Biografien & Erinnerungen
Mancher Abschied dauert länger

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"Fortsetzung zu: Der letzte Sommer"
Veröffentlicht am 23. Januar 2021, 22 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

Das Wichtigste in meinem Leben ist meine Familie, mein Mann, meine beiden Töchter, meine Schwiegersöhne und meine fünf Enkelkinder. Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Schon im Alter von sechs Jahren schrieb ich kleine Geschichten. Die ersten Gedichte folgten dann, als ich etwa zwölf war. An die Öffentlichkeit ging ich jedoch erst vor einigen Jahren. Nach zahlreichen Gedichten und Geschichten, die in Anthologien und ...
Fortsetzung zu: Der letzte Sommer

Mancher Abschied dauert länger

Mancher Abschied dauert länger

La Palma – Kanaren Sommer 2011 Der Weg schraubt sich in immer enger werdenden Serpentinen den Berg hinauf. Zwar brennt die Sonne erbarmungslos vom strahlend blauen Himmel, aber alle paar Minuten weht ein frischer Wind und kühlt meine heiße Stirn. Du kennst das, meine Liebe, wir haben hier Schweißtropfen, Tränen und Lachen gelassen. Und in dem letzten Sommer auch die Endgültigkeit, dieses "Nie wieder". Der Wind, der dein dunkles Haar ins Blau hineingeweht und unsere Gefühle

auf ein erträgliches Maß abgekühlt hat, jetzt kühlt er mein heißes Herz, genauso wie meine überhitzte Haut. Ja, ich bin wieder hier, und mit jedem Schritt und jedem Stück Weg, das ich hinter mir lasse, bin ich dir näher und gleichzeitig weiter entfernt. So viele "Weißt du noch" schwirren mir im Kopf herum, und fast bin ich ein wenig böse, dass ich keine Antwort bekomme. Aber das ist ja Unsinn, natürlich weißt du noch, auch wenn du es mir nicht mehr bestätigen kannst. Die Anstrengung tut gut, lässt mich jeden einzelnen vernachlässigten Muskel spüren. Bin dankbar für den Schmerz,

bewirkt er doch, dass ich mir selbst wieder sehr bewusst werde. Meine Liebe, ich bin viele Wege gegangen seit letztem Jahr, und dieser hier wird ein Abschiedsweg sein. Ist dir klar, dass ich nie diesen Abschied habe nehmen können? Dein Vater hat all meine Versuche boykottiert, ja, ja, ich weiß … Du würdest jetzt lächeln und sagen: »Lass ihn doch, er kann nicht anders.« Dann nähmest du meine Hand und würdest mit mir da durchstiefeln und eben … Abschied nehmen. Nur, das geht nun nicht. Ich muss das allein schaffen und ich bin stärker jetzt als vor zwei

Jahren. Ich gehe wieder den Weg vom Pico de la Nieve zur Punta de los Roques. Das Auto steht an der Abzweigung zur Pista de la Nieve - wie damals. Auch heute habe ich meine Farben dabei, mühe mich redlich, alles zu schleppen. Ich halte meine Versprechen, das weißt du. Der Weg macht plötzlich eine scharfe Biegung, führt zwischen Steinen und einer engen Felsnase hindurch. Kurz muss ich die Hände zur Hilfe nehmen, um die Gesteinsbrocken zu erklettern. Dann hebe ich den Kopf und erstarre ob der grandiosen Aussicht. Damals hast du

meine Hand umklammert, so fest, dass sich deine Fingernägel in mein Fleisch gebohrt haben. Den Schmerz spürte ich erst später, der Anblick schaltete jedes andere Empfinden aus. Auch jetzt kann ich kaum weiteratmen, halte unbewusst die Luft an. Nach Norden zu öffnet sich weit die Caldera. Der Barranco wird sichtbar, das fast ausgetrocknete Bett des Calderaflusses, in mehr als tausend Meter Tiefe, eingebettet zwischen Geröll, Felsen und kiefernbewachsenen Hängen. Weiter rechts ein dicker Wolkenteppich, wattegleich liegt er ruhig ausgebreitet über dem Land, löst sich nach links auf und gibt den Blick frei auf das tiefblaue

