Romane & Erzählungen
Konjunktion der Herzen - Randbeitrag SP 76

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"Konjunktion der Herzen - Randbeitrag SP 76"
Veröffentlicht am 12. April 2019, 22 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Evchen wurde ohne Sternzeichen geboren. Dafür hat sie in Numerologie einiges zu bieten: Postleitzahl, Sozialversicherungsnummer und - the girls best friend - Kreditkartennummer. Jip­pie!
Konjunktion der Herzen - Randbeitrag SP 76

Konjunktion der Herzen - Randbeitrag SP 76

KOnjunktion der Herzen



Manche behaupten, glücklich

zu sterben sei ein segen.


Doch ist ein glückliches leben nicht mindestens ebenso wichtig und erstrebenswert?



Von Weitem erblicke ich die sinkende Schranke. Mein Herz beschleunigt. Ich passiere die wartenden Fahrzeuge, lege meine Hände auf die rot-weiße Barriere. Das Sonnenlicht spiegelt sich auf den Schienen. Es ist unnatürlich still. Schneeluft kitzelt meine Nase. Dezemberkälte kribbelt auf meiner Haut. Die Drähte surren ihre elektrische Melodie. Das vibrierende Singen der Gleise stimmt ein. Kaum wahrnehmbar, aber gegenwärtig. Das Rattern des nahenden Zuges komplettiert die Kantate.


Ich erbebe. Die Erinnerung zerrt an mir, lädt mich ein, mit ihr eine glückliche Zeit zu besuchen. Ich schließe die Augen und segle vom Kompass des Herzens geleitet auf der Woge der Erinnerung davon.










Vorgestern. Dezember 1956 Ich war aufgedreht und brauchte nicht lange um mein Peterle zu überzeugen. Peter ließ sich gerne von mir überzeugen. Wünschte ich mir Bachbunge und Baldrian rannte er ohne Zögern davon und kehrte mit Gebinden zurück, die mich glauben machten, er habe ganze Landstriche für mich abgeerntet. Die groß angekündigte Sonnenfinsternis stand bevor. Seit Tagen kannten die Zeitungen kein anderes Thema - als wären die allerorts sichtbaren Wunden des Krieges plötzlich verheilt, Millionen Opfer auferstanden und zerrüttete

Familien vereint. Ich wollte dieses Himmelsspektakel nicht in der Stadt inmitten einer vielstimmigen Geräuschkulisse aus Ohs und Ahs erleben und bat Peter mich zum See zu begleiten. Natürlich brannte Peter lichterloh für meinen Vorschlag. Das tat er immer. Hätte ich ihn gebeten, mich im Huckepack von Garmisch nach Helgoland zu tragen, er hätte nur nachgefragt, wann wir aufbrächen und ob noch Zeit für eine stärkende Brotzeit sei. Peter ergriff den vorbereiteten Picknickkorb und bot mir den freien Arm zum Unterhaken.

Unterwegs zum Bahnhof konnte mir nur mit Mühe ein Kichern verkneifen. Sein stets freundliches zuweilen schelmisches Lächeln hatte geräuschlos den Platz geräumt für das grenzdebile Grinsen, das er stets zur Schau trug, wenn wir der Öffentlichkeit unsere Verbundenheit demonstrierten. Zudem schien er die Kontrolle über Körper und Gliedmaßen verloren zu haben. Mit hoch erhobenem Haupt, geschwellter Brust und kerzengeradem Rücken stakste er wie ein Storch durch den Salat und grinste, grinste, grinste, als würde ihm der Wind fortwährend Witze ins Ohr

flüstern. Der Zug fuhr wie immer pünktlich mit exakt acht Minuten Verspätung ab. Man konnte die Uhr danach stellen. Der Bahnhofsvorsteher pflegte lakonisch zu erklären, dass der Zug einer der pünktlichsten der Republik sei, einzig der Fahrplan wollte das nicht einsehen und sei etwas übereifrig. Im Abteil setzte sich Peter mir gegenüber. Um seinen fragenden Blicken zu entgehen, presste ich die Nase gegen die Scheibe. Ich kannte die unausgesprochenen Fragen genau. Auf eine Antwort hatte Peterle bisher

vergebens warten müssen. Ich war mir ihrer nicht sicher, hielt eine Entscheidung für verfrüht und wollte nicht zusehen müssen, wie Peterle tapfer lächelnd verständnisvoll nickte, während in seinen Augen etwas zerbrach. Ich bestaunte schweigend die Natur auf der anderen Seite der Scheibe. Peter bestaunte indes schweigend meine Natur. Die Fahrt dauerte nur Minuten. Peters stumme Fragen entfleuchten beim Öffnen der Waggontür und vereinten sich mit dem filigranen Nebel über den Feldern zu einem elfenhaften Tanz.

