denkwürdiges aus berlin
Morgens standen sie plötzlich auf dem Kurfürstendamm, wie vom Himmel gefallen, in Mondsichelfasson.
Die Dämmerung hüllte noch alles ein und die Form der Mondsichel bot sich geradezu an, weil sie in dieser Posi-tion alle den besten Blick auf jenes Fluggerät hatten, das nur wenige Augenblicke zuvor in dieser Pracht-straße notgelandet war. Es glich einem sehr gealterten Flugzeug aus der Anfangs-zeit der Fliegerei. Wie sie in dieses Fluggerät gekom-men waren, wusste keiner von ihnen. Vor allen Dingen, wie überhaupt so viele von
ihnen in diesem kleinen Flugobjekt Platz ge-funden hatten. Die Veränderung des Flug-gerätes und ihrer selbst musste erst gesche-hen sein, als sie die Dunstglocke über Berlin unwissentlich berührten. Sie waren Lunarier, wirkten in ihren vorderseitig silbrig, rückseitig schwarz schimmernden Anzügen wie Fremd-körper auf der Berliner Pracht-straße. Und sie kannten keine andere Möglichkeit der Auf-stellung als die Mond-sichelfasson. Ihr Pilot stand, stets Unver-ständliches vor sich hin brabbelnd, an einer der Tragflächen, die sich seltsamerweise nicht mitverändert hatte. Ob er auf diese Weise Hilfe zu holen versuchte oder nur schimpfte, war niemandem klar.
Eines war sicher, sie mussten samt ihrem
Fluggerät noch vor Beginn des morgend-lichen Stadtverkehrs von hier verschwunden sein. Ikki, ihr oberster Anführer, trat zum Piloten und flüsterte eine Weile aufgeregt mit demselben. Der rief Mokko, Lakki, Mekki und Akki zu sich. Gemeinsam kletterten sie in die havarierte Flugmaschine. Was dort drin ge-schah, konnte keiner sehen. Plötzlich begann das Gerät zu ruckeln. Es vollführte einige ungestüme Hüpfer, legte sich elegant auf die Seite und veränderte danach seine Position um 180 Grad. Von drinnen ertönte ein lauter Ruf und die übrigen Lunarier be-tiegen ihr Flugzeug. Nach vielem Getöse, mehreren gewaltigen Fehlstarts und etlichen kleinen und größeren Explosionen rollte das seltsame Gefährt Richtung Brandenburger Tor. Hier
wollten sie offensichtlich versuchen, neu zu starten, um ihrer unbequemen Situ-ation zu entkommen. Am westlichen Morgen-himmel hing, einem weißen Lampion ähnelnd, der volle Mond. So konnten die Lunarier bequem ihre Flugrichtung bestimmen, falls das Gefährt jemals starten sollte.
Im Inneren des Fluggerätes herrschte drang-volle Enge aber auch große Betriebsamkeit. Jeder machte sich auf seine Weise nützlich: einer befreite die Innenwände vom Schmutz Berlins, einer reinigte die Polster der zahl-reichen Sitze. Wieder ein anderer machte sich an der Lüftung zu schaffen, der nächste küm-merte sich um das Wohl des Piloten, einige fegten den Fußboden, manche standen auch
nur zusammen und unterhielten sich. Mehrere waren in den Bauch des Fluggerätes ge-klettert und suchten dort nach dem Fehler, der sie zur Notlandung gezwungen hatte. Auf Befehl ihres Anführers kletterten Mokko und Lakki noch einmal aus der Flugmaschine, um nach den Antriebswerken zu sehen. Dort ent-deckten sie tatsächlich einen seltsam ver-formten eisernen Vogel. Der hatte eine größere Anzahl schwarzer Federn verloren. Nachdem sie ihn aus seiner misslichen Lage befreit hatten, konnte er das Weite suchen. Mokki und Lakki kletterten wieder in ihre Flug-maschine. Dann hörte man hustende und spuckende Geräusche. Einige Augenblicke später summten die Triebwerke in der Morgenstille vor dem Brandenburger Tor.
Das lunarisches Fluggerät verschwand in einer weißen, zischenden Wolke spurlos in den Äther.
© Hei O 29-11-2019