Meer. Ich muss für dich mitsehen. Warum ist es dir nicht vergönnt? Auf dem Weg zum Pico de la Nieve hatten wir unseren einzigen richtigen Streit, und ich war schuld, habe mich benommen wie ein pubertierendes Schulmädchen. Unsere gelegentlichen kleinen Meinungsverschiedenheiten über banale Alltagsdinge waren ja zuweilen erheiternd. Locker warfen wir uns die Bälle verbal zu, nie verletzend, immer ein wenig den Humor und das Schmunzeln im Hintergrund. Diesmal war es ernst und dumm, anders kann ich es nicht

sagen. Ich hatte auch damals meine Farben mitgenommen, den Block und Pinsel und allerlei Krimskrams. Wir schwitzten uns den Berg hinauf, ich war am Ende etwas langsam mit dem Gepäck auf dem Rücken. Du bist ärgerlich geworden. Ich vergesse nie deine Miene, als du meintest: »Musst du unbedingt da oben ein Bild malen? Kauf dir doch eine Postkarte.« Sie waren fremd für mich, diese Worte, sie passten nicht zu dir. Das warst nicht du. Ich spürte einen Knoten im Bauch, fühlte mich irgendwie verletzt, konnte aber nichts sagen in diesem

Moment. Noch heute verstehe ich nicht meine völlig absurde Handlungsweise. Ich öffnete den Rucksack und holte die Farben heraus, eine Tube nach der anderen, lief weiter und ließ die Tuben auf dem Weg liegen. Irgendwann musste ich anhalten, denn vor lauter Tränen konnte ich nichts mehr sehen. Tränen der Wut, verletzter Eitelkeit, was auch immer. Ich setzte mich an die Seite, wischte mir durchs Gesicht, schniefte wie ein kleines Kind. Und dann kamst du, bliebst vor mir stehen. In deinen Händen all meine Farbtuben, die du wieder eingesammelt hattest. In deinen Augen standen auch Tränen und dann

weinten wir beide, lagen uns in den Armen. Es brauchte keine Worte mehr. Ich packte die Farben wieder ein. Dann: »Enya, Enya, ich weine, ja, aber nicht, weil ich böse bin, nein, du hast sie aufgegeben, die Kontrolle. Einmal hast du sie aufgegeben. Ich glaube, ich habe dich nie mehr geliebt als jetzt in diesem Moment.« Wie oft haben wir darüber gesprochen, dass ich nie loslassen konnte, mich immer kontrollierte, sogar wenn ich meine Gefühle zeigte, sogar dir gegenüber. Deine Hand auf meinem Arm. Es war anders als sonst, diese Berührung. Was geschah da mit mir, mit uns? Nach

zehn Jahren? Ich war aufgestanden, dir vorausgeeilt. Das Bild wurde nicht fertig, ich musste aufhören zu malen, weißt du noch? Wir wären nicht mehr rechtzeitig nach unten gekommen. Aber ich halte mein Versprechen. Ich werde es zu Ende bringen. Wenn ich es heute nicht schaffe, werde ich wiederkommen. Ein wenig muss ich noch warten, das Licht stimmt nicht. Mir fällt das Atemholen auf einmal leicht. Meine Lungen füllen sich mit Luft. Ich warte auf das Licht und dann male ich. Der Abstieg ist wunderschön, leicht, ich

gehe trotz der schweren Wanderstiefel locker, beinahe schwingend. Weißt du, ich habe zum ersten Mal das Gefühl der Genesung, obwohl jeder Schritt ein klein wenig mehr Abschied ist. Ich habe hier ein nettes Ehepaar kennengelernt. Sie würden dir gefallen. Ich esse abends oft mit ihnen. Als die Sonne heute untergeht, sitze ich an unserem Tisch, an deinem und meinem – allein. Diesen Moment brauche ich ganz für mich. In Gedanken spreche ich vorsichtige Worte eines Adieus, aber auch Worte der Liebe. Die Sonne wird gleich hinabtauchen in die Unendlichkeit des Meeres. Die

Palmen heben sich beinahe schwarz vor diesem Leuchten ab. An diesem Abend, nach unserem Streit, was ist mit uns passiert? Ich brauche die Antworten, die Akzeptanz, um es letztlich lassen zu können, loslassen, genau wie dich. Was wäre gewesen, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten? Oder wäre es dann überhaupt gewesen? Hätten wir unsere Freundschaft riskiert? Ich würde es so gern abtun als eine Episode, ganz nach hinten packen in mein Erinnerungskästchen, es wegblasen – wie eine Feder schwebten diese Gefühle davon, hinein ins Blaue oder auch in die dunkle

