MASKERADE
Die Einladung zu einer Fasnachtsparty − großzügig Kostümparty genannt − liegt auf ihrem Tisch. Zum Glück gibt es kein Motto. Wäre vielleicht besser gewesen! So steht sie seit Tagen ratlos in den verschiedenen Kaufhäusern vor den Fasnachtsabteilungen. Sie muss sich verkleiden, steht extra in der Einladung. Sogar in Rot gedruckt! Wenn sie nur eine Idee hätte! Aber es ist das erste Mal, dass so etwas von ihr verlangt wird. Oder sollte sie besser sagen: gewünscht wird?
Sie fühlt sich auf alle Fälle sehr unter Druck.
Heute wieder in der Fasnachtsabteilung des größten Modehauses am Ort. In der Kiste mit
den Augenmasken sieht es bunt aus: alle Farben, mit Glitzer, Federn oder anderem Schnickschnack. Zaghaft holt sie eine schlichte Schwarze heraus, hält sie sich vor das Gesicht, streift das Gummiband über und blickt dann in den Spiegel. Nicht schlecht, muss sie schmunzelnd denken. Dann wirft sie sich in ihrer Fantasie einen schwarzen Umhang um und lässt ihre Haare unter einer schwarzen Motorradmütze verschwinden, die von einem roten Hut mit großer Krempe gekrönt wird. Hm, das hätte schon was, muss sie unwillkürlich denken. Wie sehen sie jetzt die anderen Partygäste? Ist sie nun zum Bösewicht geworden? Oder mit einem schwarzen Hut gar zum Rächer Zorro, der doch nur Gutes will? Oder mit grünem Hut
und grüner Jacke zu Robin Hood? Soll sie es vielleicht probieren?
Aber wie fühlt sie sich? Danach hat keiner gefragt. Sie rutscht tiefer in ihre Vorstellung hinein. Gar nicht so übel, spürt sie, die sonst immer so schüchtern ist und sich nichts zutraut. Endlich einmal den Mächtigen auf den Kopf zu sagen können, was ihr nicht passt. Das fängt schon bei den Eltern an, geht bei den dämlichen Kollegen und Chefs weiter und endet schließlich beim Dorfoberhaupt, der bei jedem Weiberrock flugs auf einen Baum steigt. Wenn “Mann“ queer ist, vielleicht sicherer!
Entschlossen tauscht sie die Augenmaske mit
einer Gruselmaske aus Gummi. Wenn sie die mit ihrem schwarzen Fantasieumhang tragen würde und alle erschrecken schon bei ihrem Anblick? Nein, das ist nichts für sie. Das ist sie nicht! Sie will sich schon mit dem identifizieren können, was sie darstellt. Ob das die anderen Maskenträger genauso sehen? Oder verkleiden sie sich nur, um endlich ihr wahres Ich zu zeigen und auszuleben? Sie mag nicht weiterdenken, ein Schauder nach dem anderen läuft ihr über den Rücken und sie zieht sich schleunigst die Gruselmaske ab. Reicht es nicht, dass sich die Menschen schon im Alltag in vielerlei Situationen maskieren? Sie sind freundlich dem ruppigen Kellner gegenüber, obwohl sie ihn lieber ohrfeigen würden; sie lächeln
andere an obwohl sie lieber schimpfen würden usw. Selbst dem Partner gegenüber sind sie nicht immer ehrlich, um ihn nicht zu kränken. Doch Höflichkeit macht den Alltag angenehmer.
Schließlich greift sie sich eine leuchtend gelbe Augenmaske. Sie wird ihren Kleiderschrank zum Pool für Verkleidungen machen und sich etwas leuchtend Buntes zusammenstellen, das ihrer Stimmung entspricht. Dann braucht sie sich auch an Fasnacht nicht zu verstellen und kann die sein, die sie gerne ist. Sollen doch andere in Narrengewänder schlüpfen, um endlich die Sau rauszulassen und das zu tun, was sie sich im Alltag nicht trauen. Ehrlich bleiben will
sie und kein Schauspiel aufführen. Sie hat das nicht nötig. Sie möchte einfach nur „Spaß“ haben!
HELAU und ALAAF und AHA!!!
©HeiO 02-02-2020