen Ohrringen aber traurigen Augen, 'Es macht dir besser. Möchtest du auch?'
Ich stimme zu. Mit dem ersten Schluck verschwimmt mir die Welt der Wärmeleitungröhren, mein Kopft rotiert, als ob ich auf einem, Schiff wäre. Aber alle Sorgen verschwinden auf einmal. Und ich habe auch keinen Hunger mehr. Ich atme noch eine Weile die Ausdüstungen des Verdünners und dann schicke ich den Beutel weiter. Nur in der Licht der Kerzen - als ob wir in das Mittelalter zurückgekommen sind - sprechen wir zusammen. Diese Nacht schlafe ich auf dem Boden zwischen den Zeitschriften.
So werde ich das Kind der U-Bahn.
Donnerstag - Tag 4
'Michaille, stehe auf...' Eine leise Stimme zieht mir aus den Traum heraus. Langsam öffne ich meine Augen . In dem Dämmerlicht sehe ich Pauls Gesicht. Er lacht mich an.
'Guten Morgen, Prinzessin,' sagt er flüssternd.
'Hallo, was's los?'
'Komm, ich zeige dir was.'
Unfreiwillig stehe ich auf. Alles tut mir weg. Ich bin daran nicht gewöhnt, auf dem harten Betonboden zu schlafen. Ich halte aber immer Paul wie meinen Begleiter, meinen Beschützer. Wenn er mich gestern nicht an der Hand gefasst hätte, wäre ich immer im Regen im nassen Schlafanzug. Mein Kopf rotiert immer von dem Verdünner, aber trotzdem folge ich Paul irgendwohin zwischen den Wärmeleitungsröhren. Von der Dunkelheit tun meine Augen weg. Und dann sind wir plötzlich auf dem Licht.
Vor uns liegt wie an der Handfläche die Stadt. Paris. Die Sonne geht auf dem Mortmartre auf.
'Herzlich willkommen in Paris, Prinzessin,' redet Paul und streckt seine Ärme wie die Flügel aus. Ich bilde ihm nach und ich habe wirklich das Gefühl, als ob ich fliegen würde.
'Warum hast du mir hier gebracht?' frage ich und gucke in die Sonne.
'Das alles gehört dir. Diese ganze Stadt...' sag