Nacht. Ich schaffe es nicht, also werde ich damit leben. Vielleicht kann ich es ein bisschen händeln wie du immer quälende Gedanken gehändelt hast. Der Abend dann nach diesem Tag. Du auf dem Bett, ich auf dem Boden, die Wärme, die noch immer ins Zimmer kriecht, die Ritzen ausfüllt, dass die Luft fast zu schwer ist zum Atmen. Dein Blick, dein Lächeln. Wir stehen gleichzeitig auf, dein Finger an meinem Mund und dann: »Still«, sagst du. »Warte ... spürst du es?« Und wie ich es spüre in diesem Moment.

So fühlt es sich an, wenn Brandungswellen dich herumwirbeln. Wir harren einen Moment aus, schweigen. »Hätten wir doch mehr Zeit«, hast du geflüstert. Ich konnte nichts sagen. Und so umarmte uns das Schweigen minutenlang. Nein, kein Gespenst mehr jetzt, das mich verfolgt. Keine Fragen mehr: Was wäre gewesen, wenn … Ich esse mit gutem Appetit, ich habe im letzten Jahr zugenommen, meine Haare sind kürzer wegen der Chemo, du würdest die Lippen verziehen mit krauser Nase und leicht belustigtem Blick sagen: »Es sind nur Haare, Enya, und vielleicht

wirst du einmal eine Glatze haben wie ich.« Nein, das werde ich wohl nicht. Und wenn es wieder so sein wird, dann werde ich es mit einem Lächeln hinnehmen. Es geht mir gut im Moment. Der Weg war lang, den ich gegangen bin, ohne dich und doch mit dir. Morgen nehme ich dich noch mal mit, wir spazieren durch die Dörfer und erfreuen uns an den bunten Farben der Häuser. Dann fliege ich zurück, einen Teil von dir werde ich hier lassen, dein Leiden, deinen Schmerz, der auch meiner ist. Einen anderen Teil nehme ich mit, dein

Lachen, dein Selbstvertrauen und die Erinnerung. Das Band werde ich durchschneiden und doch bestehen lassen. Morgen, dann werde ich loslassen. Heute noch bist du ganz bei mir. Mancher Abschied dauert länger. Nachtrag 2021: Fast zehn Jahre sind vergangen, seit ich diesen Abschied vollzogen habe. Das Bild ist noch immer nicht fertig geworden. Obwohl ich mir geschworen habe, es zu vollenden, konnte ich es nicht. Immer noch kämpfe ich, um zu

leben, biete der Krankheit die Stirn. Ich weiß, du würdest mir sonst die Leviten lesen. Und wenn mich das Grau der Traurigkeit und die Glut der Verzweiflung mal wieder überrollen, höre ich deine Stimme, wie du sagt: »Schau mal, Enya, ich male dir den Regen bunt.« Und weißt du was? Inzwischen schaffe ich das für mich, mir den Regen bunt zu malen.





Impressum

Text und Cover: Enya Kummer

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Hörbuch

Über den Autor

Enya2853
Das Wichtigste in meinem Leben ist meine Familie, mein Mann, meine beiden Töchter, meine Schwiegersöhne und meine fünf Enkelkinder.
Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Schon im Alter von sechs Jahren schrieb ich kleine Geschichten. Die ersten Gedichte folgten dann, als ich etwa zwölf war. An die Öffentlichkeit ging ich jedoch erst vor einigen Jahren.
Nach zahlreichen Gedichten und Geschichten, die in Anthologien und Gemeinschaftsbüchern ihren Platz fanden, habe ich 2013 meinen Debütroman »Das Murmelglas« gemeinsam mit Victoria Suffrage veröffentlicht. Im März 2015 erschien das Kinderbuch »Die Abenteuer von Stups und Moni. Wenn freche Wölfe Nebel pupsen«, das ich ebenfalls mit Victoria Suffrage geschrieben habe.
Im Dezember 2017 erschien mein Roman »Julie. Am Ende ist Erinnern«, gefolgt von »Septemberblues«. Die Fortsetzung von »Julie« erschien im März 2020.
Wenn ich noch ein Ziel habe, was das Schreiben angeht, so ist es ein Psychothriller. Mal schauen.
Zur Zeit schreibe ich an einem (fast) autobiografischen Familienroman.
Meine Geschichten erzählen von menschlichen Grenzsituationen, die immer von einem Funken Hoffnung begleitet werden.
Ich habe Mathematik, Psychologie und Pädagogik studiert und war im Bildungsbereich tätig. Inzwischen genießen mein Mann und ich unser Rentendasein und die Beschäftigung mit unseren lebhaften Enkelkindern.