Den kurzen Spaziergang zum Ufer bewältigten wir schweigend und Händchenhalten. Der fragende Blick war wohl im Zug geblieben, unterwegs nach nirgendwo. An seiner statt hielt das vertraute retardierte Grinsen des Adebars Hof. Eilig bauten wir unser Nest, breiteten die Decke aus, befreiten den Proviant aus dem Korb, schützten uns mit Sitzkissen gegen die Kälte, stützten und wärmten uns Schulter an Schulter und schlürften geräuschvoll dampfenden Tee. Beim Blick in den Himmel dankte ich dem unbekannten Regisseur, der im

Verborgenen in detailverliebter Arbeit das perfekte Timing erschaffen hatte. Der Mond hatte soeben den Transit begonnen und knabberte wie ein Mäuschen am Keks der Sonnenscheibe. Auf dem See brach das verbliebene Sonnenlicht und tanzte glitzernd im Takt der Wellen. Mit zunehmender Verdunkelung veränderte sich die Welt. Die Vögel, die zunächst empört aus voller Kehle gegen die verfrühte Nacht anzwitscherten, verstummten. Die Temperatur sank jäh, was uns zum engeren Kuscheln veranlasste. Mit gerußten Gläsern und staunend offenen Mündern sogen wir das

himmlische Phänomen ein, konservierten das Ereignis in besonders hübschen Gegenden unserer Gedächtnisse. Dabei lauschten wir dem Herzschlag des anderen, bis sich die Herzen einigten und fortan synchron schlugen.

Die Zeit zerrann wie Schnee im Schmelztiegel und doch haftete jedem Augenblick ein Hauch von Äonen an. Jene endeten abrupt, als sich der Mond ins Zentrum der Sonne schob. Alles endete. Unser Atem stockte. Die Herzen standen still. Die Tiere des Waldes schwiegen ehrfürchtig. Selbst der Wald pausierte. Kein Holz knackte, kein Ast wog sich geräuschvoll im Wind oder

stöhnte leise von Alter oder Gicht geplagt. Die Welt schwieg still und schwarz. Über ihr wachte ein Ring aus gleißendem Feuer.

Ich drückte Peters Hand, vergewisserte mich, dass ich nicht der letzte Mensch auf Erden war. Er erwiderte den Druck, legte mir den Arm um die Schultern und ich schmiegte mich enger an ihn. Ob er wieder dieses Gesicht mit dem übergroßen Fragezeichen zur Schau stellte? Ich konnte mich nicht vergewissern. Der Anblick des lodernden Rings, der mir wie ein magisches Omen erschien, hypnotisierte und fesselte

mich. Peters Fragezeichen würden vergehen, all seine Fragen beantwortet, sein schmachtendes Flehen erhört, sobald Mutter Erde sich aus der Schockstarre löst und alles Leben mit voller Lautstärke seine Existenz feiert. Der Augenblick der Antworten war gekommen, als das Sonnenlicht mit aller Macht die Finsternis vertrieb, uns Wärme schenkte und den Wald zum Leben erweckte. Ob Peter meinen Plan erraten hatte? Hatte er womöglich die Nähe genutzt, um heimlich in meinen Gedanken zu

stöbern? Als ich meinen Kopf drehte blickte er mich mit warmen, erwartungsvollen Augen an. Was hatte mich nur verraten? Ein weicher Kuss ließ Peters Flehen für alle Zeit verstummen. Bebende Lippen besiegelten einen heiligen Schwur, verscheuchten Dämonen und Ungeheuer namens Zweifel und Liebesschmerz. Ein Kuss kann jede Frage beantworten. Er verwirklicht Sehnsüchte und Träume, ist das liebliche Odeur des Lebens, ist Verzückung und Ekstase bar von unreiner Schuld.


Wir blieben. Spendeten uns Wärme, Leben und Hoffnung. Küssend. Schweigend. Worte waren verzichtbarer Ballast. Treffliche Worte mussten erst erschaffen werden. Zuvor musste jemand die passenden Vokabeln erfinden. Wir verschmolzen unsere Gedanken Stirn an Stirn. Wir lauschten dem Atem des anderen, ritten auf der Woge des Glücks. Während um uns die Erinnerung an das Naturschauspiel allmählich verblasste, brannten wir den Feuerring als Zeichen ewiger Verbundenheit tief in unsere Herzen ein. Denn das Herz ist der einzige Ort wo Erinnerung ewig währt.