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"Mancher Abschied dauert länger..."
Nun endlich habe ich diese starke Geschichte zu Ende lesen können.
Ich hatte mir zwar ein Lesezeichen gesetzt, es dann aber doch vergessen.
Diese stille, in sich gekehrte Form der Konversation einer Erinnerung
hat mich sehr berührt, liebe Enya...
LG
Louis :-)
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Ganz herzlichen Dank, lieber Louis, fürs Lesen, deine lieben Worte und den Favo. Ich freue mich sehr.
Ja, das sind Erinerungen, die wohl nie verschwinden, solange man sich eben erinnern kann. Und das ist auch gut so.
Es ist nicht einfach, loszulassen und dennoch etwas behalten.

Ich schicke dir sonnige Grüße nach Berlin.
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
Friedemann 
Liebe Enya,
auch mich hast Du mitgenommen ...

Herzliche Grüße,
Friedemann
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Das ist schön, lieber Friedemann.
Herzlichen Dank für allea.
Sei lieb gegrüßt
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
Brigitte Liebe Enya, verzeih, dass ich diese wunderschöne Geschichte übersehen hatte. Jetzt bei Durchsicht bin ich drüber gefallen. Und ich muss sagen, da bin ich froh darüber. Ich habe gefesselt zugehört und hatte das alles bildlich vor Augen. Wie wunderschön du da alles beschrieben hast! Ich kann deine Gefühle so nachempfinden. Und es ist schön, dass man die Erinnerungen hat. Vielen Dank für diesen großartigen Lesegenuss. LG Brigitte
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Liebe Brigitte,

aber du musst dich doch nicht entschuldigen, weil du ein Buch "übersehen" hast.
Man kann einfach nicht alles mitbekommen. Ich bin zurzeit nicht so oft hier, schaffe es gesundheitlich nicht. Da entgeht mir auch einiges.

Umso mehr danke ich dir jetzt für alles, deine lieben Worte und die Geschenke. Ja, diese Erinnerungen sind wirklich etwas Besonderes.
Ich schicke dir liebe Grüße in den hier sonnigen Nachmittag.
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Liebe Enya,
ich habe das Atmen beim Lesen dieser zutiefst berührenden Geschichte vergessen. Ja, mancher Abschied dauert länger ... und mancher endet nie, wird nur verhaltener, wandelt sich in Schattenbilder.
Deine Erinnerungsbilder, die Du mit Innigkeit beschreibst, gehen mitten ins Herz.
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Liebe Kara,
von Herzen Dank für dein Begleiten, deine lieben Worte und die Geschenke. Ja, manchmal werden die Schattenbilder lebendig und füllen das Herz. Zum Teil schmerzhaft, aber auch mit Dankbarkeit.
Dir einen schönen Tag und liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Liebe Enya, jetzt habe ich gerade etwas ungestörte Zeit für mich und habe deine tief emotionale Geschichte vom Loslassen und dennoch ewig Verbundenbleiben in Ruhe lesen können und mich berühren lassen bis tief ins Herz. Ich glaube auch, es gibt für alles eine Zeit. Verlorenes und Verpasstes kann man nicht nachholen, auch keine Gefühle. Aber manche kann man konservieren in Beständigkeit. Dazu braucht es diese besonderen innigen Momente, die du so fantastisch beschreiben kannst ...
Liebe Umarmung aus der Ferne,
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Liebe Fleur,
Herzensdank an dich für deine so lieben Worte und dein Verstehen, überhaupt für alles.
Nein, man kann sicher weder etwas vor- noch nachholen, muss den Moment leben und eben das, was einem innewohnt, was einen berührt in sich aufnehmen.
Es ist lange her, aber manchmal fühlt es sich an wie gestern - lebendig.
Ganz liebe Grüße und einen schönen Tag.
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
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