Erst als die Sonne ihr Pensum erfüllt hatte und der Winter sich in unsere Knochen einquartierte, packten wir zusammen und begaben uns auf den Rückweg in dem Wissen, dass wir in der Zivilisation unser Zuneigung zügeln und zur Not bremsen mussten. Die damalige Zeit hatte kein Verständnis für sichtbar gelebte junge Liebe. Der Zug würde pünktlich mit acht Minuten Verspätung eintreffen, wir mussten nicht hetzen. Die Gleise führten uns zurück zum platonischen Miteinander, das nur kurz von Sehnsüchten und unschuldigem Händchenhalten unterbrochen werden

durfte. Kraft spendete die Gewissheit, dass uns der Zug mit acht Minuten Verspätung an jenen Ort bringen konnte, wo gesellschaftliche Erwartungen der Nachkriegsjahre ihre Gültigkeit verloren. »Das Glück kommt immer etwas zu spät«, philosophierte der Bahnhofsvorsteher häufig. Wie recht er doch hatte.



* * * * *


Kurze Anmerkung: Die Sonnenfinsternis im Dezember 1956 war in Deutschland nur als partielle (=angeknabberter Sonnenkeks) nicht als ringförmige So-fi (wie im Text beschrieben) zu sehen. Gut möglich, dass ich mich etwas zu fest am Torpfosten der Wahrheit gelümmelt habe und ihn dabei leicht verschob.


Eine Konjunktion ist eine Konstellation, bei der Himmelskörper (vom Beobachter aus) auf einer Linie stehen.



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EvchenM
Evchen wurde ohne Sternzeichen geboren. Dafür hat sie in Numerologie einiges zu bieten:
Postleitzahl, Sozialversicherungsnummer und - the girls best friend - Kreditkartennummer.
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welpenweste Eine Geschichte, welche die Qualität des Schreibens auf eine hohe Stufe stellt. Umschreibungen, Gefühle und Situationen werden wundervoll in gelungene Worte gekleidet. Es ist ein genauer Zeitabschnitt gewählt, der ein Ende fast offen lässt.
Ich fand viel Gefallen am Lesen und hoffte auf einen Schluss, der die Lösung bietet, welche den Leser so interessieren würde.
Die Autorin hingegen überlässt es dem Leser einen Schluss zu interpretieren. Eine interessante Variante, die mich aber schlussendlich etwas enttäuscht zurück lässt.
Vielleicht gerade auch deswegen eine großartige Geschichte!
Günter
Günter
Vor langer Zeit - Antworten
HarryAltona Großartig. Klasse erzählt.
lg... harryaltona
Vor langer Zeit - Antworten
Ninamy67 Ach Evchen...wie wundervoll geschrieben! So vollkommen anders, als das was man in letzter Zeit unter dem Stichwort "Romantik" so geboten bekommt als Leser! Du hast eine wunderbare Art zu beschreiben, man ist einfach dabei! Du MUSST schreiben...und damit meine ich BÜCHER!!!

LG
Nina
Vor langer Zeit - Antworten
EvchenM Vielen Dank Nina.

Ich arbeite an einem Sparbuch. Das muss vorerst genügen.
Vor langer Zeit - Antworten
Friedemann 
Ja, der Mond war immer schon Zeuge und Freund der Liebenden.
Offenbar ist es auch sein Schatten, wie Deine berührende und fast schon märchenhafte Schilderung zeigt.

Liebe Grüße und gute Nacht,
Friedemann
Vor langer Zeit - Antworten
EvchenM Danke Rudi
Vor langer Zeit - Antworten
ImiEvergreen Ich kam leider erst heute dazu es zu lesen. Das hast du wirklich wunderschön geschrieben mann wird richtig mit reingezogen und ich kann ihr nachempfinden (Heiraten :O ) Aber manchmal muss manm wagnisse wohl auch eingehen. Hihi.

Lg :)

Vor langer Zeit - Antworten
EvchenM Danke schön ImiEvergreen
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Darkjuls Wunderbar erzählt, als wäre ich dabei gewesen. LG Marina
Vor langer Zeit - Antworten
EvchenM Tausendundeinen und noch mehr Dank Marina
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